Tag 11: Imagine …

Anarchistenherz

2007 02 17 12.33.20 edited

Samstag, 17. Februar 2007
La Habana

Diosdado ist immer gut gelaunt und sympathisch sowie nie nervend und voller Freude, wenn er uns sieht. Diese Eigenschaften scheinen ihn zu einem Unikat in Havanna zu machen. Offenbar hat sich unser lieb gewonnener Gastgeber Gedanken darüber gemacht, was er uns Pflanzenfressern denn außer Früchten noch so zum Frühstück bieten kann. Und so serviert er uns am Morgen neben Obst auch Spaghetti.

Heute gehen wir endlich mal John Lennon besuchen! Der Weg dorthin führt an der Plaza de la Revolución vorbei, dem politischen Zentrum Havannas, das vor allem für die hier gehaltenen Reden Fidels berühmt ist. Der Platz wird von einem rund 110 Meter hohen Obelisken beherrscht: dem Memorial José Martí. Der zwischen 1953 und 1958 erbaute Turm hat einen sternförmigen Grundriss und besteht aus Stahlbeton, der mit sage und schreibe 10.000 Tonnen grauen Marmors von der kubanischen Isla de la Juventud verkleidet wurde. Vor dem beeindruckenden Bau thront eine aus weißem Marmor geformte 18 Meter hohe José-Martí-Statue, die eher an das alte Griechenland oder an »Braveheart« erinnert: Ritterlich kniet der Volksheld mit einem Umhang über den Schultern und blickt nachdenklich devot nach unten.

Wir nähern uns dem Turm auf knapp 50 Meter und wollen die vorgelagerten Treppen emporsteigen, als plötzlich ein Soldat anfängt wie wild herumzupfeifen, herumzugestikulieren und herumzubrüllen.
»Was ist denn mit dem los?«, fragen wir uns. Doch dann verstehen wir: Es ist uns nicht erlaubt, uns auf diese Weise dem Obelisken zu nähern. Wir müssen den Rückzug antreten und uns in gebührendem Abstand auf die linke Seite des Turmes durchschlagen. Dort wartet dann auch schon die Kassiererin, die es zu überwinden gilt, möchte man sich näher als ein halbes Fußballfeld an den Turm heranpirschen. Wieder einmal verspüren wir das Gefühl absoluter, kubanischer Freiheit und können kaum noch an uns halten vor lauter Freude.

Nachdem wir uns wieder beruhigt haben, schlendern wir gemütlich an der angrenzenden Militärzone vorbei. Überall dieses martialisch militaristische Gebaren … Wir fühlen uns sicher und willkommen. Denn welche Freiheit ist schöner, als die, für die man die Omnipräsenz des Militärs zu benötigen scheint?
Vorbei an der chinesischen Botschaft, nähern wir uns dem eigentlichen Tagesziel: dem bronzenen Hippie.
John Lennon sitzt in Bronze gegossen in einem kleinen, nach ihm benannten Park lässig auf einer Bank. Die Skulptur stammt von José Villa Soberón, demselben Künstler, der auch den »Caballero de París« verewigt hat. Dem Beatle wurde diese Ehre zuteil, weil er sich in seinen Songs kritisch gegenüber den USA äußerte.
Wie nicht anders zu erwarten, wird auch John wieder von einem Kubaner »bewacht«, der auf die schnelle Kohle aus ist. Ein etwa 80-jähriger uniformierter Opi quält sich aus seinem Campingstuhl heraus, um uns anzubieten, ein Foto von uns und John zu machen. Bevor es jedoch überhaupt zu Verhandlungen kommen kann, beschließen Bekki und ich, ihn einfach zu ignorieren und so zu tun, als ob wir gar nicht an Lennon interessiert seien. Ein enttäuscht krächzendes: »Ouh«, entgleitet dem alten Guerillero und er lässt sich wieder in seinen rostigen Sessel plumpsen.
Wir entspannen zunächst auf einer nahe gelegenen schattigen Bank, bevor wir den »Angriff von hinten« starten. Zu spät bemerkt der Kollege, dass wir uns sehr wohl wegen der lebensgroßen Bronzefigur ins hinterste Outback El Vedados verirrt haben. Ich sitze bereits und Bekki schießt das erste Foto, als sich der Revoluzzer mit: »Yo … äh … hay … uärgh«, ins Spiel bringt. Haha! Ausgetrickst.
Doch der Mann lässt nicht locker und möchte aus ästhetischen Gründen meinen Rucksack aus der Szenerie verschwinden lassen, indem er ihn sich einfach greift. Ich ziehe jedoch auch daran und lasse ein bestimmtes: »No, gracias!«, zischen. Er zieht nochmals, ich zische erneut. Nun scheint sein Wille gebrochen und er lässt resignierend die Schultern hängen. ¡Hasta la victoria siempre!
Es folgt die völlige Kapitulation, indem er aus seiner Brusttasche Johns berühmte Brille zaubert, diese dem bronzenen Mann auf die Nase setzt und sich zurückzieht.
Wollte der alte Mann überhaupt Geld von uns? Oder ist er lediglich der »Wächter der Brille«, der Touristen die »John Lennon Experience« mit dem ulkigen Gimmick der Brille versüßen soll? Wir fühlen uns schlecht – mal wieder. Bedanken kann er sich für dieses potenzielle Missverständnis bei jenen Landsleuten, die uns in den letzten Tagen in so penetranter Weise auf den Sack gegangen sind. So sehr, dass wir hier niemandem mehr so recht trauen wollen beziehungsweise niemandem mehr die reine Hilfsbereitschaft abnehmen, ohne dafür im Nachhinein Geld zu verlangen. Ach, wir haben dem gebrechlichen alten Mann sicherlich Unrecht getan. Es tut uns leid. Verdammt.

Der Rückweg unseres langen Spazierganges führt wieder einmal die »23« entlang, vorbei an einem abgerissenem Ziegenbein, das unbeachtet wie eine Schachtel Zigaretten auf dem Bürgersteig liegt. What the fuck? Am Malecón angekommen beobachten wir, wie heute die Wellen der rauen See an die Kaimauer schlagen und den Bürgersteig leicht fluten. Im Gegensatz zum Ziegenbein ist dies ein sehr schöner Anblick, der von einem braungrauen Pelikan gekrönt wird, der mit einer Spannweite von gut 150–200 Zentimetern knapp über uns hinwegfliegt.
Ein fett grinsender Kubaner kommt auf uns zu und will uns – na klar – mal wieder was verkaufen. Wir wollen ihn links liegen lassen, als er auf einmal anfängt, mich zu umarmen. Was soll das denn schon wieder? Langsam aber sicher steigt unsere Aggression gegenüber solchen Säcken.
Mir reicht’s. Ich kam in dieses Land, in der Hoffnung, einen Sozialismus vorzufinden, der besser ist, als das, was uns zu Hause über ihn erzählt wird. Ich sehe nichts, das ich als Sozialismus definieren würde. Ich sehe keine Gleichheit, sonder eine Zweiklassengesellschaft, bei der diejenigen die haushohen Gewinner sind, die mit der Touristenwährung, dem Peso Convertible, bezahlt werden. Ich sehe Ruinen und absolute Gleichgültigkeit, die einen aus leeren Augen anstarrt. Ich sehe einen Polizei- und Militärstaat, der auf unzähligen Propagandaplakaten eine Revolution abfeiert, deren Sieg sich mir bislang einfach nicht offenbaren will.
Ist unser großes Dilemma, dass wir an unserem ersten kompletten Tag in diesem Land auf Humberto gestoßen sind, der uns »sein Kuba« vor Augen geführt hat? Ein Kuba, in dem Menschen enteignet und in Gettos ohne fließend Wasser ausgelagert werden, weil sie nicht linientreu sind. Ein Kuba, in dem man als westlicher Ausländer, anscheinend als nichts anderes als eine wandelnde Dollarnote wahrgenommen wird. Ein Kuba, in dem man auf mehr Verbote trifft, als auf Freiheiten. Ein Kuba, in dem alles Essen gleich schmeckt und Supermarktregale entweder leer oder für die Einheimischen mit größtenteils unbezahlbaren Produkten bestückt sind – wenn sie nicht zur CUC-Oberschicht zählen, die es eigentlich gar nicht geben darf: »Sozialismus«.
Das soll Ches Revolution sein? Ich glaube, »El Comandante« kämen die Tränen. Mir kommen sie am Abend tatsächlich, als ich zum ersten Mal in meinem Leben einen kleinen Nervenzusammenbruch erleide. Ein Glück, dass ich Rebekka habe …

Wieder in unserem Casa Particular angekommen, informieren wir Hermelinda darüber, dass wir bereits morgen La Habana verlassen werden, da wir in Erfahrung bringen konnten, dass lediglich freitags, samstags und sonntags Busse nach Playa Larga fahren. Heute ist bereits Samstag und noch eine Woche in diesem Moloch halten wir nicht aus. Havanna ist – wider Erwarten – eine Stadt, die einem nach spätestens drei Tagen zum Halse heraushängt: dreckig, penetrant und deprimierend.
Hermelinda gefällt dies natürlich überhaupt nicht und mutiert mal wieder zur nervigen Zicke. Sie will uns weismachen, dass der Bus, den wir nehmen wollen gar nicht existieren kann und es in Playa Larga bestimmt auch keine freien Häuser mehr gibt. Wir lassen uns von ihrem Geschwafel nicht beirren und bleiben dabei: Morgen hauen wir ab.

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