Tag 44: Mr. Joe, Mr. Duck, Taste from Heaven, Pain from Hell

Curry-Competition

2010 04 08 22.40.05

Donnerstag, 8. April 2010
Chiang Mai

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Morgens um neun treffen wir Anna und Arek. Anna ist am Vortag mit dem Roller umgekippt und hat sich dabei den Oberschenkel und das Knie böse aufgeschrubbt. Da sich die Wunde am Knie etwas entzündet hat und grünlich aussieht, wollen die beiden Polen unseren für heute geplanten Ausflug vorsichtshalber auf einen anderen Tag verschieben. Schade, aber kein großes Problem.
Dafür kommen wir in den Genuss, den Chef des Giant Guesthouses ein wenig kennenzulernen. Das Giant wird von einem 30–35 Jahre alten Thai mit langen Haaren und Studentenbrille geführt, der an seinem Hals, seinen Handgelenken und seinen Füßen ordentlich viele Ketten – teilweise mit irgendwelchen Tierkrallen daran – trägt. Klingt martialischer als es tatsächlich ist. Der Kollege wirkt, wie so ziemlich alle Thais, einfach nur sympathisch.
»What’s your name?«, frage ich ihn.
»I’m Mister Joe«, lautet die dann eher unerwartete, aber dafür umso lustigere Antwort. Mister Joe: Yeah!
Wir kommen mit Mister Joe ins Gespräch, weil er natürlich mitbekommen hat, dass wir wegen Annas Knie den Trip absagen müssen. Daraufhin textet er uns mit Tipps für den Tag, die kommende Woche und eigentlich für vermutlich gleich mehrere Monate zu. Dinge, die man in Chiang Mai machen kann, in Pai, während Songkran und so weiter. Dabei lacht er immerfort laut auf, zappelt dabei lustig herum und zieht die Vokale in seinem an sich sehr guten Englisch so sehr in die Länge, dass es einfach nur nach richtig coolem Thai-Englisch klingt.
»You know: On Songkran eeeeeverybody in town runs crazyyyy! Everything deeeead: nothing work anymore. For traffic: when I go to town, normally ten minute. On Songkran, everybody leave car to make fun with the water and it take maybe five hour! Five hour! Crazyyyy!«
Zur Erklärung: Am thailändischen Neujahrsfest Songkran, das über mehrere Tage hinweg gefeiert wird, spritzen sich sämtliche Thais gegenseitig mit Wasser voll. Den ganzen Tag lang … eine halbe Woche lang!
Das ist uns bereits bekannt. Was Mister Joe uns aber noch so darüber erzählt, wussten wir noch nicht. Nachdem er uns den Tipp gegeben hat, mit dem Motorrad nach Pai zu fahren, merkt er sofort an, dass wir das besser nicht während Songkran tun sollten, da sich so manch lustiger Thai am Straßenrand verstecken könnte und uns in voller Fahrt einen Eimer Wasser überschütten könnte. Bitte, was?
»Yes, very dangerous. Hahaaaaaa! You know: slippy! Hahaaaaa!«
Nach Pai wollen wir auf jeden Fall fahren. Während Songkran wollten wir die Fahrt sowieso nicht machen und mit dem Motorbike war es eigentlich auch nicht geplant. Mister Joe macht uns die Fahrt mit dem Roller aber schmackhaft: »Take as long as with bus or shorter. Maybe only two hoooour! With motorbike you can pass slow caaaar in mountain road. Bus cannoooot! 800 curves! You know? 800 curves! Crazyyyy! And you can stop where you want: see waterfall or hot spring. Watch mountain. Nice, very niiiice!«
Ja, klingt geil!
Was machen wir denn morgen, Rebekka? Motorbike? Pai? Bekki findet auch, dass das cool klingt. Wunderbar: Morgen fahren wir mit dem Roller 140 Kilometer nach Pai und wieder zurück. Geiler Scheiß.
»You can have motorbike from heeere. 150 Baht for 24 hour.«
Schon wieder: geiler Scheiß!
»Yes, do tomorrow. Not on Songkran. Crazy people with water eeeeeverywhere! You know: shock is important. Some people take ice water. You know: Ice wateeeer! Shock! And women! You know, is nice: Women with water on shirt … you can see eeeeeverything! Eeeeeverything! Hahaaaaaaaa! In traffic: they open door of car and fill it with water! So, don’t forget to close your car! Shock is important!«
Außerdem gibt er uns den wichtigen Tipp, Tickets für die Abreise mehr als rechtzeitig zu buchen, da komplett Thailand Songkran-Ferien bekommt und alle Thais reisen. Busse und Züge werden randvoll sein und spontanes Ticketkaufen kann man vergessen. Auch in den Tagen direkt nach Songkran soll es kompliziert sein durch Thailand zu reisen.
Mister Joe war bereits in Deutschland. In Nürnberg, um genau zu sein. Dort hat er anscheinend Architektur studiert und ein wenig gejobbt. Er mag Deutschland und die Schweiz auch. Amüsant findet er es, dass in Deutschland die alten Leute alle vor ihren Häusern sitzen und die Menschen beobachten. Vor allem, wenn sie anders aussehen. Da er eben nicht wie der typische Deutsche aussieht, wurde er wohl ganz genau beäugt. Als Thai hat er die fränkischen Rentner dann auch thaitypisch stets angelächelt, was nie erwidert wurde.
»They never smile back! Hahaaaaa!«
Außerdem fahren wir in Deutschland auf der falschen Straßenseite. Rechts. Komisch. Das muss man sich auch erst mal merken … Eines Tages konnte er es sich anscheinend nicht merken, als er mit seinem Roller auf einer komplett verkehrsfreien Straße durch Deutschland gefahren ist und ihm urplötzlich dann doch ein Auto entgegenkam: auf seiner Spur! Ausweichen hat dann auch nicht mehr so wirklich erfolgreich funktioniert: »But it’s nice. Hahaaaaa!«
Wir sind durch die vielen Infos, Tipps und Storys von Mister Joe leicht reizüberflutet und entschließen uns von daher, heute noch mal einen ruhigen Tag in Chiang Mai zu verleben und die Stadt noch etwas zu erkunden. Auf unserem Erkundungstrip entdecken wir in der Nähe des sehr schönen Wat Bupparam – vor dem eine Donald-Duck-Statue steht (!?) – ein unglaublich köstliches vegetarisch-veganes Restaurant: »Taste from Heaven« nennt es sich und kann absolut halten, was der Name verspricht. Wahnsinn!

Auf dem Hinweg zum Restaurant hat uns ein Thai einen Flyer für heute Abend stattfindende Muay Thai Boxkämpfe in die Hand gedrückt. Ja, den thailändischen Volkssport Nummer 1 muss man sich auch mal geben, denken wir uns schon seit längerem und beschließen, heute unser Vorhaben in die Tat umzusetzen. Wir gehen mit dem Flyer wieder zum Zettelverteiler, der sofort unser Interesse riecht und uns umgehend zum Box Stadium führt, um uns Tickets zu verkaufen. Für 400 Baht pro Person bekommen wir einen Tisch für zwei direkt hinter den VIP-Plätzen, die es bereits für 600 Baht gibt.

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Als wir abends wieder in die Boxhalle kommen, reißt ein etwas älterer und ziemlich stämmiger Ladyboy, der noch nicht einmal sonderlich versucht, weiblich zu klingen, unsere Tickets ab und lässt uns zu unseren Plätzen führen. Man führt uns allerdings zu vollkommen anderen Plätzen, als auf den Tickets steht. Doch die neuen Plätze gefallen uns sogar wesentlich besser, da wir nun noch näher am Ring sitzen und zudem noch einen guten Blick auf das stehende Thai-Publikum haben. Die Thais wetten während der Kämpfe wie die Wilden und machen einen Heidenkrach in der Halle. Die Stimmung bei den einheimischen Damen und Herren wird – soviel sei verraten – ganz schön temperamentvoll. Vor uns auf den VIP-Plätzen nehmen nicht etwa feine Pinkel im Anzug Platz, sondern die richtig schön klischeehaftesten Assi-Farangs, die man sich bei solch einem Event nur wünschen kann. Highlight ist ein Paar aus England, das direkt vor uns sitzt und wohl Mitte 40 ist. Die zwei gehen gut ab, lachen lauthals und dreckig, wetten ordentlich (verlieren durchgehend) und brüllen so Sprüche wie: »You beat him! He’s just a ladyboy! Muahahahaha!«
Den ersten Kampf bestreiten zwei Kinder. Zumindest sehen sie noch sehr, sehr jung aus. Sie sollen 14 beziehungsweise 15 Jahre alt sein und geben es sich richtig übel: Blut spritzt und einer der beiden Jungs bekommt mit an großer Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Nase zertrümmert. In Runde 3 geht er dann stehend K.o. und seine Ecke wirft das Handtuch.
Wir sind ehrlich gesagt ganz schön geschockt. So brutal haben wir uns das nicht unbedingt vorgestellt. Außerdem tragen die Kämpfer bis auf einen Zahn- und Sackschutz keinerlei Schutzkleidung. Stürzt einer der Kämpfer oder, was auch oft geschieht, beide Kämpfer zu Boden, versucht der Ringrichter bei den jüngeren Kämpfern den Aufprall des Kopfes mit seiner Hand oder seinem Fuß zu verhindern oder zumindest zu mildern. Es geht also ganz schön ab im Ring.
Beim Muay Thai Boxing ist anscheinend alles erlaubt: Es wird geboxt und vor allen Dingen getreten, was das Zeug hält. Möglichst immer in die Fresse rein oder auf die Rippen, Nieren und Oberschenkel. Auch mit dem Knie wird ordentlich zugestoßen. In manchen Kämpfen ist es sogar erlaubt, den Kopf des Gegners in Richtung Boden zu drücken und ihm dann das Knie ins Gesicht zu rammen!
Ein Kampf geht über fünf Runden à drei Minuten, wenn er nicht schon vorher entschieden wird. Autsch.
Neben uns sitzen zwei verliebte Amerikaner, die ihren Mund vor Schock nicht mehr zubekommen. Rebekka und ich finden erstaunlicherweise langsam Gefallen am Herumgekloppe und amüsieren uns mittlerweile ganz gut. Einen solch brutalen Fight, wie den ersten, wird es am heutigen Abend auch nicht mehr geben.

Vor den Kämpfen vollführt jeder Boxer ein eigenes Ritual: Alle Boxer beten zunächst kurz in jeder Ecke des Ringes und führen danach entweder eine Art Tanz in der Ringmitte inklusive Stretching auf oder konzentrieren und sammeln sich noch mal ruhig in ihrer Ecke. Während der Kämpfe läuft eine sehr seltsame Musik, zu der die Kämpfer sich zu Kampfbeginn und zwischendurch auch immer mal wieder rhythmisch bewegen. Diesen kleinen Tanz führen die Boxer stets in ihrer Ausgangsposition auf. Somit dient der Tanz wohl der Konzentration und des sich wieder Sammelns.
In der Kampfpause verlassen die geschockten New Yorker die Halle. Das war zu viel für die beiden. Die lauthals mitgrölende Kellnerin versucht noch, die beiden zum Bleiben zu bewegen, doch der Versuch bleibt erfolglos. Und die Yankees verpassen was!
Es folgt nämlich zur Auflockerung der »Fun Fight« und der ist tatsächlich zum Schreien komisch … aber auch wieder ultrabrutal: Vier dicke Thais bekommen im Ring die Augen verbunden und dreschen nach Ertönen des Gongs blind aufeinander ein. Wie Windmühlen kreisen diese Bekloppten mit ihren Armen durch den Ring. Der Ringrichter steht plötzlich mit dem Rücken zu einem der Boxer und bekommt eine volle Ladung auf den Hinterkopf. Der Athlet freut sich, dass er offenbar einen Kombattanten erwischt hat, und lässt weitere Schläge auf den überraschten Ringrichter niederprasseln. Der Richter geht zu Boden und rollt sich zur Seite. Nachdem er sich wieder aufgerichtet hat, schüttelt er kurz seinen Kopf und geht auf den ahnungslosen, weil blinden, Dicken zu und brettert ihm aus Rachegelüsten böse eine vor die Kimme. Der Getroffene geht zu Boden und zappelt wie ein Fisch, den man aus dem Wasser gezogen hat. Rund um ihn herum wird weiter geprügelt, was die Knochen aushalten. Das ganze Spektakel geht mindestens drei Minuten lang. Der Spezi, der sich mit dem Ringrichter angelegt hat, schafft es – nachdem er mehrfach zu Boden gestreckt wurde und immer wieder aufgestanden ist – tatsächlich, den Unparteiischen erneut zu finden und mit Schlägen zu bombardieren. Kurz darauf ertönt der Gong und die vier Kämpfer hören brav auf, sich blind gegenseitig zu verprügeln. Die Halle tobt und kreischt vor Lachen, als der Ringrichter noch zum finalen Coup ausholt: Nachdem er bereits drei der vier Fun Fighter die Augenbinden abgenommen hat, nimmt er kurz Anlauf, springt in die Luft und tritt seinem neuen Erzfeind, der noch blind dasteht, eiskalt vor die Brust. Der Kamerad fliegt locker einen Meter nach hinten und knallt rücklings auf den Boden. Ein unglaubliches Schauspiel ist das! Aber sie machen es ja freiwillig … Keine fünf Minuten später laufen die vier Kumpel übrigens gemeinsam durch die Reihen des Publikums und sammeln fröhlich grinsend, als wäre nichts geschehen, Spenden »for the fun fight«.

Beim Main-Fight, dem siebten offiziellen Kampf des Abends, kocht dann die Stimmung bei den wettenden Thais über. Der Geräuschpegel verdoppelt sich und man weiß gar nicht, wo man lieber hingucken möchte: in den Ring oder daneben, auf die wild um sich jubelnden und mit ihren schwingenden Händen irgendwelche Wetten abgebenden Thais.
Nach dem Main-Fight interessiert sich dann kaum noch jemand für den International Fight zwischen einem Engländer und dem Typen, der uns heute Mittag die Tickets verkauft hat. Unser Ticketverkäufer gewinnt durch K.o. in der fünften Runde und beendet diesen gelungenen und total kranken Abend mit einer höchst sportlichen Geste: Er schnappt sich den niedergeschlagenen und einen Kopf größeren Engländer, legt ihn sich über die Schulter und trägt ihn zurück in dessen Ecke. Dann hebt er die Faust des noch immer im Delirium verlorenen Farangs und verabschiedet sich so vom Publikum.
Wenn ich wieder in Berlin bin, werde ich Muay Thai Boxer.

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