Tag 58: Revolution statt Shopping: Ein Tag bei den Red Shirts

Curry-Competition

Donnerstag, 22. April 2010
Bangkok

Zwischen dem in der Nähe unseres Hostel gelegenen Phra Athit Pier und der Universität gibt es eine Tourist Information, in der ausnahmslos junge Studentinnen arbeiten. Rebekka will heute ins klimatisierte Siam Paragon, das mit 500.000 m² das größte Einkaufszentrum Thailands ist. Im Siam Paragon kann man ins Kino gehen, in teuren Boutiquen einkaufen, Luxuskarossen erwerben, bowlen, futtern, Südostasiens größtes Aquarium bestaunen und so weiter. Noch wissen wir aber nicht, wie wir am besten zum Siam Square kommen, weswegen wir zunächst die oben genannten Studentinnen aufsuchen. Tja, und was soll ich sagen, das Unvermeidliche geschieht: Rebekka und ich betreten den Raum und schon fällt einem der Mädels auf … wie gut ich aussehe. Sie schiebt ihre Kolleginnen auf die Seite und schlägt sich mit einer nicht zu verachtenden Offensichtlichkeit vor den Augen meiner Freundin zu mir vor. Als sich die Augen der restlichen Studentinnen wieder von den Ellenbogenschlägen ihrer Kollegin erholt haben und mein Antlitz erspähen, drücken auch sie sich vor zum Tresen, um uns den Weg zum Siam Paragon zu beschreiben. Die Schwerverliebten empfehlen uns, zunächst mit der Fähre und danach mit dem Skytrain zu fahren.
»And where you come from?«, blinzelt mir die Studentin mit den Ellbogen zu.
»Germany«, antworte ich.
»Aaah … Germany«, seufzt sie. Als wir das Büro wieder verlassen, höre ich ein knappes Dutzend Herzen hinter mir zerbrechen und Rebekka kann einmal mehr ihre Eifersucht nicht verbergen: »Das gibt’s ja wohl nicht …«
Ach, Thailand.
Wir verlassen die Fähre bei der Taksin Bridge und steigen in den Skytrain um. Der Skytrain ist eine Hochbahn, die sich in mindestens 20 Metern Höhe durch Bangkok zieht. Die Züge sind hochmodern: So halten sie beispielsweise zentimetergenau mit den Türen an gekennzeichneten Flächen und die Züge sind verglichen mit der Berliner U-Bahn ungefähr 50 % breiter. Die Air Condition im Zug läuft auf Hochtouren und sobald sich die Türen schließen, hört man nichts mehr von der Metropole und wird stattdessen mit Fernsehwerbung berieselt.
An der Siam Station steigen wir aus. Eine Etage tiefer kann man bereits das Siam Center betreten, das sich direkt neben dem Siam Paragon befindet. Naja: Eine Etage tiefer könnte man das Einkaufszentrum betreten. Heute, an einem Donnerstag, sind die Türen seltsamerweise verschlossen. Wieso das denn? Ist heute ein Feiertag?
»Oh Scheiße, die Red Shirts«, höre ich Rebekka auf einmal neben mir. Ihre Stimme klingt dabei wie die gebrochenen Herzen der Studentinnen aus der Tourist Information. Und tatsächlich: Auf der Straße, eine Etage tiefer, ist alles rot. Durch die wochenlange Blockade der Straße und aus Angst, besetzt zu werden, haben sämtliche Geschäfte in diesem Viertel ihre Arbeit eingestellt. Da macht heute also nichts mehr auf.
Aufgrund der Höhe der Skytrain-Stelzen hat man zwar einen tollen und weiten Ausblick über die Stadt, dafür sieht man aber nicht, was direkt unter einem geschieht. Und da ist ganz offensichtlich die Demomeile der Red Shirts, die ich eigentlich woanders vermutet hatte. Tja, da habe ich mich wohl geirrt. Während Rebekka um ihren Shopping-Tag trauert, erwacht in mir der Revolutionsgeist.
Wir betreten die Straße und können als Erstes beobachten, wie Kleinlaster und Pick-ups mit neu ankommenden Demonstranten von den Red Shirts mit Beifall begrüßt werden.

Bangkok - Red Shirts (1)

Wir sind uns nicht sicher, wie schlau es ist, tiefer in die besetzte Straße vorzustoßen. Schließlich ist es noch keine zwei Wochen her, dass sich diese Leute eine blutige Straßenschlacht mit dem Militär geliefert haben. Der Gedanke, dass es hier gefährlich sein könnte, verfliegt aber, je länger wir zwischen den Demonstranten umherspazieren. Das liegt zum einen daran, dass Rebekka und ich von jedem Thai, der uns sieht, unglaublich euphorisch willkommen geheißen werden und daran, dass die Atmosphäre eher einem Festival als einer Revolution ähnelt. Es gibt Spielbuden, an denen man entweder mit Tennisbällen oder mit Steinschleudern auf Dosen werfen kann, auf denen das Gesicht des Präsidenten Abhisit zu sehen ist. Thais aller Altersgruppen sind hier unterwegs und teilweise haben die Putschisten, von denen viele schon rund sechs Wochen auf der Straße leben, offensichtlich ihre Arbeit mitgebracht: Überall kann man Essen und Klamotten kaufen. Die Textilien sind natürlich allesamt rot und mit politischen Botschaften versehen. Rund um die Skytrain-Stelzen in der Mitte der breiten Straße leben die Revolutionäre in großen, offenen Zelten oder im Freien auf dünnen Matten.

Bangkok - Red Shirts (6)

Bangkok - Red Shirts (2)

Bangkok - Red Shirts (3)

Bangkok - Red Shirts (4)

Bangkok - Red Shirts (5)

Bangkok - Red Shirts (8)

Bangkok - Red Shirts (9)

An einem Zaun hängen Fotos der am 10. April Getöteten, die man offensichtlich in der Leichenhalle aufgenommen hat. Ein Poster in der Mitte des Zaunes schockt dann endgültig: Ein erschossener junger Demonstrant ist darauf zu sehen.
Manche Red Shirts haben Fernseher aufgebaut, in denen ununterbrochen selbst gefilmte Aufnahmen vom 10. April laufen. Rebekka und ich bleiben bei einem Fernseher stehen und schauen uns den Film an. Eine Traube Rothemden sammelt sich plötzlich um uns herum. Jeder will anscheinend sehen, wie wir reagieren. Die Bilder sind schrecklich. Zunächst sieht man Red Shirts, die sich hinter Autos und selbst errichteten Barrikaden zusammenkauern. Schüsse sind zu hören, zwischendurch springt ein Demonstrant kurz auf und wirft einen Stein in Richtung Polizei. Dann geht er sofort wieder hinter in Deckung. Die Kamera schwenkt auf eine Hauswand. Einschusslöcher sind deutlich zu sehen. Die Staatsgewalt schießt also scharf. Schnitt. Später ist die Straßenschlacht vollends eskaliert: Die Menschen rennen hin und her. Die Kamera befindet sich mittlerweile nicht mehr an vorderster Front. Plötzlich wird es an einer Stelle auf der Straße unruhig. Der Filmende bemerkt dies, eilt dorthin und filmt die vielleicht schockierendsten Bilder, die wir jemals gesehen haben. Unzensiert wird gezeigt, wie ein Demonstrant von mehreren Red Shirts, direkt an der Kamera vorbei, weggetragen wird. Es scheint sich um den Mann zu handeln, den wir bereits auf dem Poster am Zaun gesehen haben. Durch ein riesiges Loch in seiner Stirn quillt das Hirn heraus. Grausam.
Die Rothemden haben nicht nur das komplette Viertel besetzt, sondern auch das Hauptquartier und das Krankenhaus der Polizei, die sich in der Ratchadamri Road befinden. Die besetzte Polizeistation macht dabei einen extrem skurrilen Eindruck: Den Zaun haben die Cops zunächst einmal mit ordentlich viel Stacheldraht abgesichert. Wer hier drüberspringt, landet also sehr unsanft. Hinter dem Eingangstor haben die Polizisten zudem eine gut drei Meter breite Barrikade errichtet. Dahinter sitzt wiederum ein Uniformierter an einem Schreibtisch. Keine Ahnung, was der da macht.
Die Red Shirts haben indes auch so ihre Bürokratie. So gibt es ein Pavillonzelt, vor dem eine riesige Schlange Demonstranten ansteht. Im Zelt sind einige Computer mit Webcams aufgebaut. Das sind also die Registrierungsstationen, von denen wir gehört haben: Jeder einzelne Demonstrant wird vom gestürzten Präsidenten Thaksin bezahlt. Also muss jeder Red Shirt tagtäglich zum Meldezelt, damit er auch seinen Sold bekommt.

Bangkok - Red Shirts (7)

Weil ich ständig am Fotografieren bin, ist Rebekka gute 20 Meter vor mir, als ein Thai auf mich zukommt und mir freudig verkündet, dass die junge Frau, die ich gerade geknipst habe noch solo ist. Oha! Er erzählt mir irgendetwas, von dem ich außer »sulai« nichts verstehe. Anscheinend erklärt er mir, dass sie hübsch ist. Na, da stimme ich ihm doch mal schnell zu: »Sulai mak.«
Da freut er sich.
»But I have a girlfriend«, teile ich ihm mit und deute auf Rebekka. Der Mann, der vermutlich kein Englisch versteht, schaut rüber zu Rebekka. Als er sie sieht, stöhnt er kurz auf, lächelt mich an und lässt mich unverkuppelt weiterziehen.
Kurze Zeit später laufen wir an einem älteren Herrn vorbei, der es anscheinend kaum glauben kann, Farangs in der Ratchadamri Road zu sehen. Ich lächle ihn an, woraufhin sein überraschter Gesichtsausdruck in ein breites Lächeln übergeht. Auf einmal passiert etwas auf meinem Kopf. Was zum …? Es fühlt sich so an, als ob sich irgendetwas in meinem Haar festkrallt. Der Gesichtsausdruck des alten Mannes ändert sich währenddessen ebenfalls. Er kann sich aber offenbar nicht so ganz entscheiden, wie er denn gucken soll. Auf jeden Fall starrt er auf meinen Kopf. Was ist da? Ich schaue nach oben, als sich das unbekannte Etwas wieder in Bewegung setzt. Es ist eine Taube! Eine Taube ist auf meinem Kopf gelandet! Ich weiß allerdings noch nicht so recht, wie ich reagieren soll, da der ältere Thai wohl noch am Überlegen ist, ob das gerade urkomisch war oder ob er gerade Zeuge eines göttlichen Wunders wurde und die Taube und ich ein Zeichen für den nahenden Frieden sind. Also lache ich sicherheitshalber mal kurz auf und drehe mich weg, bevor der Mann noch die komplette Demomeile auf unsere kleine Symbolik aufmerksam macht. Ich laufe lieber weiter als Topmodel umher und nicht als Symbol für einen Putsch in einem Land, in dem ich nur zu Gast bin und die politischen Probleme nur ansatzweise kenne. Schließlich fliegen wir morgen bereits zurück und ich will am Flughafen nicht als Red Shirt verknackt werden. Naja, so gefährlich ist die Situation dann wohl doch nicht.
Wir erreichen den Lumphini Park, der auch das Ende der besetzten Zone ist. An sämtlichen Zugängen zur Ratchadamri Road wurden aus spitz zugesägten Bambusstöcken, Reifen und Metallgittern bis zu fünf Meter hohe Barrikaden errichtet. Wachposten sitzen auf Steinhaufen hinter der Straßensperre. Ein vermummter Red Shirt regelt den Verkehr. Hier kommt nicht jeder so einfach rein. Vermutlich sehen wir auch einen sogenannten »Wassermelonen-Soldat«. Das sind Soldaten, die zu den Rothemden übergelaufen sind: außen grün, innen rot.
Direkt an den Barrikaden mischt sich die positiv friedliche Atmosphäre mit der Gefahr. Die Menschen hier sind kampfbereit und meine These, dass die Situation – welche auch immer – wohl nicht so gefährlich war, muss ich auch gleich wieder widerlegen: Zwei Stunden nachdem wir die Demomeile verlassen haben, detonieren auf der anderen Seite der Barrikaden Granaten. Es gibt drei Tote und circa 80 Verletzte. Von wem die Granaten kamen, kann nicht geklärt werden.

Bangkok - Red Shirts (10)

Bangkok - Red Shirts (12)

Bangkok - Red Shirts (11)

Bangkok - Red Shirts (13)

Bangkok - Red Shirts (14)

Nach gut zwei Kilometern besetzter Zone verlassen wir die Demomeile und besuchen den Lumphini Park. In Bangkoks größtem Park gibt es einen Food Court, dessen Stände leider alle geschlossen sind, ein Open-Air-Fitnessstudio sowie eine See- und Bachlandschaft mit Tretbootverleih. Der Park ist sehr schön angelegt und im Hintergrund erhebt sich zudem die Skyline Bangkoks. Ich war zwar noch nie in New York, aber so stelle ich mir auch im Central Park den Blick auf die Stadt vor. Ein tolles Bild.

Bangkok - Lumphini-Park (1)

Bangkok - Lumphini-Park (2)

Einige Rothemden sitzen im Park und entspannen ein wenig. Sie winken uns zunächst nur fröhlich zu. Dann springt aber einer der Red Shirts auf und macht uns sowohl auf Thai als auch mit seinen Händen und Füßen klar, dass er uns etwas zeigen möchte. Hm, was kann das wohl sein? Ich bin neugierig und folge dem Mittfünfziger. Er läuft suchenden Blickes an einem Bachlauf entlang. Was sucht der da? Zwischendurch blickt er hoch und sieht offenbar meinen fragenden Blick.
»Wooaah!«, macht er daraufhin und bewegt seine Händen so, als ob sie ein Maul wären. Rennt hier ein Löwe herum, oder was? Der Mann sucht und sucht. Er biegt Schilf auf die Seite, schaut in Rohren nach und sucht das Wasser ab. Weil Fleiß belohnt wird, findet er dann auch endlich, was er mir zeigen will: Es ist ein über einen Meter langer Waran! Wow, damit habe ich jetzt nicht gerechnet. Mitten in der 4,5-Millionenmetropole Bangkok lebt im größten Park der Stadt ein fetter Waran. Nicht schlecht. Doch das ist noch nicht alles. Auf der gegenüberliegenden Seite des Baches taucht ein weiterer Red Shirt auf, der sich auch auf die Suche nach einem Waran macht. Es gibt also noch einen. Wenig später ist dann auch tatsächlich der zweite Waran gefunden und alle sind glücklich. Coole Aktion von den Jungs. Wir verabschieden uns von den Revoluzzern und bemerken gleich darauf die nächste tierische Besonderheit des Parks. Im See leben kleine Schildkröten, die gerade von ein paar Demonstranten mit Brötchen gefüttert werden. Verrückt.

Bangkok - Lumphini-Park (3) - Waran

Bangkok - Lumphini-Park (4) - Waran

Nachdem wir an einem Stand noch etwas gegessen haben, begeben wir uns wieder zum Skytrain, steigen ein und befinden uns, nachdem sich die Türen des Zuges schließen, wieder in einer ganz anderen Welt, weit weg von Protest und Revolution.
Leider spielt die Aschewolke über Europa nicht mit und unser Flieger hebt morgen planmäßig ab. Unseren letzten Abend in Thailand verbringen wir in der Khaosan Road. Zwei Monate sind schon wieder vorbei. Das ist absolut unglaublich und auch wahnsinnig traurig. Dafür kaufe ich mir in der Khaosan Road für 200 Baht zwei Fisherman Pants, die ich mir mal besser zu Beginn unserer Reise hätten kaufen sollen – unfassbar gemütlich und luftdurchlässig. Außerdem gibt’s noch massenhaft coole T-Shirts mit Filmmotiven darauf. Das lindert vielleicht ein wenig den Abschiedsschmerz …

Bangkok - Khaosan Road (2)     Bangkok - Khaosan Road (3)

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