Tag 12: Bingen, Worms & Darmstadt

Das Tagebuch des Straßenlesers: 1. Tour (2015)

Darmstadt

Freitag, 18. September 2015
Bingen

Die sich in Bingen bestens auskennende Julia führt mich am Vormittag zum Speisemarkt. Dort treffen wir auf Sören Heim, einen Bekannten meiner Freundin, der für das Wochenblatt schreibt.

2015 09 23 Binger Wochenblatt »Faszinierende und skurrile Erfahrungen«

Besondere Vorkommnisse gibt es aus Bingen nicht wirklich zu vermelden. Mir geschieht lediglich ein kleines Malheur: Eine Passantin fragt, ob ich ihr auf einen 20-Euro-Schein rausgeben kann. Natürlich kann ich das! Sehr gerne sogar! Sie sagt noch etwas, was ich zunächst nicht verstehe. Ich lächle nur und gebe ihr acht Euro zurück.
»Dankeschön!«, lächelt sie und will sofort weitergehen.
»Ihr Buch!«, stoppe ich sie.
Sie winkt dankend ab. Hä?
»Ihr Buch?«, frage ich noch mal.
»Wirklich? Danke!«, entgegnet sie lächelnd, nimmt das Buch und setzt sich freudestrahlend auf das Außenmobiliar eines benachbarten Cafés.
In meinem Kopf rattert es. Wieso wollte sie einfach ohne Buch weitergehen? Was hat sie geraunt, als ich sie nicht verstanden habe? Irgendwas mit zwei Euro, glaube ich. Zwei Euro … Herrje, hat sie vielleicht gar kein Buch kaufen wollen, sondern mit gesagt, dass ich mir von den 20 Euro zwei behalten darf? Sie wollte gar kein Buch für zwölf Euro kaufen, sondern mir nur zwei Euro »in den Hut« werfen? Und ich habe ihr anstelle von 18 Euro nur acht herausgegeben? Während ich weiterlese, schaue ich noch mal kurz zu ihr rüber. Ich kann meine Kapitel mittlerweile fast auswendig, sodass ich teilweise gar nicht mehr ins Buch zu schauen brauche, sondern mich umblicken kann. Julia findet das sehr amüsant. Ich schaue also zur Frau, die noch immer, mit dem Buch in der Hand, freudestrahlend im Café sitzt und mir ein weiteres Mal freundlich zunickt, als sich unsere Blicke treffen. Was mache ich denn jetzt? Aufklären? Sie hat ihr Rückgeld, glaube ich, nicht nachgezählt. Hm … Ach, sie wird wohl auch nie mitbekommen, dass ihr zehn Euro fehlen. Vielleicht verstehe ich die Situation ja auch vollkommen falsch und sie wollte doch ein Buch kaufen. Ich lese weiter, verkaufe ein weiteres Buch und packe wieder zusammen. Ab nach Worms …

Worms

Ich fahre ohne Julia in die Nibelungenstadt, parke am Rande der Innenstadt und suche nach der Redaktion der Allgemeinen Zeitung. Als ich noch ein letztes Mal nach dem Weg fragen möchte, sehe ich einen Fotografen, der sich im Gespräch mit zwei Personen befindet. Der sieht so aus, als wüsste er, wo ich hinmuss. Ich komme gar nicht wirklich dazu, ihn anzusprechen, da er, bevor ich meinen Mund öffnen kann, bereits mein Schild sieht und freudig ruft: »Ja, was ist das denn? Wie cool! Darf ich ein Foto machen?«
»Klar«, freue ich mich.
Auf meine Frage, wo ich jetzt jemanden finde, der zum Bild einen Text verfasst, zeigt er auf das nächste Gebäude und schickt die junge Frau, die sich eben noch mit ihm unterhalten hat, mit mir. Wunderbar. In der Redaktion angekommen, stehe ich unerwartet vor einem mir bekannten Gesicht.
»Ich kenne sie doch?«, fragt mich die blonde Frau.
»Ja, wir kennen uns«, nicke ich und rätsele weiter, woher wir uns kennen.
»Sie sind Dennis Knickel«, erinnert sie mich an meinen Namen.
»Ja, und sie … sie sind Frau Löwe-Benda!«, kommt es mir endlich.
»Nein«, antwortet sie. »Ich bin Sigrid Scheel.«
Fuck.
»Ja!«, fällt bei mir tatsächlich der Groschen! Frau Scheel hat 2009 einen sehr schönen Artikel über die Dreharbeiten zu meinem letzten Film, »Erinnerungen«, geschrieben und hat auch als Statistin darin mitgewirkt.

Erinnerungen Presse 1
Allgemeine Zeitung (Alzey), 24. September 2009

Ich erzähle Frau Scheel, was ich derzeit mache und nun hier bin, um zu fragen, ob sie mich vielleicht mit einem weiteren Artikel glücklich machen will. In diesem Moment kommt der Chefredakteur rein. Frau Scheel stellt mich vor, der Chef mustert mein Schild und sagt: »Da müssen sie sich früher melden.«
»Ich habe ihnen vorgestern eine Mail geschrieben, in der ich mich ankündige.«
»Zu spontan. Keine Zeit.«
Ich bilde mir ein, auch bei Frau Scheel eine gewisse Enttäuschung im Gesicht ausmachen zu können.
»Ich wurde bereits fotografiert?«, wage ich eine letzte Offensive.
»Tut mir leid.«
Ein sehr lakonischer Chefredakteur. Ob er aus Wiesbaden kommt?
Ich halte meine Lesung auf dem Obermarkt, wo sich auch die Redaktion der AZ befindet. Insgeheim hoffe ich, dass vielleicht doch noch jemand rauskommt, um über mich zu berichten. Es wird nicht dazu kommen.
Dafür kommt eine ulkige Gruppe älterer Damen auf mich zu, die meine Aktion super finden, mir zwei Bücher abkaufen und darum bitten, sich mit mir fotografieren lassen zu dürfen. Bei dem Spaß mache ich gerne mit und schreibe den Damen noch Widmungen ins Buch.
Ein Herr nähert sich, bleibt vor mir stehen und scheint darauf zu warten, dass ich mal ’ne Pause einlege. Er hört mir zumindest offensichtlich nicht zu, sondern will anscheinend nur etwas loswerden. Ist das wieder ein ziviler Stadtpolizist wie in Wiesbaden? Nein. Fast noch besser: Als ich mich selbst unterbreche und ihn frage, womit ich ihm behilflich sein kann, drückt er mir sofort seine Visitenkarte in die Hand: »Lest ihr auch in anderen Städten?«
Ihr? Na, ich sag einfach mal: »Ja.«
»Gut. Wie lange macht ihr das schon?«
Wieso ihrzt der Mann mich?
»Ich bin seit Anfang September auf Tour. Davor gab’s vereinzelte Tests.«
»Gut.«
Und was will der Vogel nun von mir? Endlich rückt er damit raus: »Ich bin Dichter und suche nach Menschen, die meine Gedichte öffentlich vortragen.«
»Aha.«
»Melden sie sich doch einfach mal bei mir. Vielleicht wird das ja was.«
Wie jetzt? Er fragt noch nicht einmal, ob Interesse besteht? Er will nicht wissen, woraus ich im Moment überhaupt vorlese? Hat er bemerkt, dass ich mein eigenes Werk zum Besten gebe? Scheint ihm alles am Allerwertesten vorbeizugehen. Denn schon ist er wieder weg.
Fünf Tage später schreibt er mir dann tatsächlich auf Facebook die erste Nachricht. Über gut drei Wochen hinweg entwickelt sich eine Unterhaltung, an derem voraussehbaren Ende ich mich nicht zum ersten Mal frage, was bei manchen Leuten im Kopf vorgehen muss …

Ich verlasse Worms über die Nibelungenbrücke. Die Brücke führt über den Rhein und lässt mich folglich in Hessen ankommen, wo ich direkt mal auf der Landstraße im Stau stecken bleibe. Nach einigen Minuten mache ich es wie viele andere auch: Ich wende und fahre einen kleinen Umweg, um zu meinem nächsten Zielort zu gelangen: in die Bundesliga-Stadt Darmstadt.

Darmstadt

Meine Freunde Andi und Anna leben gemeinsam mit ihrem Sohn, dem »Punisher«, in Darmstadt. Somit ist auch hier die Übernachtungsfrage einfach geklärt.

Andreas Göbel (geb. Kneller)
Tonassistent
 
Andreas Göbel ist ein langjähriger Freund von Dennis Knickel.
Er lebt mit Frau und Kind in Darmstadt und arbeitet als Sozialpädagoge in Mainz. Bei Die Füchsin ist er Tonassistent. In Die Treppe ist er ursprünglich in der Rolle des überrollten Polizisten eingeplant, muss jedoch wegen zeitlicher Probleme absagen. Martin Ihm übernimmt seine Rolle, für die immerhin noch sein Name Pate steht.

Mehr über die Crew der Tupamaros Film Productions gibt’s hier.

Andreas Kneller

Ich treffe die junge Familie hinter dem Staatstheater. Da ich heute bereits in zwei anderen Städten gelesen habe, von Bingen über Worms bis Darmstadt über 100 Kilometer zurücklegen musste und zudem noch vom Stau auf der Landstraße aufgehalten wurde, habe ich es relativ eilig, einen passenden Platz für meine Straßenlesung zu finden, bevor die Sonne untergeht. Andi, Anna und der »Punisher« zeigen mir die Darmstädter Innenstadt. Ich kenne Darmstadt bislang, glaube ich, nur von Konzertbesuchen in der Oettinger Villa und der Bessunger Knabenschule. In letzt genannter Location wurde ich vor Jahren mal beim Knabencore Festival Zeuge des lautesten Rülpsers der Menschheitsgeschichte. Ich stand mit Freunden und Darmstädter Punks vor der Konzerthalle, drinnen spielte ’ne Hardcore-Band. Doch dann kam der Millennium-Rülps des Gitarristen von Dead Styler. Das Erstaunliche daran war, dass der Gitarrist nicht etwa auf der Bühne stand und plump in sein Mikro rülpste. Nein, da spielte eine ganz andere Band. Der Gitarrist stand vor der Bühne, direkt an den Boxen. Ich weiß es, weil ich es sofort überprüfte, als mir die Darmstädter völlig unbeeindruckt erzählten, dass das »der Andi von Dead Styler« war, der »vermutlich gerade direkt vor der Bühne steht«. Alter Kamerad …
Mein Kumpel Oskar und ich übernachteten damals übrigens bei Rülps-Andi und dessen Freundin Kirsten, die den Bass bei Dead Styler spielte. In den Holzrahmen ihrer sehr niedrigen Küchentür waren massenhaft Kerben geritzt. Fünf Minuten, nachdem Oskar fragte, was diese Kerben zu bedeuten haben, durfte er seine eigene hineinritzen: Eine Kerbe für jeden am Türrahmen angeschlagenen Kopf. Lange ist’s her …
Es ist nicht so einfach, immer einen passenden Platz zum Lesen zu finden. In Darmstadt habe ich das Problem, dass an jeder Ecke ein Musiker zu stehen scheint. Dieses hohe Aufkommen an Straßenkünstlern hätte ich in Darmstadt nicht unbedingt erwartet. Auf dem Ludwigsplatz stehen keine Musiker, dafür sammelt aber eine Gruppe junger Menschen Spenden für Afrika. Na, die werden sich von mir schon nicht in ihrer Arbeit gestört fühlen. Bei Musikern wäre das anders. Obwohl ich neu auf der Straße bin, ist mir der (vermutlich nie niedergeschriebene) »Ehrenkodex der Straße« bekannt: Zusammenhalt statt Konkurrenz, Respekt statt Ignoranz. So stelle ich mir das zumindest vor.
Ich setze mich ans »andere Ende« des Ludwigsplatzes, also möglichst weit vom Pavillon der Spendensammler entfernt. Es ist immer gut, wenn man Zuschauer »mitbringt«. Das steigert das Interesse der fremden Spaziergänger. So dauert es auch nicht lange, bis sich ein kleine Menschentraube um mich herum versammelt und mir durchaus angeregt zuhört. Da ist beispielsweise dieser eine Mann, der seine Frau und Kind alleine zum Shoppen weiterziehen lässt, während er meinen Geschichten lauscht und mehrmals aus voller Kehle und hier und da sogar mit Tränen in den Augen loslacht. Nach einiger Zeit darf ich erfreut feststellen, dass die Darmstädter so gut wie noch kaum eine andere Stadt, die ich auf meiner bisherigen Reise erlebt habe, meine Straßenlesung aufnimmt. Wenn ich es mir recht überlege, können eigentlich nur die Touristenhochburg Friedrichshafen sowie mein Heimathafen Mainz mithalten, wo wohl gut 90 % meiner Zuhörer mit mir bekannt, befreundet oder gar verwandt waren. Ganz eindeutig: Darmstadt ist total geil! Selbst die Polizei juckt mein Auftritt überhaupt nicht. Großartig!
Als ich zwischen meinen Kapiteln neue Zuhörer begrüße und erkläre, wer ich bin, was ich hier mache und dass ich bei meiner US-Reise auf Einladungen wildfremder Menschen angewiesen war, klopft mir auf einmal der Mann, der so herrlich lachen kann vorsichtig auf die Schulter und bietet mir an, dass ich heute sehr gerne bei ihm und seiner Familie unterkommen könnte, »falls du auf dieser Reise auch nach Übernachtungsplätzen suchst«. Wie cool ist der denn? Dankend lehne ich ab und verweise auf Andi, Anna und den »Punisher«, der übrigens eigentlich Jona heißt, aber seine Eltern gerne mal früh am morgen lauthals wissen lässt, dass er nun wach ist.
Höchst zufrieden beschließe ich den Abend mit Andi bei ein paar Bierchen in der Goldenen Krone, Darmstadts Kultkneipe. Ich komme gerne wieder …

Copyright
Titelbild: Ludwigsplatz, Darmstadt
© Nicolas17 - Eigenes Werk. Lizenziert unter CC BY-SA 2.0 über Wikimedia Commons

Zurück   Inhaltsverzeichnis   Weiter

0 0 votes
Article Rating
Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest

0 Comments
Inline Feedbacks
Lies alle Kommentare
0
Would love your thoughts, please comment.x