Tag 2: Nürnberg & Gaildorf

Das Tagebuch des Straßenlesers: 1. Tour (2015)

8.9.2015 Gaildorf

Dienstag, 8. September 2015
Nürnberg

Gegen halb zehn beschließe ich, auf der Museumsbrücke meine Straßenlesung zu halten. Die Museumsbrücke befindet sich nur 100 Meter südlich des Hauptmarkts, wo in der Adventszeit der Nürnberger Christkindlesmarkt abgehalten wird. Der Fluss, den die Brücke überspannt nennen die Eingeborenen Pegnitz. Ich habe noch nie in meinem Leben diesen Namen gehört, werde aber lauthals lachen, wenn bei der nächsten betrunkenen »Stadt, Land, Fluss«-Runde außer mir alle: »Po!«, brüllen und ich mit mit einem laut donnernden: »Pegnitz«, die Runde für mich entscheiden werde.
»Den Namen haste doch wieder erfunden …«, werden sie frotzeln …
… nur um dann eines Besseren belehrt zu werden. Diese Narren.
Kaum habe ich aufgebaut, bemerke ich auch schon einen interessierten Blick von der gegenüberliegenden Seite der Brücke. Der Mann nähert sich nach wenigen Sätzen und macht es sich auf meiner mitgebrachten Isomatte bequem. Nach wenigen Minuten nähern sich erneut zwei Gestalten. Ich sehe nur Schatten aus den Augenwinkeln, die sich nähern. Irgendwann wundere ich mich aber, dass ich nur noch Schatten sehe. Die beiden Personen sind so nahe an mich herangerückt, dass keinerlei Sonnenlicht mehr auf mein Buch fällt und ich mich dazu veranlasst fühle, hochzublicken.
»Ups«, kommt es aus passend unpassend aus meinem Mund, als ich erkennen muss, dass die beiden Gestalten uniformiert sind.
»Haben sie eine Lizenz?«, fragt mich der erste Polizist.
»Hm, nein.«
»Einen Verstärker dürfen sie so oder so nicht benutzen und verkaufen dürfen sie ohne Lizenz auch nichts. Wir haben Regeln für Straßenkunst.«
»Wobei da nur die Rede von Musikern und Theatern ist«, merkt der zweite Cop süffisant grinsend an.
»Aha«, wittere ich meine Chance, »dann darf ich also weitermachen?«
»Nein!«, lachen beide unisono.
»Was genau machen sie da eigentlich?«, fragt mich nun der eine.
»Also, so etwas habe ich noch nie gesehen«, merkt der andere an.
»Nein, Musiker und Theater kennen wir. Aber einen Straßenleser hatten wir in Nürnberg noch nie. Was ist das überhaupt für ein Buch? Ach, das ist ihr eigenes?«
»Aufhören müssen sie trotzdem. Wir wurden ja auch gerufen …«
»Sie wurden gerufen?«, wundere ich mich.
Die beiden Polizisten schauen einander kurz an und brechen in ein kleines Gelächter aus.
»Ja, eine Anwohnerin meinte … hihi … die meinte da sei ein Wanderprediger unterwegs.«
Jetzt muss auch ich lachen: »Nein, religiös sind meine Texte nicht.«
»Ja, wir haben’s ja ein wenig gehört.«
»Aber aufhören müssen sie dennoch!«
Jetzt schaltet sich mein Zuhörer auf der Isomatte mit ein: »Och, das ist aber schade. Es wurde gerade spannend!«
»Ja, ’tschuldigung. Aber hier ist jetzt Schluss.«
Mein Zuhörer überlegt kurz: »Und wenn er in einem Café liest? Ginge das?«
Die Polizisten nicken: »Da hat der Betreiber Hausrecht. Wenn er also zum Lesen eingeladen wurde und es auf dem Gelände des Cafés stattfindet, kann er da lesen. Ja.«
»Darf ich dich zum Frühstück einladen?«, richtet mein Zuhörer plötzlich seine Worte an mich.
»Äh …? Besitzt du ein Café in Nürnberg?«
»Nein, aber ich bin gleich mit einer Freundin verabredet. Die wird sich tierisch freuen, wenn ich dich mitbringe. Dann kannst du uns am Tisch weiter vorlesen. Vielleicht bekommen es ja andere Tische mit und schon hast du wieder eine Lesung.«
»Klar«, freue ich mich, packe meinen Kram zusammen und verabschiede mich sowohl von der Polizei als auch von der Museumsbrücke.
Wenige Meter später sitzen Martin aus Gütersloh und ich in einem Café am Hauptmarkt und empfangen die überraschte Nürnbergerin Barbara, die wirklich ziemlich happy wirkt, dass Martin ihr einen »interessanten Gast« mitgebracht hat.
Zu einer Tischlesung kommt es aber dann doch nicht: Die Unterhaltung ist einfach viel zu gut und ich kann meine Geschichten auch ohne Buch wiedergeben.

Gaildorf: Marktplatz

Nach dem ausgedehnten Frühstück mit den beiden muss ich Nürnberg auch schon wieder verlassen: Ich werde in Gaildorf erwartet. Die Jugendreferentin des Städtchens mit dem seltsamen Namen hat mich zu den Feierlichkeiten des Weltalphabetisierungstags eingeladen. Ich bin gespannt. Der Kontakt kam über Lena, eine gemeinsame Stuttgarter Freundin, zustande.
Von Nürnberg bis ins baden-württembergische Gaildorf braucht man knapp 90 Minuten. Gaildorf hat knapp 12.000 Einwohner und einen Marktplatz, auf dem ich lesen soll. Eigentlich hatte ich es so verstanden, dass ich im Garten des Rathauses lesen soll – was mir angesichts des sehr krassen LKW-Verkehrs rund um den zentralen Platz auch wesentlich mehr zusagen würde. Außerdem sehe ich hier weit und breit nichts von irgendwelchen Feierlichkeiten. An eine erfolgreiche Straßenlesung an diesem Ort glaube ich nicht. Daher schlage ich der Jugendreferentin vor, mir doch mal den Garten zu zeigen.
»Ja, abbr do isch jo koinr.«
»Nein?«
»Ha noi .«
Sie zeigt mir das im Grünen gelegene Rathaus, wo wirklich weit und breit kein Mensch zu sehen ist.
»Wo finden denn die Veranstaltungen zum Weltalphabetisierungstag statt?«
»Du bisch die Veranstaltung.«
»Ach so?«
Ich bin todmüde und verabschiede mich noch mal für zwei Stündchen von Pia, der Jugendreferentin. Auf dem Parkplatz der Sporthalle kann man umsonst parken … und auch noch mal die Augen zumachen.

Die Lesung auf dem Marktplatz ist – wie erwartet – für’n Arsch. Außer Pia und einer extra angerückten Journalistin kommt nur noch eine Gruppe Jugendlicher vorbei, die allerdings keinen großen Bock auf meine Lesung hat und sich sehr schnell wieder verdünnisiert.

Gaildorf: Carty

Wesentlich cooler ist der Abend im Carty. Anfangs fehlen zwar auch die Zuhörer, sodass ich eine sehr intime und verstärkerfreie Tresenlesung starte. Nach und nach strömen dann aber doch mehr und mehr Leute in die Bar, sodass mein Verstärker doch noch zum Einsatz kommt. Pia klärt mich später darüber auf, dass auch Stadträte anwesend waren, die laut der Jugendreferentin, begeistert zuhörten. Und ich bin begeistert, als ich mitbekomme, dass ich auch eine Gage von der Stadt Gaildorf bekomme. Yeah.
Nach der Lesung unterhalte ich mich mit den sympathischen Kneipenbesuchern und lasse mich ein wenig in die Welt der mittelalterlichen Rollenspiele entführen: Einer der Gäste ist leidenschaftlicher Ritter und kämpft bei Veranstaltungen, die riesig klingen gegen das Böse. Kostümiert – nein: gewandet (!) – werden epische Schlachten geschlagen, bei denen man mit seinem Charakter auch mal »stirbt« … wenn nicht gerade ein Zauberer oder Druide in der Nähe ist, der einen wieder ins Leben zurückholt. Das klingt nach einem äußerst nerdigen Spaß. Speziell die Geschichte mit dem »Feld des Vergessens« würde ich nur allzu gerne mal live erleben: Eine Gruppe Krieger muss einen Gegenstand von einem Acker bergen, bekommt aber vom Spielmeister (oder so) heimlich Dinge zugeflüstert, auf die reagiert werden muss. Beim »Feld des Vergessens« sieht’s dann so aus, dass der eine Krieger beispielsweise vergisst, wie man seine Beine benutzt und somit robben muss. Der andere weiß nicht mehr, wer Freund und wer Feind ist und schlachtet die Mitspieler ab und so weiter und so lustig.

Gestern Abend in Gaildorf. Meine bisher wohl "intimste" Lesung am Tresen des Carty. 󾌴

Posted by Dennis Knickel on Mittwoch, 9. September 2015

Murrhardt

Die Nacht verbringe ich bei Pia in Murrhardt. Ich bin noch länger im Carty geblieben und habe mir ihre Adresse aufgeschrieben. Mein Navi kennt die Adresse jedoch nicht und Pia wohnt irgendwo auf einem pervers steilen und teils bewaldeten Hügel. Vor jedem Haus stelle ich meinen Wagen in der gefühlten Senkrechten ab, packe eine kleine Taschenlampe aus und schleiche zu den Klingelschildern. Hausnummern sucht man hier nämlich vergeblich. Irgendwann, nach mehreren Runden den Hügel auf und ab, finde ich schließlich Pias süßes Häuschen … und befürchte, dass ich zuvor sämtliche Bewohner des Hügels durch mein um die Häuser Schleichen mit Taschenlampe in Einbrecherangst versetzt habe.

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