Tag 25: Mainz

Das Tagebuch des Straßenlesers: 1. Tour (2015)

Straßenlesung auf dem Domplatz in Mainz

Mittwoch, 30. September 2015
Mainz: Kardinal-Volk-Platz

Großartig: Der SWR kann mich nun doch noch mit einem Kamerateam auf Tour schicken, um einen Teaser zu drehen, bevor ich am 6. Oktober Studiogast in der Landesschau sein werde.
Das Kamerateam besteht aus dem Hospitanten Philipp Neuweiler. Ich verabrede mich mit ihm an der Säule auf dem Markt, dem größten und bei Weitem bekanntesten der vier Domplätze in Mainz.
»Woran erkenn ich dich?«, fragt er mich am Telefon.
»Ich bin der Typ mit dem dicken Rucksack und dem Schild vor der Brust, auf dem ›Deutschlands erster Straßenleser‹ geschrieben steht.«
Er lacht.
»Und wie erkenne ich dich?«
»Ich bin zwei Meter groß und hab ’ne Kamera bei mir.«
Ich mag ihn jetzt schon.
Wir treffen uns um 16:30 Uhr … und erkennen einander sofort.
Auf dem Domplatz schraubt ein Straßenmusiker an seiner Ausrüstung herum. Baut er auf oder ab? Leider baut er gerade auf. Ich kann dem wirklich sehr sympathischen Kamera-Philipp, der übrigens Filmwissenschaft an der Uni Mainz studiert, daher direkt mal die Schwierigkeiten eines Straßenkünstlers aufzeigen: Obwohl der Markt ein wirklich großer Platz ist, kann ich mich unmöglich ebenfalls auf ihm breitmachen. Das wäre nicht nur respektlos dem musikalischen Kollegen gegenüber, sondern auch witzlos, da wir uns gegenseitig in die Parade fahren würden. Wir begeben uns daher zunächst einmal auf eine kleine Stadtwanderung. Am nahegelegenen Brand sind ebenfalls bereits Musiker am Werk. Vor der Römerpassage, bei deren Bau 1999 zufällig ein römisches Heiligtum ausgebuddelt wurde, finden wir schließlich ein geeignetes Plätzchen. Die Überreste des Heiligtum kann man sich notabene im Kellergeschoss der Einkaufspassage ansehen.
Ich staune nicht schlecht, als ich feststelle, dass mein Kumpel Miro – der Mann von der Coburger Hochzeit, dessen Trauzeuge ich sein durfte – mitsamt seiner kompletten Family zum Zuhören angerückt ist. Nachdem ich erfahren hatte, dass der SWR mich tatsächlich mit Philipp auf Tour durch Mainz schickt, habe ich noch einmal schnell die Werbetrommel gerührt. Obwohl die vierköpfige Familie bereits bei meiner Lesung am Gartenfeldplatz dabei war, erscheinen sie heute wieder. Friendship, baby! Auch meine Eltern lassen sich nicht lumpen und geben sich bereits die fünfte Lesung binnen 17 Tagen. Love, baby!
Eine mittlerweile alte Weisheit besagt, dass mitgebrachtes/vorhandenes Publikum weitere Zuhörer anzieht. Eine neue Weisheit lautet seit dem heutigen Tage: Eine Fernsehkamera zieht noch mehr Zuhörer an. Der sowieso schon gut besuchte Kardinal-Volk-Platz vor der Römerpassage ist zudem ein gut gewählter Ort für eine Straßenlesung. Eine Gruppe Mädels setzt sich auf eine meiner mitgebrachten Isomatten, amüsiert sich und lässt sich von Philipp filmen. Miros Kinder sind ein ebenso gutes Motiv und wildfremde Passanten lassen sich für Interviews über »Deutschlands ersten Straßenleser« filmen. Auch die neugierigen Blicke fühlen sich wegen der Kamera noch intensiver an.
»Gude, Dennis!«, höre ich plötzlich eine mir vertraute Stimme hinter mir.
»Flösen!«, erkenne ich den alten Bekannten.
»Was machst’n du hier?«
»Ich halte eine Straßenlesung.«
»Aha. Cool.«
Er lädt mich ein, nach der Lesung bei ihm vorbeizuschauen. Mein alter Kumpel lebt mittlerweile hier in der Altstadt. Wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen.
»Dennis?«, höre ich eine andere, mir ebenfalls bekannte Stimme fragen.
»Flo!«
Tatsächlich: Der nächste Flo, den ich schon seit langer Zeit nicht mehr gesehen habe. Ulkige Zufälle gibt’s.
Nachdem Philipp mich von allen Seiten, während des Aufbaus und beim Lesen abgedreht hat, und ich neben zweier verkaufter Bücher auch zehn Euro und eine Türkische Lira aus meinem Hut aufsammle, ziehen wir weiter zum Markt.

Mainz: Markt (Domplatz)

Es dämmert bereits und die große Fläche vor dem Dom ist nahezu leergefegt. Ohne meinen persönlichen SWR-Kameramann würde ich mir vermutlich zweimal überlegen, ob ich hier tatsächlich noch eine Lesung halten sollte. Da die Kulisse aber einiges hermacht, baue ich meinen Kram noch einmal auf. Ich setze mich vor das Café extrablatt. Hier sitzen noch einige potenzielle Zuhörer. Wie bereits erwähnt, lese ich eigentlich eher ungern vor Cafés. Das Publikum dieses Cafés nimmt mir jedoch sehr schnell meine Bedenken. An zwei Tischen fordert man mich sogar auf, meinen Verstärker lauter aufzudrehen, damit man mich besser versteht. Sehr cool. Eine Frau kommt an mir vorbei und steckt mir fünf Euro in meinen Hut. Und schon hat sich die vergleichsweise kurze Lesung auch finanziell gelohnt.
Nach der Lesung quatscht mich ein mir fremdes Pärchen an: »Sie sind Deutschlands erster Straßenleser, oder?«
»Ja«, antworte ich verdutzt. Woher kennen die beiden mich bzw. meine Arbeit? Dass wir uns zuvor nie begegnet sind, wird schnell klar. Daher frage ich die beiden, wie es dazu kommt, dass sie von mir gehört haben.
»Wir haben ihr Video-Tourtagebuch auf Facebook gesehen.«
»Ach?«
»Ja, da waren sie am Bodensee … Als ihnen ihr Plakat in den See geweht wurde!«
Zum Glück nur fast. Aber ja, das ist im Video drin. Verrückt.
Ich lade Philipp, der für seine Arbeit beim SWR nicht bezahlt wird, auf einen Federweißen ein. Am Höfchen, einem Platz direkt neben dem Markt, haben einige Weingüter Verköstigungsstände aufgebaut. Philipp erzählt mir, dass er selbst auch Filme dreht und diese mir gerne zeigen würde. Außerdem malt er gerne lustige Bildchen, die er gerne als Postkarten verschickt.

Philipp Neuweiler Dachkatze
»Dachkatze«, © Philipp Neuweiler (Alle Rechte vorbehalten)

Wie ich es mir bereits von Anfang an dachte, sind Philipp und ich auf einer Wellenlänge. Ich lade ihn ein, mit mir zu meinem Kumpel Jona zu kommen. Dort kann er mir sowohl seine Filme zeigen als auch meine Video-Tourtagebücher für den Teaser auf seine Festplatte kopieren.
Da ich letzte Nacht bereits bei Jona übernachtet habe, habe ich den Schlüssel zu seiner Wohnung bei mir. Philipp gibt mir die Passwörter zu seinen Filmen, kopiert die Video-Tagebücher und verabschiedet sich: »Das wird eine lange Nacht.«
»Schneidest du heute noch?«
»Ja, der SWR will den Teaser immer einige Tage im Voraus fertig haben.«
Das war ein langer Tag. Ich bedanke mich bei Philipp herzlich für alles, lehne mich zurück und schaue mir Philipps Kurzfilme an. Es sind schöne Filme und ich kann es kaum noch erwarten, den fertigen Teaser zu sehen …

Copyright
Titelbild: Markt, Mainz
© Berthold Werner - Eigenes Werk. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons

Foto: Kardinal-Volk-Platz
© OliverMZ - Eigenes Werk. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons

Bild: »Dachkatze«
© Philipp Neuweiler - Eigenes Werk. Die Verwendung des Bildes ist ausschließlich durch ausdrückliche und schriftliche Genehmigung des Urhebers erlaubt!

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