Tag 27: Koblenz

Das Tagebuch des Straßenlesers: 1. Tour (2015)

Straßenlesung Koblenz

Freitag, 2. Oktober 2015
Mainz

Am 6. Oktober werde ich in der Landesschau auftreten. Somit habe ich einen festen Termin, der mich an den Südwesten der Republik bindet. Aber wo lese ich bis dahin? Eine Route Richtung Osten macht nun keinen allzu großen Sinn mehr. Falls das Wetter mitspielt, bleibt mir die Ostroute sowieso für meine Rückfahrt nach Berlin. Den Südwesten habe ich soweit abgegrast, der tiefe Süden und Südosten ist zu weit. Logische Konsequenz: Ich fahre den Rhein entlang nach Norden.
Christoph, ein alter Bekannter aus Schulzeiten hat auf Facebook schon gefragt, ob oder wann ich auch mal nach Koblenz komme. Ich überlege, welche interessanten Orte es auf der Strecke nach Köln, meinem definierten Ziel, noch so gibt: Rüdesheim … Da gibt’s wie in Friedrichshafen bestimmt viele Touris. Allerdings dürften die primär aus Japan kommen. Bei St. Goar und St. Goarshausen dürfe es sich ähnlich verhalten. Wenn ich heute also nach Koblenz fahre … schaffe ich dann auch noch Köln? Sicherlich nicht. Ich sitze noch immer bei Jona in Mainz und es ist schon früher Nachmittag. Wo übernachte ich, falls ich heute Rüdesheim, St. Goar oder St. Goarshausen vor Koblenz ansteuere? So gut kenne ich Christoph nun wirklich nicht. Und zuletzt gesehen haben wir uns vermutlich, als er ein Jahr vor mir Abi gemacht hat. Wow. In Köln sollte ich eine Übernachtungsmöglichkeit haben. Ich schreibe Luana Bellinghausen, der Hauptdarstellerin meines letzten Films.
»Ich wohne mittlerweile in Aachen. Wäre schön wenn man sich sieht!«
Aachen? Scheiße. Zumindest heute. Luana nach Ewigkeiten mal wiedersehen? Klar!
Ähm … wen kenne ich denn noch so aus Kölle? Mir fällt niemand ein. Zumindest niemand, dessen Nummer ich habe. Ich rufe Eugen an. Eugen habe ich 2010 in Kambodscha kennengelernt, wovon ich in »Curry-Competition« berichtet habe. Eugen hatte gestern Geburtstag und ich habe bereits angekündigt, dass ich ihn irgendwann in den nächsten Tagen mal in Bochum besuchen werde.
»Ich wohne doch schon seit einiger Zeit in Köln, Dennis.«
Köln? Geil.
Somit steht der Plan auf etwas festeren Beinen: Heute lese ich in Koblenz, ich übernachte bei Eugen, morgen lese ich wenigstens einmal in Köln, dann schauen wir mal weiter und irgendwann besuche ich Luana in Aachen, bevor ich am 5. Oktober wieder in Rheinhessen eintrudele.

Koblenz

Das letzte Mal war ich in Koblenz, um gemeinsam mit Miro ein paar Jungs zu besuchen, die ich im Skiurlaub mit der Sportjugend Rheinland-Pfalz kennengelernt hatte.

Vermutlich 1998

Damals war ich 14 oder 15 und das Wochenende in Vallendar bei Koblenz ein ziemlich legendäres: Ich war seinerzeit schon ein cooler Punker, was einen meiner Kumpels, den Sohn eines Richters, dazu veranlasste, sich ebenfalls die Haare zu färben und rote Schnürsenkel in seine Doc Martens zu schnüren. Die Jungs zeigten mir ihren Jugendtreff, ein Grillplatz mit Aussichtsturm, wenn ich mich recht entsinne. Wir feierten fröhlich, als plötzlich eine Gruppe Glatzen anrückte.
»Ähm … Kommt da grad ’ne Gruppe Faschos angerückt?«
»Ja, die sind hier auch aus’m Ort. Aber uns machen die nichts.«
»Ach … echt?«
Die Jungs sollten recht behalten. Wir saßen mit den Skins sogar gemeinsam am Tisch. Freundschaften wurden (selbstverständlich) keine geschlossen, aber die Provokationen beließen wir im verträglichen Rahmen. Einen Grund, die Neonazis endlich zu verlassen, bot sich, als der Dirk, der Richtersohn, sich sein Mittagessen – Spaghetti – noch mal durch den Kopf gehen ließ und über den halben Tisch verteilte. Im komatösen Halbschlaf und ohne Würgen wohlgemerkt. Dementsprechend überrascht sprangen alle am Tisch sitzenden auch angewidert auf, als sich die Nudeln ihren Weg bahnten. Auf dem Rückweg ins Elternhaus weihte ich Dirk in die hohe Kunst des Mercedes-Stern-Abbrechens ein. Er wandte das Gelernte auch direkt an. Dummerweise an einem Modell, welches mit Federsicherung versehen war. Bei diesen Sternen reißt man gefühlt immer noch einen Großteil der Motorhaube mit raus. Als wir am nächsten Morgen auf unseren Matratzen in der Garage wieder aufwachten (Wieso haben wir überhaupt in der Garage gepennt?), stand Dirk mit einem Male geschockt in der Senkrechten: »Wo kommt dieser Mercedes-Stern her?«
»Den haste letzte Nacht …«
»Ich? Wo?«
»Um die Ecke?«
»Welche Ecke? Wie viele Ecken?«
»Na, direkt um die Ecke.«
»Oh Gott, oh Gott …«
Das war dann wohl beim Nachbarn. Ups.
Als Nächstes fuhren wir an den Koblenzer Hauptbahnhof, um von dort weiter nach Köln zu fahren. Unser Ziel: ein Tag lang auf der Domplatte schnorren. Sonst nichts. Auf dem Weg nach Koblenz wurden unsere Fahrkarten kontrolliert … die wir nicht besaßen. Der Kontrolletti hatte weder Erbarmen noch Sympathien für uns. Und da wir ein wenig patzig reagierten und uns, nachdem er uns eine Strafe über 60 DM aufgebrummt hatte, über ihn (offenbar zu laut) aufregten, durften wir einige Tage später wegen Beleidigung bei der Polizei vorsprechen. Der zuständige Cop in Alzey hatte allerdings genauso wenig Bock auf diesen Quark wie wir, diktierte seiner Sekretärin ein wehleidiges »Es tut uns ja alles so leid«-Briefchen, ließ es ausdrucken und meinte: »Wenn ihr das unterschreibt, hört ihr nie wieder was von uns. Wenn ihr meint, ihr müsstet auf irgendwas beharren, kommt ihr im schlimmsten Fall vor den Jugendrichter.«
Wir sollten nie wieder etwas von ihm oder dem Jugendrichter hören.
Doch zurück nach Koblenz. Denn nach der Busfahrt fing der Spaß erst an: Während der Zugfahrt nach Köln können wir mit dem Schnorren ja schon mal anfangen, dachten wir uns und beschlossen eine Taktik, die perfide und genial zugleich ist. Wir sangen den Passagieren die immergleichen Zeilen aus Drafi Deutschers »Marmor, Stein und Eisen bricht« vor und verlangten eine D-Mark, um aufzuhören. Ein (gespielt?) genervter Papa und sein höchst amüsierter Sohn waren die härtesten Nüsse. Ich glaube, wir haben mindestens zehn Minuten nur für die beiden gesungen, bevor es endlich ’ne Mark gab. Krächz. Auf der Domplatte war’s dann auch noch nett … bis Miro, der damals überzeugte Antichrist, mit einem christlichen Fundamentalisten mit »Jesus ❤ You«-Koffer eine Grundsatzdiskussion startete. Heute sind seine beiden Kinder getauft, hehe.
Als wir am Abend wieder in Koblenz ankamen, wollten wir unser Wochenendticket wieder verkaufen. Ende der 90er konnte man mit einem Wochenendticket noch zwei Tage lang mit fünf Personen quer durch die Republik fahren … für 35 DM.

Vor dem Bahnhof fragte ich einen Typen, ob er uns unser Ticket abkaufen möchte.
»Ja. Klar. Aber … ich, äh, muss vorher noch schnell ’nen Deal im Bahnhof abwickeln. Halt’ mal kurz. Ich bin gleich wieder da.«
Sprach’s und drückte mir konspirativ einen grauen Kasten in die Hand. Als ich mir den Kasten mit fragendem Blick ansehen wollte, zischte er: »Nein! Steck das Ding ein. Bloß nicht zeigen. Gut verstecken.«
»Okay?«
Zehn Minuten später kam er zurück.
»Was ist das?«, fragte ich ihn.
»Das is’n Bullenfunk.«
»Laber keinen Scheiß.«
»Doch, den hab ich vorhin aus ’nem Bullenwagen geschraubt.«
»Du willst uns wohl verarschen?«
»Nein«, beteuerte er und drückte einen Knopf. Sekunden später kamen sämtliche Polizisten aus dem Bahnhof, liefen schnellen Schrittes zu ihren Streifenwagen und hielten sich ihre Funkgeräte ans Ohr. What the fuck?!
Wir kamen gar nicht dazu, dem Kerl unsere Hochachtung oder Verwirrung oder was auch immer wir empfanden mitzuteilen, denn plötzlich standen sämtliche Junkies des Koblenzer Bahnhofs um uns herum. Unser »Wochenendticketkunde« gehörte dazu. Ich weiß nicht mehr warum, doch mit einem Male starteten die Suchtkranken eine Art Gruppentrauer um einen kürzlich verstorbenen Freund mit uns. Der Arme ist wohl eine Treppe hinuntergestürzt (worden?!) und brach sich dabei das Genick.
»Ist aber scheißegal … Nur ein Junkie weniger. Nur ein Junkie weniger. Wir sind doch eh nichts wert. Nur Dreck. Wir sind nur Dreck!«
Lustig war das nicht. Die Menschen taten mir leid. Aber die Aktion mit dem Polizeifunk … da kann ich heute noch herzlich drüber lachen.
Irgendwann kaufte uns der Typ dann endlich das Ticket ab und wir zogen weiter in die Innenstadt. Marcel, ein weiterer meiner Koblenzer Kumpels, führte uns in einen Headshop und fragte – wieso auch immer – den Verkäufer, ob er auch Gras verkaufe.
»Bist du bekloppt? Ich führe einen Headshop! Wenn die Bullen irgendwo als erstes suchen, dann bei mir. Da bekommste eher in der Drogerie gegenüber was zum Rauchen als bei mir.«
»Okay«, antwortete Marcel und verließ den Laden.
Ohne über das soeben stattgefundene Gespräch weiter nachzudenken, folgten wir ihm in die gegenüberliegende Drogerie. Kaum drinnen, ging Marcel zur Verkäuferin und sagte: »Der Typ vom Headshop gegenüber meint, wir könnten bei ihnen Gras kaufen.«
»WAS?!«, brüllte diese sofort los. »Horst, hast du das gehört? Der Kerl von dem Kifferladen schickt die Kinder zum Drogen kaufen zu uns!«
Während Horst in den Wutausbruch miteinstieg, verließen wir den Laden … und brüllten vor Lachen. Wenn ich daran zurückdenke, bekomme ich aber heute noch ein schlechtes Gewissen. Wer weiß, was Marcel da angerichtet hat?

2015

Mein heutiger Aufenthalt in Koblenz ist schön, aber nicht halb so spektakulär wie mein letzter Besuch am Deutschen Eck. Ich muss mich wieder mit Straßenmusikern arrangieren und finde letztlich einen mäßig guten Platz in der Löhrstraße. Als ich mit meiner Lesung bereits angefangen habe, kommt Christoph hinzu. Er begrüßt mich erstaunlich überschwänglich, was ich sehr schön finde. Ich hätte nicht gedacht, dass er sich so freut, mich zu sehen. Seine hübsche und sehr sympathische schwangere Freundin stößt kurz darauf noch zu uns. Und da die Lesung äußerst erfolglos verläuft, beschließe ich, lieber mit den beiden spazieren zu gehen. Angeblich gibt’s in Koblenz eine der besten Eisdielen weit und breit. Ich lasse mich von diesem Argument überzeugen und werde sogar eingeladen. Für eine Straßenlesung hat sich mein Ausflug nach Koblenz heute nicht gelohnt. Die kurze gemeinsame Zeit mit Christoph und seiner Freundin ist aber mehr als nur eine Entschädigung. Kurz darauf muss ich aber weiter, um den Abend mit Eugen in Köln verbringen zu können.

Copyright
Titelbild: Altstadt, Koblenz
© Holger Weinandt - Eigenes Werk. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons

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