Tag 4: Stuttgart
Das Tagebuch des StraĂźenlesers: 1. Tour (2015)

Donnerstag, 10. September 2015
Stuttgart: Mailänder Platz
Ich wuchte mir meinen relativ schweren Rucksack – in dem ich meine Technik sowie einige Verkaufsexemplare von »Serendipity« transportiere – auf den Rücken, hänge mir mein schickes Kartonschild um den Hals und schnappe mir eine meiner beiden Isomatten. Alleine schon wegen dieser schweren Ausrüstung bin ich der Blickfang in jeder Fußgängerzone. Als ich die Tiefgarage verlasse, finde ich mich im Milaneo wieder und denke mir sehr schnell: »What the fuck?«
Ich hasse (übertrieben große) Einkaufszentren. Und das Milaneo – immerhin das größte Einkaufszentrum Südwestdeutschlands – ist so groß, dass ich irgendwann bei der Information nach dem Weg zum Ausgang fragen muss. Das Monstrum von einem Einkaufszentrum gibt es erst seit Oktober 2014 und terrorisiert mit 43.000 m² Verkaufsfläche sowie 165 Hotelzimmern und 417 Mietwohnungen. Um Himmels Willen: Wer will denn in oder auf einem Konsumtempel Urlaub machen oder sogar dort wohnen?
Verlässt man das Horrorkabinett, findet man sich auf dem Mailänder Platz wieder … bei dem ich auch erst mal überlegen muss, ob er mir gefällt. Hm … Genau gegenüber des hufeisenförmigen Milaneo befindet sich die neue Stadtbibliothek; ein sehr großes und ebenso merkwürdiges Bauwerk, das genauso gut in einem Berliner Ostbezirk stehen könnte. Ja, die hochmoderne Bibliothek sieht aus wie ein quadratischer Plattenbau aus besten DDR-Zeiten. Von manch einem wurde das Gebäude auch als »Stammheim II« bezeichnet. Ja, die Bibliothek hat durchaus etwas von einem Knast. Bei der Frage nach der Herkunft des Architekten hätte ich spontan: »Japan«, vermutet, da die Fassade ähnlich einer Wabe in quadratische Zellen unterteilt ist, was mich an die sogenannten Kapselhotels (alias Wabenhotels) erinnert, die eben aus Japan kommen und primär dort verbreitet sind. Tatsächlich aber ist der Architekt, Eun Young Yi, aus Südkorea.
Das erste, was man also nach Verlassen des grässlichen Milaneo vor sich hat, ist ein grauer Würfel. Naja. Nachdem mein Blick sich davon lösen kann, wandert er über den gar nicht mal so großen Mailänder Platz. Die Gestaltung des Platzes gefällt mir dann schon wesentlich besser als das Innere des Milaneo und das Äußere der Stadtbibliothek: Überall stehen Liegestühle und andere Sitzmöglichkeiten zur Verfügung, der Boden ist fast schon mit einem Sand- oder Kiesstrand vergleichbar und eine Brunnenanlage sorgt für Entspannung, Kinder- und Skaterspaß. Doch, der Platz ist wirklich nicht ungemütlich. In den oberen Geschossen des Milaneo wollte ich dennoch ums Verrecken nicht wohnen müssen – was auch daran liegt, dass die Baustelle von S21 noch laut am Wummern ist. Und genau das fällt mir nach kurzer Akklimatisierung mit dem Mailänder Platz schnell sehr negativ auf: Verdammt, bei dem Lärm versteht mich doch kein Mensch!
An sich ist der Mailänder Platz mit seiner geschlossenen und engen Form, den vielen portablen Sitzmöglichkeiten und der Tatsache, dass sich nun mal die Stadtbibliothek genau hier befindet, perfekt für eine Straßenlesung. Aber dieser Baulärm …
Nichtsdestotrotz baue ich mein Equipment auf. Schließlich hat die Stuttgarter Zeitung ihr Kommen angekündigt. Auch Alex und Max wollen zur Lesung kommen und – verdammt! – diese eigentlich auch filmen. Argh! Alles wäre so optimal, wenn diese beschissene Baustelle nicht wäre!
Während meines Aufbaus kommen der Journalist und der Fotograf der Stuttgarter Zeitung auf mich zu. Ich gebe dem jungen, motivierten und sehr freundlichen Journalisten ein Interview. Er ist der erste Journalist, dem ich bisher begegnet bin, der mit einem Aufnahmegerät arbeitet und nicht alles hektisch mitschreibt oder versucht, sich alles einfach zu merken. Und bis auf die Tatsache, dass er mich – den gebürtigen Rheinhessen – zu einem Pfälzer macht, bewerte ich seinen Artikel auch als einen der schönsten, die bisher über mich und meine Arbeiten veröffentlicht wurden. Gleiches gilt auch für das Foto, welches den Artikel begleitet. Der Artikel und das Bild lassen mich den Baulärm im Nachhinein schon fast vergessen. Vielen Dank, Christian Reichel und Max Kovalenko!

Wie erwartet machen die Bagger und Bohrer die Lesung aber nahezu unmöglich. Ich muss den Verstärker voll aufdrehen und dazu noch sehr laut lesen, damit überhaupt irgendetwas bei meinem Publikum ankommt. Alex und Max, die mit ihren Fahrrädern angerückt sind, bitte ich erst gar nicht darum, die Lesung aufzuzeichnen. Schade.
Max muss zum Onkel Doktor und Alex wartet auf seinen Zug, der ihn zurück nach Mainz bringen wird. Also verbringen wir den halben Tag auf dem Mailänder Platz, hören einem Trio verärgerter Mädels beim Streiten zu und wagen uns zum Nahrungskauf noch einmal ins Milaneo. Brr.

Le Straßenleser c’est moi & Alex Mink, mon amour
Ich möchte mir auch die Stadtbibliothek von innen ansehen und schauen, ob ich es schaffe, dass »Serendipity – Teil 1« ins Sortiment aufgenommen wird. Das Innere der Bibliothek steht, in meinen Augen, sehr konträr zu ihrer Fassade. Wow! Ich bin ziemlich begeistert. Das Gebäude behält zwar seine wenig einladende Kälte bei, fasziniert mich aber mit einer recht gewagten Architektur. So landet man beispielsweise sehr schnell im »Herzen« des Bauwerks, einem vier Stockwerke hohen Raum, der in der Mitte des quadratischen Hauses angelegt wurde, und in dem sich außer Fenstern rein gar nichts befindet. Um diesen Raum ziehen sich die Treppenhäuser in die oberen Stockwerke. Ähnlich der Bibliothek in Seattle sind die gesuchten Treppen jedoch nicht unbedingt sofort auffindbar. Es wirkt ganz leicht chaotisch im an sich starr und steril wirkenden Klotz. Ich erkundige mich, in welcher Abteilung ich mein Buch für das Sortiment der Bibliothek anpreisen kann, und nehme den Aufzug in die entsprechende Etage. Ich überreiche dem Herrn hinterm Tisch ein Exemplar und lasse mir mitteilen, dass das Buch geprüft und bei Gefallen gerne zum Verleih angeboten wird. Einige Wochen später erhalte ich per E-Mail die Bestätigung, dass »Serendipity – Teil 1« in den Bestand der Stadtbibliothek Stuttgart aufgenommen wurde. Rock und Roll.
Stuttgart: Café Galà o
Max kommt vom Arzt zurück, Alex muss zu seinem Zug und ich quäle mich durch den stockenden Verkehr rund um das Europaviertel in Richtung Tübinger Straße. Dort, unweit des Marienplatzes, befindet sich das Café Galà o, wo ich am Abend meine zweite Lesung des Tages halten werde.
Vor dem Café treffe ich auf Lena, die mir die Lesungen in Gaildorf und die Lesung heute Abend im Galà o organisiert hat. Lena habe ich im Mai 2011 in Passau kennengelernt. Mein Film »Erinnerungen« war dort beim CrankCookie Kurzfilmfest nominiert und Lena studierte seinerzeit in der »Stadt der drei Flüsse«. Wir sehen uns im Schnitt nur alle zwei Jahre – was übrigens viel zu selten ist, liebe Lena.
Max und seine wunderbare Freundin Christine stoßen noch zu uns und Besitzer Reiner begrüßt uns lieb und lädt mich mal wieder zum kostenlosen Trinken ein. Oh, yeah. Ich hänge – auf Reiners Wunsch – mein Pappschild an die Fassade des Galà o, baue auf und begrüße die Gäste und Passanten, die sich durch die enge Gasse zwischen den Tischen des Galà o und mir quetschen. Ich sitze direkt am Rand des Bordsteins, mit den am Straßenrand parkenden Autos im Rücken. Ein Mann mit Laptop ist total begeistert vom angekündigten Programm und beschließt doch noch länger zu bleiben. Eigentlich war er gerade am zusammenpacken. Die Lesung macht Spaß, doch in meinem Hut landet relativ wenig Geld. Das mag Reiner nicht durchgehen lassen, zahlt mir spontan eine Gage und drückt mich fest und mehrfach dankend an sich. Cooler Typ. Auch cool ist, dass Reiner einer benachbarten Kneipe unter die Arme greift, die plötzlich doch kein Konzert für eine extra angereiste Jazzkapelle veranstalten kann oder darf. Und schwupp gibt’s im Galà o eben auf einmal ein Konzert.