Tag 4: Stuttgart

Das Tagebuch des Straßenlesers: 1. Tour (2015)

© Lichtgut/Max Kovalenko

Donnerstag, 10. September 2015
Stuttgart: MailÀnder Platz

Ich fahre mit dem Auto ins Europaviertel und parke meinen Clio in der Tiefgarage unter dem MailĂ€nder Platz. Am Europaviertel wird erst seit 2002 gebaut. Zuvor war hier ein GĂŒter- und Rangierbahnhof.
Ich wuchte mir meinen relativ schweren Rucksack â€“ in dem ich meine Technik sowie einige Verkaufsexemplare von »Serendipity« transportiere â€“ auf den RĂŒcken, hĂ€nge mir mein schickes Kartonschild um den Hals und schnappe mir eine meiner beiden Isomatten. Alleine schon wegen dieser schweren AusrĂŒstung bin ich der Blickfang in jeder FußgĂ€ngerzone. Als ich die Tiefgarage verlasse, finde ich mich im Milaneo wieder und denke mir sehr schnell: »What the fuck?«
Ich hasse (ĂŒbertrieben große) Einkaufszentren. Und das Milaneo â€“ immerhin das grĂ¶ĂŸte Einkaufszentrum SĂŒdwestdeutschlands â€“ ist so groß, dass ich irgendwann bei der Information nach dem Weg zum Ausgang fragen muss. Das Monstrum von einem Einkaufszentrum gibt es erst seit Oktober 2014 und terrorisiert mit 43.000 mÂČ VerkaufsflĂ€che sowie 165 Hotelzimmern und 417 Mietwohnungen. Um Himmels Willen: Wer will denn in oder auf einem Konsumtempel Urlaub machen oder sogar dort wohnen?
VerlĂ€sst man das Horrorkabinett, findet man sich auf dem MailĂ€nder Platz wieder â€Š bei dem ich auch erst mal ĂŒberlegen muss, ob er mir gefĂ€llt. Hm â€Š Genau gegenĂŒber des hufeisenförmigen Milaneo befindet sich die neue Stadtbibliothek; ein sehr großes und ebenso merkwĂŒrdiges Bauwerk, das genauso gut in einem Berliner Ostbezirk stehen könnte. Ja, die hochmoderne Bibliothek sieht aus wie ein quadratischer Plattenbau aus besten DDR-Zeiten. Von manch einem wurde das GebĂ€ude auch als »Stammheim II« bezeichnet. Ja, die Bibliothek hat durchaus etwas von einem Knast. Bei der Frage nach der Herkunft des Architekten hĂ€tte ich spontan: »Japan«, vermutet, da die Fassade Ă€hnlich einer Wabe in quadratische Zellen unterteilt ist, was mich an die sogenannten Kapselhotels (alias Wabenhotels) erinnert, die eben aus Japan kommen und primĂ€r dort verbreitet sind. TatsĂ€chlich aber ist der Architekt, Eun Young Yi, aus SĂŒdkorea.
Das erste, was man also nach Verlassen des grĂ€sslichen Milaneo vor sich hat, ist ein grauer WĂŒrfel. Naja. Nachdem mein Blick sich davon lösen kann, wandert er ĂŒber den gar nicht mal so großen MailĂ€nder Platz. Die Gestaltung des Platzes gefĂ€llt mir dann schon wesentlich besser als das Innere des Milaneo und das Äußere der Stadtbibliothek: Überall stehen LiegestĂŒhle und andere Sitzmöglichkeiten zur VerfĂŒgung, der Boden ist fast schon mit einem Sand- oder Kiesstrand vergleichbar und eine Brunnenanlage sorgt fĂŒr Entspannung, Kinder- und Skaterspaß. Doch, der Platz ist wirklich nicht ungemĂŒtlich. In den oberen Geschossen des Milaneo wollte ich dennoch ums Verrecken nicht wohnen mĂŒssen â€“ was auch daran liegt, dass die Baustelle von S21 noch laut am Wummern ist. Und genau das fĂ€llt mir nach kurzer Akklimatisierung mit dem MailĂ€nder Platz schnell sehr negativ auf: Verdammt, bei dem LĂ€rm versteht mich doch kein Mensch!
An sich ist der MailĂ€nder Platz mit seiner geschlossenen und engen Form, den vielen portablen Sitzmöglichkeiten und der Tatsache, dass sich nun mal die Stadtbibliothek genau hier befindet, perfekt fĂŒr eine Straßenlesung. Aber dieser BaulĂ€rm â€Š
Nichtsdestotrotz baue ich mein Equipment auf. Schließlich hat die Stuttgarter Zeitung ihr Kommen angekĂŒndigt. Auch Alex und Max wollen zur Lesung kommen und â€“ verdammt! â€“ diese eigentlich auch filmen. Argh! Alles wĂ€re so optimal, wenn diese beschissene Baustelle nicht wĂ€re!
WĂ€hrend meines Aufbaus kommen der Journalist und der Fotograf der Stuttgarter Zeitung auf mich zu. Ich gebe dem jungen, motivierten und sehr freundlichen Journalisten ein Interview. Er ist der erste Journalist, dem ich bisher begegnet bin, der mit einem AufnahmegerĂ€t arbeitet und nicht alles hektisch mitschreibt oder versucht, sich alles einfach zu merken. Und bis auf die Tatsache, dass er mich â€“ den gebĂŒrtigen Rheinhessen â€“ zu einem PfĂ€lzer macht, bewerte ich seinen Artikel auch als einen der schönsten, die bisher ĂŒber mich und meine Arbeiten veröffentlicht wurden. Gleiches gilt auch fĂŒr das Foto, welches den Artikel begleitet. Der Artikel und das Bild lassen mich den BaulĂ€rm im Nachhinein schon fast vergessen. Vielen Dank, Christian Reichel und Max Kovalenko!

2015 09 11 Stuttgarter Zeitung Stadtbibliothek Stuttgart Von einem der loszog um vorzulesen

Wie erwartet machen die Bagger und Bohrer die Lesung aber nahezu unmöglich. Ich muss den VerstĂ€rker voll aufdrehen und dazu noch sehr laut lesen, damit ĂŒberhaupt irgendetwas bei meinem Publikum ankommt. Alex und Max, die mit ihren FahrrĂ€dern angerĂŒckt sind, bitte ich erst gar nicht darum, die Lesung aufzuzeichnen. Schade.
Max muss zum Onkel Doktor und Alex wartet auf seinen Zug, der ihn zurĂŒck nach Mainz bringen wird. Also verbringen wir den halben Tag auf dem MailĂ€nder Platz, hören einem Trio verĂ€rgerter MĂ€dels beim Streiten zu und wagen uns zum Nahrungskauf noch einmal ins Milaneo. Brr.

2015 09 10 Stuttgart Dennis Knickel Alex Mink
Le Straßenleser c’est moi & Alex Mink, mon amour

Ich möchte mir auch die Stadtbibliothek von innen ansehen und schauen, ob ich es schaffe, dass »Serendipity – Teil 1« ins Sortiment aufgenommen wird. Das Innere der Bibliothek steht, in meinen Augen, sehr kontrĂ€r zu ihrer Fassade. Wow! Ich bin ziemlich begeistert. Das GebĂ€ude behĂ€lt zwar seine wenig einladende KĂ€lte bei, fasziniert mich aber mit einer recht gewagten Architektur. So landet man beispielsweise sehr schnell im »Herzen« des Bauwerks, einem vier Stockwerke hohen Raum, der in der Mitte des quadratischen Hauses angelegt wurde, und in dem sich außer Fenstern rein gar nichts befindet. Um diesen Raum ziehen sich die TreppenhĂ€user in die oberen Stockwerke. Ähnlich der Bibliothek in Seattle sind die gesuchten Treppen jedoch nicht unbedingt sofort auffindbar. Es wirkt ganz leicht chaotisch im an sich starr und steril wirkenden Klotz. Ich erkundige mich, in welcher Abteilung ich mein Buch fĂŒr das Sortiment der Bibliothek anpreisen kann, und nehme den Aufzug in die entsprechende Etage. Ich ĂŒberreiche dem Herrn hinterm Tisch ein Exemplar und lasse mir mitteilen, dass das Buch geprĂŒft und bei Gefallen gerne zum Verleih angeboten wird. Einige Wochen spĂ€ter erhalte ich per E-Mail die BestĂ€tigung, dass »Serendipity – Teil 1« in den Bestand der Stadtbibliothek Stuttgart aufgenommen wurde. Rock und Roll.

Stuttgart: Café Galào

Max kommt vom Arzt zurĂŒck, Alex muss zu seinem Zug und ich quĂ€le mich durch den stockenden Verkehr rund um das Europaviertel in Richtung TĂŒbinger Straße. Dort, unweit des Marienplatzes, befindet sich das CafĂ© GalĂ o, wo ich am Abend meine zweite Lesung des Tages halten werde.
Vor dem CafĂ© treffe ich auf Lena, die mir die Lesungen in Gaildorf und die Lesung heute Abend im GalĂ o organisiert hat. Lena habe ich im Mai 2011 in Passau kennengelernt. Mein Film »Erinnerungen« war dort beim CrankCookie Kurzfilmfest nominiert und Lena studierte seinerzeit in der »Stadt der drei FlĂŒsse«. Wir sehen uns im Schnitt nur alle zwei Jahre â€“ was ĂŒbrigens viel zu selten ist, liebe Lena.
Max und seine wunderbare Freundin Christine stoßen noch zu uns und Besitzer Reiner begrĂŒĂŸt uns lieb und lĂ€dt mich mal wieder zum kostenlosen Trinken ein. Oh, yeah. Ich hĂ€nge â€“ auf Reiners Wunsch â€“ mein Pappschild an die Fassade des GalĂ o, baue auf und begrĂŒĂŸe die GĂ€ste und Passanten, die sich durch die enge Gasse zwischen den Tischen des GalĂ o und mir quetschen. Ich sitze direkt am Rand des Bordsteins, mit den am Straßenrand parkenden Autos im RĂŒcken. Ein Mann mit Laptop ist total begeistert vom angekĂŒndigten Programm und beschließt doch noch lĂ€nger zu bleiben. Eigentlich war er gerade am zusammenpacken. Die Lesung macht Spaß, doch in meinem Hut landet relativ wenig Geld. Das mag Reiner nicht durchgehen lassen, zahlt mir spontan eine Gage und drĂŒckt mich fest und mehrfach dankend an sich. Cooler Typ. Auch cool ist, dass Reiner einer benachbarten Kneipe unter die Arme greift, die plötzlich doch kein Konzert fĂŒr eine extra angereiste Jazzkapelle veranstalten kann oder darf. Und schwupp gibt’s im GalĂ o eben auf einmal ein Konzert.

Quellen
Informationen ĂŒber das Europaviertel, die Stadtbibliothek und das Milaneo: Wikipedia

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