Tag 6: Friedrichshafen

Das Tagebuch des Straßenlesers: 1. Tour (2015)

12.9.2015: Straßenlesung in Friedrichshafen (Bodensee)

Samstag, 12. September 2015
Freiburg

Verdammte Axt. Zeitungsredaktionen sind samstags nicht besetzt? Selbst in Großstädten nicht? Gestern, auf dem Weg nach Freiburg, hatte ich die Zeitung bereits angerufen und wollte noch vor Redaktionsschluss vorbeischauen. Bekanntlich bin ich ja aber erst sehr viel später in Freiburg angekommen. Als ich heute anrufe, um für meine Vormittagsstraßenlesung zu werben, erfahre ich, dass kein Journalist am Wochenende in der Redaktion anzutreffen ist. Somit ist mein Trip in den Breisgau – rein werbe- und einnahmetechnisch – ein ziemlicher Misserfolg. Aber es geht mir schließlich auch um das Kennenlernen neuer Orte und um eine schöne Reise. Das gibt meinem schönen Ausflug nach Freiburg eine dementsprechende Daseinsberechtigung.
Ich checke im Starbucks meine Mails und überlege, wohin ich heute fahren soll. Ich will auf jeden Fall Freiburg nun schnellstens verlassen, damit ich noch so viele Orte wie möglich ansteuern kann, bevor das Herbstwetter einsetzt. Ich muss mich zwischen Baden-Baden/Karlsruhe und dem Bodensee entscheiden. Ich wäge ab:
Morgen habe ich unter der Schirmherrschaft des Café rheinverliebt eine Lesung in Oppenheim am Rhein und danach noch »Heimspiel« auf dem Gartenfeldplatz in Mainz, wo ich einige meiner Freunde aus meiner alten Heimat – und mit etwas Glück auch das von mir informierte ZDF – erwarte. Baden-Baden und Karlsruhe liegen somit auf der logischeren Route als der Bodensee. Das wäre ein ordentlicher Umweg. Die Zeitungen von Baden-Baden und Karlsruhe dürften mehr Leser erreichen als die Zeitungen von Friedrichshafen oder Konstanz. Das spricht wiederum dafür, heute an den Bodensee zu fahren. Auch für den Bodensee spricht, dass es dort viele Touristen gibt und ich noch nie in typischen Touristenorten gelesen habe. Vielleicht sind Touristen ja die perfekte Zielgruppe für eine Straßenlesung – oder das genaue Gegenteil. Hm … Ich rufe zur Sicherheit die Redaktionen in Baden-Baden und Karlsruhe an. Geschlossen. Machen erst am Montag wieder auf. Touristen … Der Bodensee … Konstanz, Lindau, Bregenz und Meersburg kenne ich bereits. In Friedrichshafen war ich noch nie … Baden-Baden und Karlsruhe kann ich auch noch mal ansteuern, wenn ich bereits im Rhein-Main-Gebiet bin. Wegen des Geburtstages meiner Schwestern – Zwillinge – muss ich am 20. sowieso noch nach Heidelberg. Von dort ist’s nur ein Katzensprung nach Karlsruhe. Touristen. Der Bodensee. Die Sonne scheint. Es ist warm. Ich fahre an den Bodensee.

Friedrichshafen

Die Gegend, die zwischen Freiburg und dem Bodensee liegt, kann man nur als wunderschön beschreiben: Zunächst umkurve ich schroffe Felswände, schlängele mich Serpentinen hinauf und wieder hinab. Nach und nach wird die Landschaft ebener. Grüne Wiesen und Felder nehmen das Bild ein, bevor sich der Bodensee scheinbar bis zu den Alpen zieht. Ich beschließe, zunächst im mir noch unbekannten Friedrichshafen zu lesen. Je nachdem, wie es läuft und wie spät es sein wird, möchte ich dann möglichst noch nach Konstanz, Lindau oder Bregenz weiterziehen.
Wochenenden haben zwar den Nachteil, dass man keine Zeitungsjournalisten erreicht, dafür kann man aber kostenfrei parken. Ich spaziere mit Sack und Pack in Richtung Ufer, schaue mich um und vergewissere mich, dass tatsächlich kein Mensch in der Redaktion der Schwäbischen Zeitung sitzt. Ich lasse mich auf einem Plätzchen direkt auf der Uferpromenade nieder, das das genialste Panorama bietet, das man sich wünschen kann. Der Platz ist umgeben von einigen Parkbänken, auf denen Touristen das Panorama zumeist mit einer Eistüte in der Hand genießen. Falls Touris Spaß an einer Straßenlesung entwickeln können, dürfte dieser Platz geradezu perfekt sein.

Der Platz ist perfekt und Touristen wunderbare Zuhörer: Trauben von Menschen bleiben auf der Promenade stehen, um mir ein wenig zuzuhören. Die Bänke bleiben durchweg gefüllt, einzelne Personen zum Kauf neuer Eistüten losgeschickt und mein Hut füllt sich. Als ich mit meiner Lesung eigentlich fertig bin, stelle ich fest, dass einige Zuhörer wohl noch nicht genug gehört haben und ständig neue Touristen die Meile entlangflanieren. Dann lese ich eben dasselbe noch mal! Ich mache eine kleine Trinkpause. Zum Glück steht nur wenige Meter neben mir ein Trinkwasserbrunnen, denn ich hatte komplett vergessen, mir ein Getränk zu kaufen. Als ich mit meinem zweiten Durchgang fertig bin, hat sich am Bild nichts geändert: Noch immer hören mir viele Menschen zu und die neugierigen Blicke derer, die mich soeben erst erspäht haben, ebben ebenso wenig ab. Also noch einmal. Ich bemerke, wie sich ein Pärchen, das bereits bei meinem ersten Durchgang angeregt zuhörte, es sich mit einem Eis wieder auf einer der Bänke gemütlich macht.
»Euch kenne ich doch!«, unterbreche ich mich selbst kurz.
Die beiden lächeln und nicken.
»Seid ihr jetzt tatsächlich wegen der Lesung zurückgekommen?«
Wieder lächeln und nicken sie. Wie cool!
»Habt ihr vorhin schon das Kapitel mit der Anarcho-Hochzeit mitbekommen?«
Lächeln. Nicken. Verdammt. Sie bleiben dennoch eine Weile sitzen und legen mir Geld in meinen Hut.
Als ich bereits mit meinem vierten Durchlauf begonnen habe, spüre ich, wie sich mir mal wieder ein Schatten nähert. Ich blicke kurz auf. Eine Oma von gut 80 Jahren steht neben mir und schaut sich kritisch um. Hm, wieso steht sie da? Und was stiert sie so missmutig an? Mein Schild mit den Infos zu meinem Buch und meiner Person steht rechts von mir. Die Frau steht aber direkt vor meinem Verstärker, links von mir. Hört sie so schlecht und stellt sich deswegen genau vor meine Box? Als ich einen Absatz beende, blicke ich zu ihr auf.
»Müssen Sie mit diesem Lautsprecher lesen? Was soll das denn überhaupt?«
Oha. Kein Fan.
»Ja«, antworte ich ihr, »sonst hört mich ja niemand.«
»Hört denn da überhaupt wer zu? Ja, wen interessiert das denn, was sie hier erzählen?«
»Na, schauen sie doch mal hier«, sage ich und deute auf die Menschen, die auf den Bänken sitzen. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass die mir auch zuhören.«
Ich antworte übrigens in mein Mikrofon, damit auch jeder mitbekommt, weshalb es zur Unterbrechung der Lesung kommt.
Die Dame schaut abschätzig zu den Bänken. Eine Frau, die dort sitzt, ruft: »Ja, ich höre zu!«
Daraufhin schnaubt die betagte Lady kurz und richtet ihren Blick wieder runter zu mir: »Sie lesen ja aber schon seit Stunden!«
»Das stimmt allerdings«, gebe ich ihr recht. Mittlerweile lese ich schon seit vier Stunden aus »Serendipity« vor.
»Hören sie damit irgendwann auch mal wieder auf?«
»Sogar heute noch. Ich verspreche es ihnen.«
Ich bilde mir ein, dass sie sich ein Lächeln verkneifen muss.
»Heute noch, ja?«
»Versprochen.«
»Sie stören doch nur.«
»Glaube ich nicht. Aber schönen Dank für den Hinweis.«
Eingeschnappt dreht sie sich um und zieht langsamen Schrittes von dannen.
»Sind sie denn Anwohnerin?«, frage ich noch mal nach. Dann könnte ich ihre Kritik nämlich nachvollziehen. Wenn ich jemanden wie mich stundenlang vor meinem Fenster sitzen hätte, würde ich auch irgendwann wütend werden.
»Nein«, reagiert sie recht kleinlaut und lässt die Frau, die kurz zuvor anmerkte, dass sie mir zuhört, laut auflachen: »Das hätte ich jetzt auch noch gefragt!«
Na, wenn sie keine Anwohnerin ist, ist’s mir ehrlich gesagt egal, ob sie mich als störend empfindet oder nicht. Ich lese also weiter und beobachte die Alte, die sich immer wieder zu mir umdreht und böse Blicke zuwirft. Sie verschwindet schließlich in einer Passage.
Am Ende des Kapitels, aus dem ich vorlas als die Omi mich unterbrach, schlage ich das Buch für heute endgültig zu: »Vielen Dank! Das hat richtig Spaß gemacht. Wie die nette Dame von gerade eben schon bemerkte, lese ich nun bereits seit einigen Stunden. Das heißt, dass meine Kehle recht trocken ist. Außerdem befürchte ich, dass die Dame mir das Ordnungsamt auf den Hals hetzen könnte. Ich kenne die Gesetze bezüglich Straßenkunst in Friedrichshafen nicht. Und bevor ich eine Ordnungsstrafe zahlen muss, höre ich nun lieber auf vorzulesen. Und nach Mainz muss ich heute auch noch fahren … Dankeschön!«
Eine Frau mittleren Alters kommt auf mich zu: »Sie haben vor einigen Tagen schon in Backnang gelesen, oder?«
»Ja!«, freue ich mich. »Haben sie mich dort gesehen?«
»Nein, aber ich hab’s in der Zeitung gelesen. Lustig, dass ich sie nun hier sehe.«
Friedrichshafen macht ja so viel Spaß!

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