Tag 8: Wiesbaden

Das Tagebuch des Straßenlesers: 1. Tour (2015)

© Martin Kraft (CC BY-SA 3.0)

Montag, 14. September 2015
Wiesbaden

Ich fahre am Vormittag nach Wiesbaden und suche die Redaktion des Wiesbadener Kuriers auf. Die Adresse habe ich im Internet recherchiert. Als ich das Büro, das sich in der Fußgängerzone befindet, mit meinem Straßenleser-Equipment betrete, ernte ich sofort ein paar irritierte Blicke. Als ich am Anmeldungstresen an die Reihe komme, sehen mich zwei kritisch und verständnislose Augen an.
»Schönen guten Tag. Mein Name ist Dennis Knickel. Ich bereise derzeit ganz Deutschland als Deutschlands (vermutlich) erster Straßenleser.«
»Und was wollen sie hier?«
»Ich würde gerne mit jemandem aus der Redaktion sprechen.«
»Da sind sie hier falsch.«
»Ach?«
»Na, hier ist doch die Kundenbetreuung!«
Und woher soll ich das wissen …? Egal: »Okay, und wo finde ich die Redaktion?«
Mit leicht schüttelndem Kopf und einem fast schon angeekelten Blick liest sie, was auf meinem Schild steht, bevor sie: »In der Kleinen Schwalbacher Straße«, antwortet
Ich ziehe meine linke Augenbraue nach oben und schaue die Dame erwartungsvoll an. Nichts passiert. Von daher: »Und wo ist die Kleine Schwalbacher Straße?«
Die nicht wirklich hilfsbereite Frau atmet tief durch und beschreibt mir in Rekordeile, wo ich die Redaktion finde. Vielen Dank auch …
Als ich das Kundencenter gerade wieder verlasse, streifen sich ein letztes Mal unsere Blicke. Ich nicke noch mal freundlich, wohingegen sie noch mal quer durch den Raum fragen muss, was das überhaupt soll und ob »Musik nicht wesentlich mehr Sinn machen würde«, als auf der Straße vorzulesen. Für einen Menschen, der bei einer Zeitung arbeitet, scheint mir diese Person eine erschreckend große Ablehnung gegenüber dem geschriebenen Wort zu haben. Mehr als ein Kopfschütteln und: »Nein«, fällt mir als Konter dann aber auch nicht ein. Wiesbaden …
Trotz überschneller Beschreibung finde ich die Kleine Schwalbacher Straße sehr schnell. Ist auch nicht wirklich schwer. Das Gebäude des Wiesbadener Kurier ist verschlossen. Man kann das Haus der Zeitung nur betreten, wenn man klingelt und sein Anliegen kundtut. Ich klingel bei der Lokal-/Wirtschafts- und Kulturredaktion; die belegen gemeinsam eine Klingel.
»Hallo?«
»Schönen guten Tag. Mein Name ist Dennis Knickel. Ich bereise derzeit ganz Deutschland als Deutschlands (vermutlich) erster Straßenleser.«
Schweigen.
»Und was wollen sie?«
Irritiertes Schweigen meinerseits. Dann: »Ähm, ich möchte mit einem Journalisten aus der Kulturredaktion über meine Tour sprechen.«
»Ach so, ich dachte, sie wollen zur Wirtschaftsredaktion. Na, kommense einfach mal rein.«
Kaum habe ich das Haus betreten, steht zwischen mir und dem Aufzug, der mich wahrscheinlich in die Redaktion zu bringen vermag, ein alter Mann, der offenbar für die Sicherheit zuständig ist.
»Was …? Wo wollen sie denn hin?«, fragt er mich unmittelbar nachdem er mich erspäht hat.
»In die Redaktion. Zur Kulturredaktion.«
»Sie können doch nicht einfach so hier reinkommen.«
»Bin ich ja auch nicht. Die Haustür ist doch verschlossen. Mir wurde geöffnet … von jemandem aus der Redaktion.«
»Das muss ich erst mal überprüfen. Sie warten hier.«
Wozu diese Paranoia?
Der Opi betritt den Aufzug. Noch bevor die Tür sich schließen kann, öffnet sich auf einmal die Tür direkt neben dem Aufzug. Eine Frau, die in etwa denselben irritierten und auch leicht angewiderten Blick drauf hat wie die Frau bei der Kundenbetreuung, linst mich musternd an.
»Haben wir eben an der Gegensprechanlage …?«
»Ja«, schüttelt sie den Kopf, während sie noch immer mich und mein Gepäck begutachtet. »Na, kommense mal rein.«
Opi verschwindet mit dem Aufzug und ich folge der jungen Frau in die Tiefen des Kurierkomplexes. Zwischendurch dreht sie sich noch einmal zu mir um. Ich weiß nicht, ob sie ein Attentat von mir erwartet oder mich und meine Aktion einfach nur in keiner Weise verstehen oder gar gutheißen kann. Wir betreten einen Raum, in dem drei weitere Journalisten sitzen. Alle werfen mir denselben Blick entgegen: pures Unverständnis. Und ich habe noch nicht einmal irgendwas gesagt.
»Hallo«, versuche ich das Eis zu brechen und beginne mit meinem Standardvorstellungstext.
»Und was genau wollen sie jetzt?«, fragt mich der einzige männliche Journalist im Raum.
»Dass sie über mich und mein Projekt berichten?«, antworte ich und fühle mich auf seltsame Weise in eine arrogante Ecke geschoben.
»Also wissen sie«, reagiert der Journalist, »heute kommen 1.000 Flüchtlinge hier an. Da gibt es Wichtigeres, als jemand, der sich auf die Straße setzt und aus einem Buch vorliest.«
Was will der? Denkt der Vogel etwa tatsächlich, dass ich mein Kunstprojekt über das Wohl von Menschen stelle, die gerade alles verloren haben? Ich wäre im Leben auch nie auf einen solchen Vergleich gekommen.
»Also bei uns sind heute alle Leute wegen der Flüchtlinge eingespannt. Da haben wir für sie keine Zeit … Hier ist überhaupt kein Platz für sie.«
Ich bin hier doch in der Kulturredaktion? Die haben hier doch eine Kulturredaktion? Oder steht das nur am Klingelschild? Naja, die Kultur teilt sich in Wiesbaden vermutlich nicht nur das Klingelschild mit der Wirtschaft. Nun bin ich derjenige, der die anderen seltsam anschaut. Berichtet der Wiesbadener Kurier morgen also ausschließlich von der Ankunft der Flüchtlinge? Die komplette Tageszeitung einer Stadt mit rund 275.000 Einwohnern schreibt über nichts anderes?
Als mir die arrogant »bemitleidenswerten« Blicke endgültig auf den Sack gehen und von den hiesigen Presseleuten wohl auch nichts mehr zu erwarten ist, merke ich kurz an, dass die Wiesbadener Zeitung somit die erste Zeitung ist, die sich nicht für »Deutschlands erster Straßenleser« interessiert. Schade. Darauf fragt mich der Mann, wie lange ich denn in der Stadt sein werde.
»Wahrscheinlich nur heute. Ich bin ja, wie gesagt, auf Tour.«
Seine Reaktion darauf offenbart dann – in meinen Augen – endgültig das hohe kulturjournalistische Vermögen dieser Redaktion: »Na, dann macht’s doch auch gar keinen Sinn, wenn wir über sie berichten. Sie haben doch gar nichts davon!«
»Ähm, doch«, erwidere ich, nunmehr vollkommen verständnislos.
Die Journalisten lachen.
Und ich frage mich, ob die überhaupt kapieren, wozu Zeitungen eigentlich da sind …
Ich verlasse unverrichteter Dinge das Gebäude des Wiesbadener Kuriers und suche mir einen Platz in der Fußgängerzone.
Es gelingt mir schnell, eine junge Frau zum Hinsetzen und Zuhören zu bewegen. Sie lacht laut und ungeniert, was mir natürlich große Freude bereitet. Doch plötzlich kommt ein Polizist angefahren … auf einem Segway. Das ist jetzt nicht Dein Ernst? In Wiesbaden gibt’s Segway-Bullen? Ich schmeiß mich weg … Oder würde es, wenn der Typ mich nicht – ohne Scheiß – umkreisen würde! Was wird das denn jetzt? Steig doch einfach ab und sag mir, dass ich gegen die landeshauptstädtische Ordnung verstoße und zusammenpacken soll. Zu meinem Erstaunen beendet der uniformierte Segway-Blitz irgendwann seine Aasgeierrunden und düst von dannen. Ich kann’s kaum glauben, dass ich weiterlesen darf und wähne mich auch der sicheren Seite … bis wenig später auf einmal dunkle Schatten meine Buchseiten verdecken. Ich frage mich erst gar nicht, was nun los ist. Natürlich steht irgendein Ordnungshüter vor mir, der vom Segway-Cop herbeigerufen wurde und mich nun auffordern wird, aufzuhören. Ich blicke auf, sehe den Schritt eines Mannes knappe 30 Zentimeter vor meiner Nase und frage mich nicht zum ersten Mal, weswegen die sich immer so unfassbar bzw. anfassbar nahe vor mir aufbauen müssen. Direkt neben in Jeans gehüllten Männerschritt steht ein weiteres Paar Jeans, Damenjeans. Auch der Damenschritt steht direkt vor meiner Nase. Hm, Jeans …? Keine Uniform? Ich schaue kritisch nach oben und bekomme mit den Worten: »Stadtpolizei«, zwei Dienstmarken entgegengestreckt. Aha. Ein abgeriegeltes Redaktionsgebäude. Ein Segway-Cop. Und nun zwei Zivilbullen. An einem Montagmittag. In Wiesbaden. Ach, Wiesbaden … Da bleibt einem nur noch Kopfschütteln.
Ich höre mir von den beiden Supercops noch kurz an, dass mein Verstärker verboten ist, meine Lesung verboten ist und dass ich – wenn ich nicht sofort zusammenpacke – mit einem Bußgeld belegt werde. Ich nicke freundlich genervt, packe zusammen und verlasse Wiesbaden auf schnellstem Wege in Richtung Alzey. Das ist meine Heimatstadt auf der anderen Seite des Rheins. Kaum habe ich mein Elternhaus betreten, erzähle ich meiner Mutter und meinem Vater von meinen Abenteuern auf der falschen Rheinseite. It stays forever eebsch there.

Copyright
Titelbild: Wiesbaden
© Martin Kraft - Eigenes Werk. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons

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