Tag 2: Mönchengladbach & Duisburg

Das Tagebuch des Straßenlesers: 3. Tour (2016)

Straßenlesung in der Königstraße, am König-Heinrich-Platz in Duisburg

Donnerstag, 1. September 2016
Mönchengladbach

Ich war noch nie in Gladbach. Und ehrlich gesagt, wüsste ich nicht, weswegen ich (für eine Straßenlesung oder in meiner Freizeit) noch mal hinfahren sollte. Die Innenstadt ist unhübsch und die Menschen, denen ich begegne, sind … seltsam. Ich frage beispielsweise ein jugendliches Pärchen, wo denn hier ein zentraler Marktplatz zu finden sei oder ein Ort, an dem viel los ist. Mit Beendigung meiner Frage sehe ich die beiden sich plötzlich in Zombies verwandeln: »Äh … ähä … ääh. Bismarckplatz?«
»Bismarckplatz.«
»Ähä.«
»Wo ist der?«
Die beiden zeigen in Zeitlupentempo in die Richtung, in die ich sowieso gerade spaziere.
»Ich laufe direkt darauf zu?«
»Rechts. Da … äh.«
Der Bismarckplatz stellt sich einige Minuten später als ein verlassener (Park-)Platz ohne Geschäfte, aber mit zwei Bushaltestellen heraus. Toller.
Ich bin den beiden Zombie-Kids vor dem Minto-Einkaufszentrum begegnet. Der Bereich vor der Mall wirkt noch am lebendigsten in dieser Stadt. Die Lesung läuft dennoch sehr zäh. Ich habe zwar den ein oder anderen Zuhörer, Bücher kaufen oder Kleingeld loswerden, will aber offensichtlich niemand. Auch nicht der glatzköpfige Anzugträger, der das Minto verlässt und schnellen Schrittes zu mir gestapft kommt. Der will dann allerdings doch etwas von mir und teilt mir dies in herrlichstem Westfälisch mit: »Du kannst hier nicht vor dem Minto-Center einfach irgend’ne Aktion starten, Sachen verkaufen und rumplärren. Wir haben hier Gastro! Die Leute beschweren sich!«
Ja, fick du dich auch. Die Menschen, die ich in den umliegenden Cafés beobachten konnte, wirkten übrigens sehr entspannt und im Nachhinein ärgere ich mich, dass ich den Typen nicht einfach gefragt habe, was der Bürgersteig eigentlich mit dem Minto-Center zu tun hat und er sich gerne verdrücken darf. Aber dann wäre vermutlich das Ordnungsamt angerückt und hätte mir ein Bußgeld reingedrückt. Naja. Gladbach? Braucht kein Mensch. Oder um es mit den Worten des weltreisenden Fotografen Patrick Wendt aus Bochum zu sagen: »Gladbach ist seelenlos und voller seltsamer Menschen. Ich wüsste keinen Grund, dort hinzufahren …«

Duisburg

Da ich ab Gladbach in gefühlter Schrittgeschwindigkeit durch den Feierabendstau in den Pott juckele, erreiche ich Duisburg viel zu spät. Zumindest denke ich das. In Wirklichkeit wird sich meine Ankunft gegen 21 Uhr aber als großer Glücksgriff erweisen. Ich schlendere mit meinem vollgepackten Rucksack und meinem vor mir getragenen Schild, welches darüber aufklärt, wer ich bin und was ich mache, durch Duisburgs Fußgängerzone und erreiche den König-Heinrich-Platz. Hier ist noch einiges los. Dummerweise ist es jedoch bereits dunkel. Die Schaufenster von Karstadt beleuchten indessen die Fläche vor dem Geschäft. Optimal, denke ich mir, muss dann aber feststellen, dass ein Dreadlock-Hippie und ein Mann um die 60 und ’ner Bierflasche in der Hand den Platz bereits für sich beanspruchen und auf einer portablen Bank sitzend Musik hören. Verdammt. Ich will mich gerade nach einem anderen Platz umsehen, als beide mir plötzlich hinterherrufen und -pfeifen: »Ey! Typ mit dem Schild! Wir wollen lesen, was da drauf steht! Komm her!«
Als (Straßen-)Künstler sollte man auf solch forsche Forderungen eingehen. Das weiß ich aus Erfahrung. Nicht immer, aber doch öfter als man denkt, entwickeln sich aus solchen Situationen nämlich Erlebnisse. Und diese Situation sollte sich zu genau solch einem Erlebnis entwickeln.
Es dauert keine 20 Sekunden bis ich Ines’ Campingstuhl ausklappe und mich neben die Jungs setze. Der Hippie ist ein Jahr jünger als ich und seit acht Monaten auf Reisen. Als ich ihn frage, wo er herkommt, antwortet er hippiegereicht: »Das ist egal. Ich bin Weltbürger und überall zu Hause.«
Er nennt sich Muffin und verdingt sich ebenfalls als Straßenkünstler. Er jongliert und schleudert bunt leuchtende Pois. Der neben Muffin sitzende Stephan ist ein weitaus ruhigerer Zeitgenosse und ein herzensguter Kerl. Wenn er den Mund aufmacht, verteilt er gerne Komplimente, singt »Schrei nach Liebe« von den Ärzten (allerdings nur »Arschloch«, ansonsten singt er nur »lalala«), offenbart seinem Gegenüber seine Werschätzung oder nimmt ’nen Schluck aus seiner Lidl-Plastikpulle. Die restlichen Flaschen verteilt er großzügig an Muffin, mich und Hartmut, den »Ketzer«. Der Ketzer, 50 Jahre jung, stößt wenige Minuten nach meinem Hinsetzen zu uns. Erst denke ich, dass er Muffins Sozialarbeiter ist, der ihm Ratschläge gibt. Dann geraten der Ketzer und Stephan kurz verbal aneinander, was kurz darauf mit großen Entschuldigungsbekundungen, viel Respekt und Höflichkeit ad acta gelegt wird. Der Ketzer ist kein Sozialarbeiter. Ich habe bis heute keine Ahnung, was der Ketzer macht. Der Ketzer ist wortgewandt und haut eine Lebensweisheit und Affirmation nach der nächsten raus. Seine Sprüche stammen teilweise aus Büchern und teilweise entspringen sie seinem eigenen Hirn. Es macht auf jeden Fall Spaß, ihm zuzuhören – auch wenn man nicht all seine Meinungen teilt.
»Ihr seid alle soweit echt okay«, würde Stephan wohl sagen. Und der Ketzer würde antworten: »Wisst ihr, dass wir alle Siegertypen sind? Alle?«
Muffin, den wirklich jeder in Duisburg zu kennen scheint, hatte in letzter Zeit hingegen viel Pech. Im Laufe des Abends frage ich mich immer öfter, wo er denn nun herkommen mag. Für mich klingt er nach typischem Ruhrpott. Allerdings bin ich in Berlin auch schon einem Saarländer begegnet, der vor zwei Jahren in die Hauptstadt gezogen ist und nun nur noch Berlinisch redet. Was ich übrigens ziemlich affig finde. Muffin macht auf mich aber nicht den Eindruck, einen Dialekt zu kopieren. Also frage ich nach und höre seine Geschichte, die mit einem Seufzer beginnt: »Ach, ich habe ja gesagt, dass ich seit acht Monaten unterwegs bin. Ich komme aus Kamp-Lintfort.«
»Du bist aus Kamp-Lintfort?«, fragt Stepahn ungläubig dazwischen.
»Wo genau liegt das?«, frage ich, bilde mir aber ein, bereits zu wissen, dass es tatsächlich im Pott liegt.
»25 Kilometer von hier.«
Oh.
»Ich hab ein Mädel kennengelernt. Wir sind dann gemeinsam nach Kroatien, was super schön war. Dann ging’s wieder zurück nach Duisburg und gemeinsam nach Ostfriesland. War auch schön. Nur hat mein Mädchen dort einen anderen Typen kennengelernt und zu mir gesagt, dass ich nun alleine weiter muss. Also bin ich wieder zurück nach Duisburg, war dann noch kurz in Wiesbaden und schon wieder zurück nach Duisburg. Was ich auch mache: Ich komme immer wieder hierher zurück. Ich weiß auch nicht, warum ich das mache. Als ich vor acht Wochen wieder hier angekommen bin, lief’s dan total beschissen: Ich weiß nur noch, dass ich im Zug oder am Bahnhof umgekippt bin und dann mit einer Blutvergiftung im Krankenhaus wach wurde. Aber ich mag Duisburg. Und vor allen Dingen dieser Platz. Das ist mein Platz. Ich bin jeden Tag hier und mache Straßenkunst. Vor ein paar Tagen habe ich hier Hunderte Kerzen aufgestellt. Ich hab aus den Kerzen das Yin-und-Yang-Zeichen gebaut. Das kam voll gut an und war total schön! Jetzt plane ich was Neues. Solange male ich die Steine an. Wäre das nicht geil, wenn hier jeder Stein mit Edding bemalt würde? Jeder Duisburger oder jeder, der hier vorbeikommt, kann sich hier verewigen.«
»Und wieso?«, fragt der Ketzer.
»Na, weil’s total bunt wäre und jeder was hierlassen würde.«
Irgendwann loben die drei zum wiederholten Male meine Idee der Straßenlesung in den Himmel, bis ich schließlich anmerke, dass sie ja noch keinen Plan davon haben und somit nur schwer beurteilen können, ob ich wirklich – wie sie gerne anfügen – ein Künstler oder eher ein ziemlicher Depp bin: »Soll ich jetzt mal eine Straßenlesung halten?«
Die drei freuen sich richtig und springen plötzlich auf: Muffin zaubert von irgendwoher plötzlich einige Decken, Stephan macht es sich direkt auf einer gemütlich und der Ketzer zieht über den Platz: »Hört! Hört! Der Straßenleser beehert uns! Hört! So höret doch! Kommt her und hört zu! Deutschlands erster Straßenleser ist in Duisburg!«
Ich finde die drei so cool.
Tatsächlich schaffen es der Ketzer und Muffin einige Zuhörer anzuschleppen, die es sich auf den Decken bequem machen. Muffin drapiert noch seine leuchtenden Pois um meinen Spendenrucksack und schon beginnt eine sehr schöne Lesung mit lachendem und applaudierendem Publikum. Inmitten der Lesung gesellt sich eine gut zehnköpfige Gruppe zu uns. Die Jungs sind gut gelaunt, lachen und klatschen öfter mal. So schnell wie sie gekommen sind, verschwinden sie aber auch wieder. Wie sich kurz darauf herausstellt, verschwinden die Säcke jedoch mit Muffins Tablet und einer Tasche des Ketzers. Wie erbärmlich Menschen doch sein können.
Besonders Muffin trifft der Verlust hart: »Als ich am Bahnhof umgekippt bin, wurde mir bereits meine Tasche mit meinem Laptop und massenhaft Musik geklaut. Auf dem Tablet war das letzte Bisschen Musik, das ich noch besitze. Und jetzt ist auch die weg. Verdammt, wie soll ich denn so Jonglieren? Ohne Musik?«
Liebe Leser, falls Ihr einen MP3-Player oder Ähnliches zu viel habt und es Euch demnächst nach Duisburg verschlagen sollte … Muffin ist einer von den Guten. Ihr könnt diesen Aufruf auch mit dem Hashtag #MusikfürMuffin supporten. Vielleicht klappt’s ja. Wäre großartig.
»Vor ein paar Jahren bin ich noch im Anzug zur Arbeit gefahren. Da hätte ich Straßenkünstler wie dich eher Nase rümpfend beäugt. Aber das war nicht ich.«
Ich denke, dass Muffin noch immer sucht. Und ich wünsche ihm alles erdenklich Gute bei der Suche.
Der Ketzer will mich unbedingt zu sich nach Hause einladen. Nach reiflicher Überlegung lehne ich das freundliche Angebot aber ab und lasse Hartmut alleine nach Hause fahren. Ich will morgen früh raus, damit ich mein straffes Programm durchziehen kann. Und der Ketzer hat bereits angekündigt, was er mir gerne alles zeigen möchte. Ich hätte schon Lust drauf … aber ein anderes Mal. Nach Duisburg komme ich auf jeden Fall gerne wieder. Bevor er sich aufmacht, lässt mich der Ketzer noch den Spruch des Tages aus seinem Affirmationsbuch lesen und rappt (!) sein Anti-AKW-Credo. Selbstgeschrieben.
»Es war super. Du bist super! Rees und Xanten, Kleve und Goch: Das ist goldener Boden für dich. Die werden dich lieben! Das sind Kultursäcke von der Gutmensch-Rotwein-Fraktion. Nicht nur Kulturbeutel vonne Flaschbierabteilung. In Rees kenne ich liebe Menschen, die dir weiterhelfen. Bleib das Wochenende noch in Duisburg! Kannst jederzeit zu mir kommen. Aloha.«
Spricht’s und verschwindet. Kleinstädte. Kleinstädte … Ich werde es auf meiner nächsten Straßenleser-Tour probieren.
Als ich mich von Stephan und Muffin verabschiede, wird Stephan ganz traurig: »Dennis, ich wünsche mir, dass du länger bleibst. Dass du dich wieder zu mir setzt, das wünsche ich mir.«
Die Situation ist rührend und ich bin versucht, Stephans Wunsch zu erfüllen. Doch ich weiß, wenn ich jetzt noch ein, zwei Stunden sitzen bleibe, kann ich meinen morgigen Tagesplan in die Tonne treten. Ich drücke Stephan zum Abschied und schenke Muffin ein Exemplar von »Serendipity«. Dieser kriegt sich kaum noch ein, herzt das Buch, drückt mich und ruft mir – als ich schon 50 Meter entfernt bin – hinterher: »Ich habe heute vielleicht meine Musik verloren, aber ein Buch gewonnen. Danke!« ♥

Copyright
Titelbild: © Spyrosdrakopoulos - Eigenes Werk. Lizenziert unter CC BY-SA 4.0 über Wikimedia Commons

Hintergrundbild: © Eugen Rung
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