Tag 3: Essen, Gelsenkirchen & Bochum

Das Tagebuch des Straßenlesers: 3. Tour (2016)

Straßenlesung in der Bahnhofstraße in Gelsenkirchen

Freitag, 2. September 2016
Essen

Ich fahre ab sofort und bis nach Berlin nur noch über Land – was im Ruhrgebiet auf der Strecke Duisburg–Essen heißt, dass ich durch Mülheim an der Ruhr fahre. So vermeide ich zum einen Staus und zum anderen sieht man so viel mehr von Deutschland … und eben auch Mülheim. Bereits bei meiner ersten Etappe im Mai bin ich fast ausschließlich über Land gefahren. So macht Autofahren einfach viel mehr Spaß.
In Essen ist Markt und das ist in der Regel sehr gut für einen Straßenkünstler. Neben dem Stand der wie passend – Essener Zeitung ist noch Platz für mich und meinen Verstärker. Die beiden Vertreter der Zeituung bekunden auch direkt ihr Interesse an meiner Aktion. Gerade als ich mit dem Aufbau fertig bin, blökt mich eine Eisverkäuferin an, deren Stand gut zehn Meter gegenüber von mir steht: »Das können sie gleich mal wieder einpacken! Auf so etwas habe ich absolut keine Lust. Da bekomme ich Kopfschmerzen von. Ständig diese Musik …«
»Ich mache gar keine Musik.«
Nach einer zweisekündigen Pause giftet sie weiter: »Was? Und was machen sie? Lesen? Will ich auch nicht. Kopfschmerzen! Gehen sie weg!«
»Das hätten sie mir auch sagen können, bevor ich aufgebaut habe, oder?«
»Das ist doch schnell wieder eingepackt: Hauen sie ab!«
Die Frau hat natürlich nicht das Recht, mich des Platzes zu verweisen. Von einer Lesung mit einer dazwischenbrüllenden Querulantin bekomme am Ende aber ich Kopfschmerzen, fürchte ich, und baue mich 50 Meter entfernt auf. Zuvor gehe ich aber noch einmal kurz zu der Dame und richte ihr aus, dass man sein Anliegen auch respektvoll und mit Freundlichkeit kundtun kann.
»Ich will überhaupt nicht mit ihnen diskutieren!«
»Das ist auch keine Diskussion, sondern ein Hinweis darauf, dass ein gewisser Respekt einen Menschen wesentlich sympathischer wirken lässt, sie Arschloch.«
Den zweiten Teil des Satzes hört sie schon gar nicht mehr: Sie sucht das Weite. Menschen gibt’s …

Gelsenkirchen

Wer sich im Osten darüber aufregt, dass es angeblich zu viele Ausländer in seiner/ihrer Heimat gibt, sollte einen ganz großen Bogen um Gelsenkirchen machen. Was des Anklamer Angst vor Multikulti ist, ist im Pott, aber augenscheinlich speziell in Gelsenkirchen gelebte Realität.
Wieso Anklam?
Anklam hat einen ganz miesen Ruf als Neonazistadt. Kein Wunder bei diesen Zahlen, die nur zwei Tage nach meiner Lesung im bunten Gelsenkirchen bei den Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern zutage kamen: Stärkste Partei wurde die AfD mit 26,2 % der Stimmen. Die NPD kommt auf 9,3 % und der Spitzenkandidat der AfD holt mit 30,8 % die mit Abstand meisten Erststimmen.
Aber wieso dieser Vergleich?
Jetzt kommt’s: Der Ausländeranteil in Anklam liegt bei sage und schreibe einem Prozent. Ein pupsekleines Prozent! Das sind 127 Ausländer bei 12.700 Einwohnern! Und deswegen wählen die dort Parteien wie die AfD und die NPD. Sagenhaft … dumm.
In Gelsenkirchen leben rund 260.000 Menschen, wovon gut 42.000 ausländische Wurzeln haben. Das sind circa 16 %. Nun liegen die Wahlen in Gelsenkirchen schon zwei Jahre in der Vergangenheit und die AfD hat sicherlich auch in Gelsenkirchen an Auftrieb gewonnen. Den hohen Ausländeranteil wird es aber auch 2014 schon gegeben haben. Und siehe da: Die Malocher, Schalker, Proleten etc. wählten zu über 50 % die SPD. Rechtsextremisten wie die Bürgerbewegung [sic!] pro NRW sind bei 4 % und die rechtspopulistischen Panikmacher der AfD haben es nur zu 4,98 % geschafft – noch ein gutes Prozent hinter den Grünen übrigens. (Mittlerweile kommt die AfD in gesamt NRW laut aktueller Umfrage jedoch tragischerweise auf bis zu 12 %.)
Genug der Politik:
Kaum beginne ich zu lesen, bleibt auch schon Bernd bei mir stehen … und kringelt sich vor Lachen: »Super! Was für eine Formulierung!«
Der Gute kriegt sich kaum noch ein, was auch mich ab und an mal ins Mikro prusten lässt. Eine bessere Werbung kann es zudem kaum geben. Darüber hinaus wirft er mir bei jeder gelungenen Pointe mehr und mehr Münzen in meinen Rucksack. Als ich zwischen zwei Kapiteln eine Pause einlege, kniet Bernd sich neben mich, stellt sich vor und erzählt mir aus seinem Leben. Das passiert mir erstaunlicherweise öfter mal. Eine Bekannte meinte, dass dies ja wohl kaum verwunderlich sei. Schließlich erzähle ich meinen Mitmenschen mit Mikrofon aus meinem Leben. Klar, dass manche sich dann denken: »Vielleicht hört der mir zu? Dann erzähle ich ihm jetzt meine Story.«
Vielleicht sollte ich doch noch Psychologie studieren … 😉
Ich empfehle Bernd ein vietnamesisches Restaurant, das ich nicht kenne. Er wollte es wissen! Er will weniger Fleisch essen. Wir haben übrigens mit keinem Wort darüber gesprochen, dass ich vegan lebe. Just sayin’. Bernd, der als Putzkraft arbeitet und auf Jazz steht, will also weniger Fleisch essen. Er weiß nur nicht so recht, wie er das anstellen soll. Falafel muss nicht sein, meint er. Also empfehle ich ihm eben den Vietnamesen gegenüber meiner »Lesebühne«. Da gibt’s bestimmt was Vegetarisches.
Bevor Bernd mit vegetarisch gefülltem Magen zurückkehrt, mir ein Buch für ganze 15 Euro abkauft und mich zu seiner Arbeitsstelle einlädt, gesellt sich ein Pärchen um die 30 zu mir, hört mir zu und kniet sich wenig später wie Bernd neben mich. Die beiden feiern heute Hochzeitstag. Der Bruder der Braut kommt demnächst von einer Rucksackreise zurück und sie überlegt, ob mein Buch nicht das optimale Geschenk für ihn wäre. Sie stellt ihrem Bruder ebendiese Frage per SMS, erhält keine postwendende Antwort und überlegt weiter. Ihr Mann denkt weniger lange nach und beantwortet die im Raum stehende Frage, indem er mir zwölf Euro in die Hand drückt: »Na, dann schenke ich das Buch schon mal meiner Frau zum Hochzeitstag.«

Bochum

Auf Bochum freue ich mich besonders, da ich nach Jahren endlich mal wieder meinen Kumpel Patrick Wendt zu Gesicht bekomme.
Patrick Wendt? Kenne ich nicht.
Solltest Du aber!
Wieso?
Weil ich über ihn einen Artikel für das Online-Fotomagazin Kwerfeldein verfasst habe und – der wesentlich triftigere Grund – Patrick ein großartiger Street Photographer ist.

Vom Tagträumen und Pausieren

Es ist reichlich spät, bis Patrick und ich uns nach einer ausgiebigen Unterhaltung mit Freunden Patricks in die City aufmachen. Am sogenannten Bermudadreieck ist immer viel los. Junge Menschen, Party, Alkohol … und eine Bühne, die frei ist. Ich baue mein Zeug auf, beginne zu lesen und werde wenige Minuten darauf auch schon wieder zum Abbruch gezwungen. Allerdings machen es die Jungs mit den orangefarbenen Crew-Shirts wesentlich cooler als die Glatze in Gladbach oder die Frau mit dem Herz aus Eis in Essen:
»Es tut uns echt sowas von leid. Wir würden dir wahnsinnig gerne zuhören und was wir bisher gehört haben, klingt auch echt lustig und cool. Aber unser Chef sagt leider, dass das nicht geht und du leider wieder abbauen musst.«
Schade. Als ich mit dem Abbau gerade fertig werde, kommen die Jungs schnellen Schrittes wieder auf mich zu, lächeln mich an und verkünden, dass sie ihren Chef belabert haben und dieser zustimmt, dass ich vor der Bühne lesen darf. Ich finde diesen Kompromiss super und will wieder aufbauen, als Patrick auf einmal meint, dass diese Ecke für eine Lesung ja wohl eher scheiße wäre: »Die sind alle besoffen. Es ist laut. Wir gehen zur Goldkante.«
In die Goldkante hat Patrick mich vor Jahren schon mal geführt. Der Laden ist cool und hat bis vor Kurzem auch Patricks Fotoserie »Daydreaming« ausgestellt. Wir erreichen die Bar, als mir vor der Kneipe ein bekanntes Gesicht auffällt.
»Wölfi, altes Haus!«, begrüßt Patrick den Sänger der legendären Kassierer und Bochumer Bürgermeisterkandidat 2015. Er wurde übrigens mit 7,91 % der Stimmen vierter.
»Dennis, das ist der Wölfi von den Kassierern!«, klärt Patrick mich unnötigerweise über die Prominenz auf.
»Weiß ich«, antworte ich. »Ich wollte nur keinen auf Fanboy machen.«
Da Patrick Wölfi wohl flüchtig und einen seiner Begleiter besser kennt, setzen wir uns zu ihnen an den Tisch. Wölfi (alias Wolfgang Wendland) findet mich, glaube ich, ganz cool. Vielleicht liegt’s an meinem Straßenleser-Schild, vielleicht auch daran, dass ich nicht ausgerastet bin, ihn zu sehen und ihn auch nicht nach einem Selfie mit ihm frage – was ein anderer Typ, der Wölfi erspäht übrigens genau so macht: »Geil, der Wölfi! Foto! Bitte! Tschüss!«

Hier hätte ein Foto von mir und Wölfi von den Kassierern sein können …

Photoshop-Künstler dürfen mir ihre Werke/Interpretationen dieser Begegnung sehr gerne zukommen lassen. Vielen Dank. 😀

Nachtrag vom 17. September 2016
Wie es aussieht, gibt es doch ein gemeinsames Foto von Wölfi und mir. Vielen Dank an »Sonny Schwarz«!

2016 09 17 Dennis Knickel und Wölfi Die Kassierer

Wölfi und ich unterhalten uns ganz gut. Lustigerweise stellt er mir ständig Fragen und hält die Unterhaltung eher am Laufen als ich es tue. Irgendwann macht die Frage die Runde, ob wir noch woanders feiern gehen. Ich stehe gerade in der Bar, als Wölfi auf mich zukommt und mich darum bittet, ihm mitzuteilen, falls wir noch woandershin abhauen sollten. Verkehrte Welt? Nein, ziemlich cool. Überhaupt ist Wölfi ein sehr sympathischer und kluger Mensch. Auch wenn das manch einer nicht glauben mag. Aber das sind in der Regel auch jene, die Punk einfach nicht verstanden haben. Eine Sache muss ich Wölfi dann aber doch noch in guter alter Fanboy-Manier mitteilen: »Der Gitarrist meiner Band hat auf dem Ruhrpott Rodeo dein Textblatt von ›Quantenphysik‹ gefangen. Seitdem hängt der Text an unserer Proberaumtür.«
Wölfi lacht: »Der ist aber auch schwer zu merken.«
Recht hat er:

Quantenphysik

»Wer von der Quantentheorie nicht schockiert ist, hat sie nicht verstanden.«
(Nils Bohr)

Quantenphysik … aouh!
Quantenphysik … aouh!
Quantenphysik … aouh! Ah!

Quantenphysik … aouh!
Quantenphysik … aouh!
Quantenphysik … aouh! Ah!

Quantenphysik!
Quantenphysik!
Quan-ten-physik!

Huh, ah!
Huh, ah!
Quan-ten-phy-sik!

Quantenphysik … aouh!
Quantenphysik … aouh!
Quantenphysik … aouh! Ah!

Quantenphysik!
Quantenphysik!
Quan-ten-physik!

Max Planck!
Max Planck!
Max Planck!
Ja!

Quantenphysik … aouh!
Quantenphysik … aouh!
Quantenphysik … aouh! Ja!

Max Planck!
Max Planck!
Max Planck!
Oi!

Ich halte noch rotzbesoffen eine Lesung vor der Goldkante. Meine Zuhörer sind auf einem sehr ähnlichen Level wie ich. Nach einem Kapitel schmerzen mir die Augen vom Schielen und ich mache Feierabend. Von Wölfi habe ich mich vergessen zu verabschieden. Aber er hat meine Visitenkarte und weiß, dass wir die Kassierer jederzeit als Vorgruppe von 6 Gramm Caratillo willkommen heißen werden. Höhö.

Copyright
Titelbild: © Thomas Robbin - Eigenes Werk. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons

Hintergrundbild: © Eugen Rung
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