Tag 1: If You’re Going to San Francisco …
Serendipity – Teil 1

Samstag, 10. November 2012
Berlin – Paris – Detroit – South San Francisco
Ich fliege von Berlin-Tegel über Paris und Detroit nach San Francisco. Nachdem Delta Airlines meine damalige Freundin Rebekka, mich und circa zwei Drittel der restlichen Passagiere 2004 bei der Zollkontrolle in Cincinnati einfach hatten stehen lassen, um eine Verspätung wieder einzuholen, wollte ich eigentlich nie wieder mit Delta fliegen. Diesmal läuft’s aber reibungslos – vermutlich weil zwei der drei Flüge zwar über Delta gebucht, allerdings von Air France durchgeführt werden. Während des knapp zehnstündigen Flugs von Paris nach Detroit gibt’s neben veganem, aber ziemlich langweiligem Essen ein sagenhaftes Unterhaltungsprogramm an Bord: Ich kann zwischen geschätzten 20 Filmen und diversen Sendungen wählen! Drei Filme und einige Zeit des Schlafens später lande ich in Detroit und hoffe, dass der Zöllner keinen Arschlochtag erwischt hat. Der Mann ist zwar alles andere als sympathisch, lässt mich aber ins Land: »You know, this display is small. Do not spread your fingers! Okay? I can’t take pictures of your fingerprints, if you spread your fingers. Okay? We try it again. – Fantastic.«
»You’re welcome.«
Er murmelt irgendetwas Unverständliches vor sich hin. Ich bilde mir ein, »Retina« verstanden zu haben, weiß aber nicht, wo ich jetzt hingucken soll: »Excuse me …?«
»I said: Have a nice day«, raunzt er mich entnervt an. Schon ein Scheißjob …

In San Francisco angekommen, amüsiere ich mich erst einmal über die Flughafentoiletten: Ich betrete die Toilette und kann – obwohl von innen verschlossen – dem Kollegen in der ersten Kabine durch einen gut und gerne fünf Zentimeter großen Spalt zwischen Wand und Tür problemlos beim Pinkeln zugucken. Der »Architekt« dieser Klos hat ein wahres Meisterwerk geschaffen.
In der Nacht vor meinem Abflug – irgendwann zwischen Wohnung putzen und Rucksack packen – habe ich noch schnell ein Bed & Breakfast gebucht, da keiner der angeschriebenen Couchsurfer geantwortet hat. Tja, bei couchsurfing.org habe ich mich auch erst zwei Tage vorher registriert. Als Neuling ohne Referenzen ist es im Gastfreundschaftsnetzwerk vermutlich nicht so einfach, eine Couch zur kostenlosen Übernachtung angeboten zu bekommen. Wie auch immer: Das B&B kostet nur 20 Euro und ist nicht weit vom Flughafen entfernt. Da mein Anreisetag – dank der Zeitverschiebung von neun Stunden – einige Stunden mehr als die üblichen 24 hat, ist es noch immer Samstag. Allerdings lande ich erst um 22:15 Uhr. Nun heißt es also schnell herauszufinden, wie ich zu meinem B&B komme. Ich gehe davon aus, dass kein Mensch den Carter Drive kennt, weswegen ich mir zuvor bei Google Maps die nähere Umgebung genauer angesehen und mir den Namen eines nahe gelegenen Parks gemerkt habe. Mein B&B-Gastgeber hat mir kurz vor meiner Abreise noch geschrieben, dass ich zunächst den Bay Area Rapid Transit (BART) und dann den Bus 122 nehmen soll. Allerdings hat er nicht geschrieben, an welchen Stationen ich aussteigen soll. Der BART-Angestellte weiß es glücklicherweise: Daly City. Das wäre also schon mal geschafft. Allerdings kapiere ich den Fahrscheinautomaten nicht sofort. Auf einer Liste steht zwar, wie viel es kostet, um beispielsweise nach Daly City zu kommen, man kann das Ziel am Automaten aber nicht auswählen. Nach kurzem Studium der angebotenen Optionen erkenne ich aber, dass man einfach auswählt, wie viel Geld man in sein Ticket investieren möchte. Der Schein nach Daly City kostet 7,95 Dollar. Ich schiebe einen 10-Dollar-Schein in den Automaten, subtrahiere zwei Dollar und lasse mir mein Ticket ausstellen. Interessant. In Daly City frage ich den nächsten BART-Angestellten, wo Bus 122 abfährt und welche Richtung ich nehmen muss: »There is no 122.«
»Uhm …«
»Where do you wanna go?«, fragt mich die Frau mit der blauen Uniform.
»Carter Drive. That’s near Westborough Park.«
»What park?«
»Hm, Westborough.«
»Where the hell is that?«
»Uhm …«
»That’s in South San Francisco, isn’t it?«
Der BART-Mensch am Flughafen klang aber äußerst sicher, als er: »Ah, that’s in Daly City!«, klugschiss. Als ich im unglaublich schnellen BART saß, hatte ich jedoch bereits das ungute Gefühl, viel zu weit zu fahren. Schließlich wirbt mein B&B mit seiner Nähe zum Flughafen. Ja, und jetzt erinnere ich mich in meinem, von der langen Reise doch sehr müden Hirn, dass South San Francisco in der Beschreibung des B&B stand.
»Hm, yes. It’s in South San Francisco«, bestätige ich enttäuscht.
»The 122 ain’t operating«, überrascht mich plötzlich die BART-Frau.
»What? Why?«
»It’s too late.«
»It’s 11 p.m.«, lasse ich sie wissen. Das ist doch eine Metropole mit 800.000 Einwohnern. Die müssen doch länger fahren – speziell an einem Samstag.
»Yes, it’s too late.«
Ich bin schockiert: »So, I’ll have to take a cab?«
Fuck, wie viel wird der SpaĂź wohl kosten?
»There are no cabs.«
Ähm … inklusive der Metropolregion kommt San Francisco auf knapp viereinhalb Millionen Einwohner.
»What do you mean: There are no cabs?«
»Not in South San Francisco.«
Ungläubig ziehe ich eine Augenbraue nach oben. Was zum …?
»Can I use my ticket to get back to South San Francisco?«
»Sorry?«
Wieso frage ich überhaupt. Natürlich nicht. Ich verabschiede mich freundlich und denke mir, dass mich schon niemand kontrollieren wird. Außerdem sieht das Ticket sowieso mehr nach einer Schwimmbadeintrittskarte aus, auf dem keinerlei Preisinformationen gedruckt sind. Wie kontrollieren die hier die Tickets? Oder kann man so viel hin und her fahren, wie man will, solange man die Bahnhöfe nicht verlässt? Sowohl zum Betreten als auch zum Verlassen der Bahnhöfe muss man seinen Fahrschein in eine Schranke stecken, damit sich diese öffnet. Wechselt man lediglich das Gleis, gibt es keine Schranke. Also fahre ich mit demselben Ticket wieder zurück nach South San Francisco.
Dort angekommen, gehe ich trotzdem erst mal zu den Bushaltestellen und frage drei Jugendliche, ob nicht doch noch irgendeine Linie fährt.
»Not in this world«, sagt der eine. Die anderen lachen. Wo bin ich denn hier gelandet? Ich schaue mich um und stelle fest, dass es tatsächlich keine Taxis gibt. Wo bin ich denn hier gelandet? Wieder gehe ich zur BART-Angestellten. Immerhin, die gibt’s wohl an jedem noch so verlassenen Bahnhof. Auf dem Weg zu ihr fragt mich ein junger Kerl, ob er mal mein Handy benutzen kann. Kann er nicht. Mit meinem deutschen Vertrag sind Telefonate in den Staaten einfach viel zu teuer und ich habe keine Lust, mir am Ende noch mein Handy an meinem ersten Abend klauen zu lassen.
Vor dem Arbeitsplatz der BART-Frau sitzt ein knapp 50-jähriger Mann mit implantiertem Hörgerät auf dem Boden. Worauf der wohl wartet? Die BART-Angestellte ist, wie ihre beiden Kollegen zuvor auch schon, äußerst freundlich und hilfsbereit. Blöderweise kennt sie aber weder den Carter Drive noch Westborough Park. Wir versuchen Dean, den Mann vom B&B anzurufen. Als er abhebt, begrüßt ihn die BART-Dame freundlich und fragt nach dem …
»Oh, it’s an answering machine.«
Argh! Ich will in mein Bett! Plötzlich steht der Jugendliche, der mein Handy haben wollte wieder neben mir und schaut auf mein Telefon. Ich halte es noch in meiner Hand, weil ich der BART-Frau Deans Nummer diktieren musste. »Sorry, it’s a German cellphone. I pay like 1,50 dollar per minute in the States.«
»No problem. My name’s Raúl.«
Sehr cool gerolltes »R«.
»You’re Mexican?«
»No, I’m from Guatemala. Did you travel all these countries?«
Er zeigt auf meinen Rucksack, auf dem sich alle möglichen Aufnäher von meinen bisherigen Reisezielen befinden. Wenige Stunden zuvor habe ich mir noch gedacht, dass das eigentlich ganz schön peinlich ist.
»Well, yes.«
»Wow, that’s cool!«
»Oh, show me!«, fordert mich die freundlich lächelnde BART-Frau auf. Ich drehe mich also herum und vernehme ein ehrliches: »Wow!«
»What are you by the way doing here?«, fragt die BART-Frau Guatemala-Raúl.
»I’m waiting for my brother, but I don’t know if he knows where I am.«
»Why don’t you call him?«
»I don’t have a phone.«
»You’re standing next to a public phone. That’s 50 cents!«
Zeitgleich kommt plötzlich ein Taxi an, das die BART-Frau zuvor für den Herrn mit dem Hörgerät gerufen hat. Ich schlendere neben dem Mann zu seinem Taxi, um den Fahrer zu fragen, wo sich mein B&B befindet. Vielleicht kann ich da ja auch hinlaufen, hoffe ich. Der Hörgerätmann wird durch meine Anwesenheit plötzlich äußerst nervös. Er wirft mir einen bösen Blick zu und prustet kurz und heftig.
»I just wanna ask him a question«, lasse ich ihn wissen. Am Taxi angekommen, klopfe ich an das Fahrerfenster. Der Fahrer ist freundlich und hilfsbereit, wohingegen der Taube plötzlich ausrastet. Wie ein wild gewordener Hahn zappelt der Vogel auf der anderen Seite des Wagens umher und krächzt: »Boark, boark, boaaark! My cab! Boark! First! First! First! Boaaark!«
»Yes, yes. I just want to ask him a question.«
Jetzt droht er mir auch noch mit der Faust.
»It’s too far to walk and it’s uphill. I’ll call another cab for you«, teilt mir der Taxifahrer mit.
»Sleep! Boaaark! Sleep! Bed! Boark!«, kräht es vor der verschlossenen Beifahrertür. Es sieht aus, als würde der Arme gleich anfangen zu weinen. Der Fahrer kümmert sich nun um seinen Gast: »Where do you wanna go?«
»Pen! Boark! Pen!«
Ich versuche den Mann davon zu überzeugen, dass ich ein netter Kerl bin, der nicht vorhat, ihm sein Taxi zu stehlen, indem ich ihm vor dem Taxifahrer einen Stift in die Hand drücke. Ein: »Boark! Thank yoark!«, bekomme ich nicht. Dem Taxifahrer ist der Hahnenmensch – beziehungsweise Rooster Man, wie Stan Lee vermutlich sagen würde – mittlerweile auch äußerst suspekt.
»Where is the woman?«, fragt er mich auf einmal.
»What woman?«
»I came here to pick up a lady.«
Oh, oh. Der will doch jetzt nicht den Gockel hier stehen lassen? Das gibt einen Herzinfarkt!
»I think the woman from BART called you to pick him up.«
»No, there should be woman.«
»I didn’t see a woman here.«
AuĂźer den drei Bus Stop Kids, Guatemala-RaĂşl, Rooster Man, BART Woman und mir ist und war kurz nach meiner Ankunft weit und breit niemand mehr.
»Well, okay.«
Er ist sichtlich enttäuscht. Ich überlege noch, ob ich ihm den Tipp geben soll, öfter mal in den Rückspiegel zu schauen. Dem Rooster Man of Deaf – höhö – traue ich mittlerweile so manche Gemeinheit zu. Noch bevor die beiden abfahren, kommt auch schon mein Taxi vorgefahren. 14 Dollar später – hmpf – stehe ich vor meiner Adresse. Jetzt heißt es nur noch, Unit 73 zu finden. Erst jetzt verstehe ich diesen Adresszusatz: Unter der angegebenen Hausnummer befinden sich mehrere Dutzend Häuser. Diese Häuschen sind wiederum in Units, quasi »Unternummern« unterteilt. In der Mitte des sehr grünen Komplexes steht ein Gemeinschaftshaus, in dem gerade eine Party am Kochen ist. Hier und da sitzen mehrere 15-Jährige. Ich kann die 73 nicht sofort finden und passiere gerade ein Pärchen. Die Mimik des Mädchens erinnert mich an das Mädchen aus »Der Exorzist«. Ihr Freund, der seinen Arm um sie gelegt hat, grüßt mich freundlich.
»Do you know where I can find unit 73?«
»No idea, man. I’m just here to party.«
Regan dreht in genau diesem Moment ihren Kopf noch einmal um 360° und zeigt uns, was sie heute schon alles getrunken hat. Was für eine Leistung! Ich bin ehrlich beeindruckt vom perfekten Timing des Kotzens und wünsche dem Jungen, der das besessene Mädel noch immer liebevoll im Arm hält, weiterhin viel Spaß. Wir beide lachen daraufhin. Vom Rooster Man mal abgesehen scheinen die Leute hier wirklich allesamt unglaublich freundlich und entspannt zu sein. Kurz darauf finde ich schließlich mein B&B. Es ist mittlerweile Mitternacht. Zum Glück ist mein Gastgeber Dean aber offensichtlich noch wach: Im Haus brennt Licht und ich kann den Fernseher hören. Nachdem ich die Klingel gefunden habe, muss ich jedoch feststellen, dass Dean offensichtlich doch nicht mehr wach ist. Nach einigen Minuten rufe ich Dean an. Als er abhebt und mich freundlich begrüßt, teile ich ihm mit, dass ich … Ach scheiße: Der Anrufbeantworter, der auch schon die BART-Frau verarscht hat. Dann muss ich wohl lauter klopfen und sturmklingeln … Nachdem ich realistisch geschätzte 50-mal die Klingel gedrückt habe, mehrfach und laut an die Haustür geklopft und: »Anybody home?«, gerufen habe, macht mir nach knapp 20 Minuten endlich … ein Mexikaner die Tür auf!?
»Uhm … you’re not Dean, are you?«
»What’s up?«
Ich hatte bei der Buchung über airbnb.com ein Foto von Dean gesehen. Das ist er nicht. Bin ich falsch hier? Hält der Mann eine Shotgun hinter seinem Rücken bereit? Ich bin schließlich in Amerika.
»I booked … a bed for tonight?«
»Oh. Come in. I’m Carlos. Dean is not here«, lächelt Carlos mich freundlich an. Puh, finally. Carlos zeigt mir das Gemeinschaftszimmer, in dem Craig versucht zu schlafen. Wie sich kurz darauf herausstellt, habe ich es Craig zu verdanken, dass ich überhaupt ins Haus gelassen wurde. Nachdem ich ihn wachgeklingelt, -geklopft und -gerufen habe, hat er Carlos eine SMS geschickt: »There’s somebody at the door.«
Craig ist cool und müde. Also versuche ich mich zu beeilen, damit ich das Licht schnell wieder ausschalten kann. Nur noch schnell aufs Klo und … Wir sind eingesperrt. Craig sitzt nun senkrecht im Bett.
»Is there a special technique to open the door?«, frage ich mulmig verwundert.
»That never happened before«, stottert der mit aufgerissenen Augen. Falls Carlos wieder so fest einschläft wie zuvor, muss Craig wohl die nächste SMS schreiben, denke ich mir gerade, als Carlos die Tür wieder aufschließt: »Sorry, I’m so tired …«
Ich auch …

Hi Dennis, ich lach mich schlapp. Freue mich schon auf weitere Berichte. Wenn einer eine Reise tut... LG Biggi
Ah Klasse! Ich freue mich schon auf meinen USA-Urlaub, wenn ich das hier so lese!