Tag 10: I’m Sexy and I’m Homeless

Serendipity – Teil 1

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Montag, 19. November 2012
Santa Cruz – San Jose – San Francisco

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Melissa muss frĂŒh zur Arbeit und bringt mich dementsprechend zeitig in die NĂ€he des Busbahnhofs. Ich habe keine Tauchschule in Santa Cruz gesehen. Hier scheint alles aufs Surfen konzentriert zu sein. Daher verlasse ich die Monterey Bay ohne getaucht zu sein. Das ist schade, aber ich werde schon noch dazu kommen. Vielleicht komme ich ja sogar wieder hier vorbei â€Š
Ich nehme den Bus, der ĂŒber den Highway 17 nach San Jose fĂ€hrt. Im Bus wird Wi-Fi angeboten. VerrĂŒckt. Ich bin allerdings viel zu mĂŒde, um irgendetwas zu machen und schlafe lieber noch eine Runde. Die Busfahrt kostet fĂŒnf Dollar und dauert eine Stunde. Ich wache gerade auf, als wir den Bahnhof von San Jose erreichen. Optimal. FĂŒr neun Dollar geht’s in knapp zweieinhalb Stunden mit dem Caltrain zurĂŒck nach San Francisco. Der Zug ist seltsam. Okay, doppelstöckige ZĂŒge kennen wir in Deutschland auch. Allerdings ist das Obergeschoss in diesem Zug zweigeteilt. Man kann entweder links oder rechts die Treppe hoch. Oben angekommen findet man sich in einem schmalen Gang mit nur einem Fenstersitz wieder. Der nicht vorhandene Mittelgang erlaubt es, die Passagiere im unteren Teil des Waggons zu beobachten. Unter der Decke gibt es eine GepĂ€ckablage, die allerdings nicht hoch genug ist, um meinen Rucksack hineinzuquetschen. Daher belegt er den schmalen Gang. Jedes Mal, wenn ein Fahrgast aus- oder zusteigt, muss er ĂŒber meinen Rucksack klettern, wenn ich ihn nicht schnell genug auf meinen Schoß hieve.

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AmĂŒsant wird es, als der Schaffner den Waggon betritt und nach den Tickets fragt. Er kommt nicht etwa nach oben, sondern wir Reisenden im Obergeschoss mĂŒssen unsere Tickets zu ihm nach unten halten. Viele Passagiere haben eine Chipkarte oder dergleichen und halten dem Kontrolletti ihr Portemonnaie entgegen. Der Schaffner fĂ€hrt dann nur schnell mit seinem kleinen Computer darĂŒber, es macht: »Biep biep«, der kleine Computer leuchtet grĂŒn auf, zeigt ein fett geschriebenes »YES« und schon wird der nĂ€chste Reisende kontrolliert. Hightech, Baby! Noch lustiger als die Fahrkartenkontrolle sind â€“ die Ansagen des LokfĂŒhrers. Der Zug ist seine BĂŒhne und diese nutzt er voll aus, wenn er die nĂ€chste Station wie ein amerikanischer Radiomoderator ankĂŒndigt â€“ oder besser ansingt: »Well, well: This is Millbrae. Millbrae approaching. After Millbrae we’re heading to San-Fran-cis-co. Not so far anymore. San Francisco’s coming, ladies and gentlemen. And this â€Š is Millbrae.«
Ich erreiche San Francisco gegen Viertel nach elf. Das ging doch alles recht flott und preiswert. Entertainment gab’s auch noch. Was will ich mehr?
Ich spaziere von der Caltrain Station, die im Bezirk South of Market und somit unweit von Downtown gelegen ist, die King Street entlang und passiere den AT&T Park, das Baseballstadion der San Francisco Giants, die nur wenige Tage vor meiner Ankunft in Amerika ihren letztes Jahr erstmals errungenen Titel verteidigen konnten. Die Party in der Stadt war wohl ziemlich extrem und uferte gegen Abend in Straßenschlachten mit brennenden Fahrzeugen aus.
So ein Baseballstadion ist irgendwie niedlich, weil es doch wesentlich kleiner ist als ein Fußballstadion. Auf der TribĂŒnenwand sind zudem ein ĂŒberdimensionaler Baseballhandschuh und eine ebenso ĂŒberdimensionale Coke-Flasche montiert. Vor der Arena steht die Statue einer Legende: Orlando Cepeda stellte in seiner Karriere unfassbare Rekorde auf, die ich allesamt nicht verstehe, weil ich außer Draufhauen und Losrennen die Regeln des Spiels nicht kenne. Hinter dem Stadion befindet sich ein mittelgroßer Platz mit einer Seehundstatue, die einen Baseball auf der Nase balanciert. Ich kann den tieferen Sinn hinter dieser Figur nicht erkennen. Ein kleiner Junge und dessen Family dafĂŒr schon: Der Seehund ist ein sĂŒĂŸes Fotomotiv. Das Stadion und der Platz liegen direkt am Wasser. Massenhaft kleine Segelschiffe liegen am Kai und man hat einen schönen Blick auf die 1936 eröffnete silbergraue San Francisco–Oakland Bay Bridge.

San Francisco–Oakland Bay Bridge
Der offizielle Name der MautbrĂŒcke, den aber kein Mensch benutzt, lautet James »Sunny Jim« Rolph Bridge. Die BrĂŒcke fĂŒhrt zunĂ€chst auf die Yerba Buena Island, die direkt neben der Treasure Island liegt, bevor sie sich wieder ĂŒber das Wasser gen Oakland erhebt. Interessant an dieser sehr schönen HĂ€ngebrĂŒcke ist, dass sie doppelstöckig ist. Die Fahrzeuge, die in Richtung San Francisco steuern, fahren oben unter freiem Himmel, wĂ€hrenddessen die Autos, die nach Oakland unterwegs sind, eine Etage tiefer ĂŒber das Wasser rollen.

Bevor ich an der schönen und beeindruckenden BrĂŒcke vorbeiflaniere, gehe ich zu Safeway FrĂŒhstĂŒck kaufen. Safeway SupermĂ€rkte bieten auch Pflanzenfressern einiges an. So werden beispielsweise einige Sojafleischprodukte der veganen Marke Tofurkey angeboten. FĂŒr mich gibt es heute Hummus und veganen SchmierkĂ€se auf Dave’s Killer Bread. Was zum Henker ist ein Killer Bread? Well, well, well: Der BegrĂŒnder dieser Brotmarke ist ein ehemaliger Junkie, der seine Sucht mit EinbrĂŒchen, DiebstĂ€hlen und ÜberfĂ€llen finanzierte und dafĂŒr 15 Jahre einsaß. Nun will er das beste und gesĂŒndeste Brot backen, verwendet ausschließlich biologisch Angebautes und verzichtet komplett auf tierische Produkte und Transfette. UngefĂ€hr 30 % der 240 Angestellten in Dave Dahls Firma sind ehemalige StraftĂ€ter. Es schmeckt gut.

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Als ich kurz vor Pier 39 am Alcatraz Landing vorbeikomme, entscheide ich mich spontan dazu, zum »Rock« ĂŒberzusetzen. Kenny hat mir zwar davon abgeraten â€“ es sei stinklangweilig â€“ aber ich habe so viele coole Filme ĂŒber das InselgefĂ€ngnis gesehen, sodass ich mich irgendwie dazu verpflichtet fĂŒhle, mir den Laden mal genauer anzusehen. Es geht also ums Feeling.
Ich will gerade an die Kasse gehen, als ich sehe, dass man ohne Reservierung erst wieder am Sonntag ĂŒbersetzen kann. Fuck, heute ist Dienstag! So lange will ich eigentlich gar nicht mehr in San Francisco bleiben. Ich frage einen Angestellten, ob ich das Schild richtig verstehe und ob es weitere Anbieter gibt, die die knapp zweieinhalb Kilometer zum Knastmuseum hinĂŒberschippern. Blöderweise bejaht er den ersten Teil der Frage und verneint den zweiten. Also kein Alcatraz. Verdammt â€Š
Ich habe noch keinen Übernachtungsplatz und somit auch keinen Ort, wo ich meinen Rucksack sicher ablegen könnte. Da es aber noch frĂŒh ist und ich keine Lust habe, mich wieder zu Starbucks und dort ins Internet zu begeben, beschließe ich, zunĂ€chst den FußgĂ€ngerpfad am Ufer entlang zur Golden Gate Bridge zu laufen. Das sind ein paar Meilen.
Ich komme allerdings nicht sonderlich weit. Als ich gerade den kleinen Park am Ende der Jefferson Street entlanglaufe, quatscht mich ein lustig aussehender Freak mit Rucksack an. Cool, ein Backpacker! Ich setze mich zu ihm und lasse mich vom gesprÀchigen Kerl zutexten. Er kommt aus Colorado, ist seit April auf Reisen und will zu einem der lay points.
»Lay points?«
»December 21st!?«
»December 21st â€Š Ah! The Maya calendar? Apocalypse?«
»Exactly.«
»And what’s a lay point?«
»That’s where they’ll pick me up and bring me all the way back home!«
»???«
»Do you think that we’re alone?«
»Aliens?«
»Yeah!«
Ich sollte mich wohl daran gewöhnen, dass man in Amerika mit vollkommenem Ernst ĂŒber Außerirdische, die die Erde besuchen, redet.
»So, where is your lay point?«
»I’d love to go to Peru. Machu Picchu, you know.«
»Sure. Makes sense.«
»But I won’t make it to Peru in time. It would be possible with a Segway, I guess.«
Segways fahren massenhaft durch die Stadt. Ein HippiepÀrchen kommt vorbei, wird sofort angequatscht und setzt sich zu uns.
»Do you want to hear a hippie joke?«, fragt der Alienfreak aus Colorado.
»Sure.«
»Why do hippies love corduroy?«
»No idea.«
»’Cause it’s groovy, Baby!«
Großes GelĂ€chter. Was zum Geier ist corduroy?
»What’s your name?«, fragt der Hippie meine neue Bekanntschaft. Stimmt, die Frage hatte ich noch gar nicht gestellt.
»I’m Fantastic Mr. Fox, but you can also call me Mr. Rogers.«
Der Mann aus Colorado ist wirklich unterhaltsam.
Die Hippies â€“ Mr. Fox bezeichnet sich ĂŒbrigens auch als Hippie â€“ kommen aus Kanada. Der Kanadier kennt auch ein paar Hippiewitze und so geht’s munter hin und her. Zeitgleich prĂ€sentiert er seine selbstgemachte Haschbutter und erklĂ€rt Fox und mir, wie er sie zubereitet hat, wĂ€hrend er einen Joint dreht. Die Kanadier wollen auch zu einem Lay Point, wissen aber noch nicht so recht wohin.
»Grand Canyon might be a lay point, too.«
Ich will mitreden können und erzĂ€hle ihnen, was ich 2004 auf Hawaii gelernt habe. Ich habe allerdings bis heute noch nicht gecheckt, ob es ĂŒberhaupt stimmt. Was soll’s. Wir reden schließlich ĂŒber Aliens. Von daher: Die Pyramiden von Gizeh und die beiden Vulkane der Big Island, Mauna Loa und Mauna Kea sind parallel zueinander, auf der exakt anderen Seite des Globus.
»I’ve heard that, too!«
Ha, ich hab’s drauf.
Die Kanadier ziehen irgendwann wieder von dannen und ich beschließe, meine Wanderung zur Golden Gate Bridge zu verschieben. Die lĂ€uft nicht weg.
»So, where do you sleep, Mr. Fox?«
»On the street.«
»Oha.«
»Where is your sleeping bag?«, mustert er mich.
»I don’t have one.«
»What? Where do you sleep?«
»I find people that host me.«
»What?!«
Ich erzĂ€hle Mr. Fox von der Couchsurfing-Website und von Ford. Er ist fasziniert. Gleichzeitig sehe ich aber auch in seinen Augen, dass er es cooler findet, auf der Straße zu ĂŒbernachten.

Fox hat Hunger. Nicht weit von hier verschenken sie Schokolade, lĂ€sst er mich wissen. Das klingt interessant. Also gehen wir zum Ghirardelli Square. Ghirardelli ist ein Schokoladenhersteller, der sich in einem schicken alten Fabrikkomplex angesiedelt hat, den man mit der Kulturbrauerei in Berlin vergleichen kann. Seine Produkte bietet Ghirardelli in diversen Shops an, die den kompletten Komplex einnehmen. Wir betreten mit unseren dicken RucksĂ€cken den ersten Shop. Am Eingang werden wir mit kleinen ProbiertĂ€felchen empfangen. Mr. Fox hat diese Tour denke ich schon öfter gemacht. Trotzdem bedankt er sich höflichst und tut stets ĂŒberrascht. Eine kleine Runde durch den Laden und ab geht’s in den Nachbarshop, in dem sich das gleiche Spiel wiederholt. Am Ende unseres »Einkaufs« schenke ich Mr. Fox meine Proben. Das freut ihn.
Mein neuer Kollege ist mit zwei weiteren Backpackern verabredet, weswegen wir wieder zurĂŒck an den Strand gehen. Auf dem Weg dorthin bietet Fox den Passanten einen Deal an: »A joke for a smoke, a buck or a beer!«
Erstaunlich viele Leute gehen darauf ein, geben Fox eine Kippe oder Geld und hören sich daraufhin einen von Fox’ unzĂ€hligen Hippiewitzen an. Es ist wirklich großartig, mit welcher Offenheit, Toleranz, Freundlichkeit und Lebensfreude die Menschen in San Francisco ihren Mitmenschen begegnen. Das macht einfach Spaß und Fox ist unglaublich unterhaltsam.
Wir kommen an einem Straßenmusiker vorbei, einem alten Mann mit Gitarre und VerstĂ€rker, der vor einer Schlange auf was auch immer wartender Menschen musiziert. Fox fĂ€ngt sofort an zu tanzen und mitzusingen. Als der Mann mit seinem Song fertig ist und außer Fox kein Arsch reagiert, kommt der vermutlich coolste Spruch, den ein Musiker in solch einer Situation bringen kann: »Oh, thank you. Thank you for not overreacting.«

Wir ziehen weiter und kommen an einigen Galerien vorbei. Fox betritt die erste, schaut sich die Bilder an und nervt eine der Angestellten mit pausenlosem Gequatsche. Als wir rauskommen, packt er braunes Papier aus, reißt etwas davon ab und steckt es sich in den Mund: »Do you want some LSD?«
Die nÀchste Galerie ist ziemlich bunt und psychedelisch: »Oh yeah, this one is definitely the place to come back, woohoo!«
Am Strand angekommen, treffen wir auf Joshua und Keegan, Fox’ Freunde. Joshua kommt aus Minnesota, Keegan aus Chicago. Beide sind mir auf Anhieb sympathisch. Joshua redet zwar nicht viel, dafĂŒr ist Keegans Geschichte umso interessanter und leider auch tragischer: Keegan ist noch keine 21 und lebt seit knapp sechs Jahren fast durchgehend auf der Straße.
»You’re homeless for six years?«, frage ich geschockt.
»Yes. Well, houseless not homeless.«
Der blonde Keegan ist gepflegt, frisch rasiert, hat stark tÀtowierte Arme und wirkt intelligent. Ich frage mich, was schief gelaufen ist. Er ist nicht immer arm, erklÀrt er. Vor einiger Zeit hatte er einen Job und hat massenhaft Geld verdient. Ich frage ihn, was er gearbeitet hat.
»Uhm, well â€Š import, export.«
Das klingt nicht so ganz legal. Ich frage nicht weiter nach.
Außerdem wundere ich mich, weshalb sein Rucksack so klein und dĂŒnn ist, woraufhin ich den ersten Teil seiner tragischen Geschichte höre: Keegan wurde vor drei Wochen, am helllichten Tage der Rucksack geklaut. Darin befand sich sein kompletter Verdienst der letzten Monate: 50.000 Dollar. Ach du Scheiße! Er hat bei der Aufzucht, Pflege und Ernte von Marihuana mitgearbeitet. Dann konnte er wĂ€hlen, ob er mit Geld, Gras oder beidem bezahlt werden will. Er hat sich primĂ€r fĂŒr Gras entschieden, weil er es in Chicago zu einem wesentlich höheren Preis verkaufen kann und somit noch mehr Geld verdient. Tja, und als er im Golden Gate Park ein Nickerchen machte, wurde ihm alles geklaut.
Keegan hat einen zweijÀhrigen Sohn in Chicago und traut sich seitdem nicht, die Mutter seines Sohnes anzurufen und ihr zu schildern, was passiert ist. Vor Thanksgiving muss er es ihr aber noch mitteilen, seufzt er.
Seine Geschichte kann die allgemein gute Stimmung aber nicht trĂŒben. Das will er auch gar nicht und schon ziehen wir los, wĂ€hrend die drei â€“ am lautesten Mr. Fox â€“ zur Melodie von »I’m Sexy and I Know It« ihren eigenen Text singen: »We don’t eat trash! I’m sexy and I’m homeless!«
Wir kommen am nĂ€chsten, einmal mehr bemerkenswert guten Straßenmusiker vorbei. Dieser Kollege spielt Schlagzeug zu einer Aufnahme und singt dazu. Die drei Jungs springen tanzenderweise an ihm vorbei und hören erst wieder auf zu tanzen, als wir ihn kaum noch hören können. Und das sind einige Meter â€Š
»Why is a scarecrow being awarded every year?«, fragt Fox den nĂ€chsten Kippen spendenden FußgĂ€nger. Der hat keine Ahnung warum.
»’Cause she’s outstanding in her field!«, lĂ€sst Fox ihn wissen, wĂ€hrend er wie eine Vogelscheuche die Arme ausbreitet. Wenn Fox einen Witz erzĂ€hlt, dann stets mit großer Gestik und einer Betonung wie ein Stand-up-Comedian. So geht es nonstop weiter: Fox erzĂ€hlt endlos viele Witze, kassiert dafĂŒr ordentlich Zigaretten und auch Kleingeld und die Jungs singen, dass sie sexy und obdachlos sind.
Ich sage meinen neuen Kumpels, dass ich ins Internet muss, um eine Bleibe fĂŒr die Nacht zu finden. Ich will mit meinem Notebook und der Kamera ungern im Freien schlafen. Erst recht nicht nach Keegans Story. Also geht’s in den nĂ€chsten Starbucks. Mr. Fox klĂ€rt Joshua, Keegan und mich darĂŒber auf, dass man fĂŒr 50 Cent einen refill bekommt. Wow! Also gehen Keegan und ich wieder an die Bar und ich ordere einen Nachschlag fĂŒr unsere Americanos.
»Oh, the refill is just for coffee.«
Ist ein Americano nicht ein gewöhnlicher Kaffee? Ich schaue auf die lange Liste der angebotenen HeißgetrĂ€nke und stelle fest, dass es tatsĂ€chlich Coffee und Americano gibt. Ein Kaffee ist zudem auch noch preiswerter. VerrĂŒckt. Dann gibt’s von nun an wohl nur noch Coffee anstelle von Americano.
Das Dumme ist, dass ich es verbockt habe und Keegan nun auch keine NachfĂŒllung bekommt. Vor dem Mann hinter der Bar stehend, sage ich laut und deutlich zu Keegan, dass er ja glĂŒcklicherweise einen Coffee und keinen Americano hatte und deswegen Anspruch auf den Refill hat. Keegan schĂŒttelt jedoch den Kopf, schaut erst mich und dann den Angestellten an, und sagt: »I also had an Americano.«
Ich finde das ziemlich beeindruckend. Keegan ist wirklich ein unglaublich lieber und offenbar auch ehrlicher Mensch. Umso schockierender ist der zweite Teil seiner Geschichte: Der 20-JÀhrige ist seit zehn Monaten auf der Flucht vor der Polizei! Sollten sie ihn verhaften, drohen ihm einmal zwölf und einmal 25 Jahre bis lebenslÀnglich.
»Fuck! What have you done?«
Er zeigt mir seinen tÀtowierten Arm: »DMT«, sagt er.
Ich verstehe nicht. Also erklĂ€rt er mir die Bedeutung seines Tattoos: Dimethyltryptamin, kurz DMT, ist ein Naturstoff, der in vielen Pflanzen, Tieren und sogar im Menschen vorkommt. Menschen produzieren laut Keegan den Stoff, wenn sie schlafen und trĂ€umen. DMT öffnet das Bewusstsein und zeigt einem Dinge, die man sich beim besten Willen nicht vorstellen kann. Es ist eines der stĂ€rksten Halluzinogene ĂŒberhaupt, hat allerdings nur eine sehr kurz anhaltende Wirkung. Er sagt dies sehr bedacht, aber doch auch schwĂ€rmend. Ich recherchiere spĂ€ter ein wenig im Internet und stoße dabei auf extreme Erfahrungsberichte. Teilweise fĂŒhlten sich die Konsumenten so, als seien sie zwei Wochen auf dem Trip gewesen. In Wirklichkeit waren es dann aber nur knapp zehn Minuten. Tja, und das Zeug hat er nicht nur konsumiert, sondern auch produziert und verkauft â€Š bis er verhaftet wurde, gegen Kaution freikam und von seinem Anwalt aufgrund absoluter Chancenlosigkeit die Flucht angeraten bekam. Uff, diese Infos muss man erst mal verdauen.
Keegan erklĂ€rt, dass er aus zerrĂŒtteten FamilienverhĂ€ltnissen mit wenig Geld und noch weniger Bildung kommt. »White Trash« nennt man seinen Background dann wohl. Mit dem Geld, das ihm gestohlen wurde, wollte er abhauen und sich ein neues Leben aufbauen. Allerdings hat er noch keinen Plan, wo er hin soll: »I’ll never be able to return to the States, if I leave.«
Ich will ihn weder verteidigen noch ĂŒber ihn urteilen, denke aber, dass es schlicht und ergreifend falsch ist, einen Kerl wie Keegan lebenslĂ€nglich wegzusperren und ihn somit jeder Chance und Perspektive zu berauben. Es ist auch kein Geheimnis, dass Gefangene wĂ€hrend ihrer Inhaftierung eher krimineller denn sozialisiert werden.

2012 11 19 16.31.41 edited
v.l.n.r.: Joshua, Mr. Fox und Keegan

Ich habe natĂŒrlich kein GlĂŒck mit Couchsurfern und komme daher auf Fords Angebot zurĂŒck, mich jederzeit bei ihm melden zu können. Ohne zu zögern, lĂ€dt er mich erneut zu sich ein. Sein Mitbewohner ist sowieso fĂŒr einige Zeit ausgeflogen, weshalb ich diesmal auch keine dritte Matratze auf den Boden legen muss und so das komplette Zimmer blockiere, sondern in dessen Bett schlafen kann. Sehr schön! Ford will mich in der Oz Lounge, 260 Kearny, Ecke Bush Street, treffen. Die drei Jungs kommen mit. Fox und ich betreten die Jazzbar und bestellen uns etwas zu trinken. Fox ordert einen Softdrink. Zum einen hat er keinen Pass, der sein Alter nachweist und zum anderen will er vermutlich Geld sparen. Fox ist ĂŒbrigens 32 Jahre alt. Trotzdem muss man in 90 % der FĂ€lle seine ID am Eingang vorzeigen. In die Oz Lounge sind wir zwar ohne Kontrolle hineingekommen, ich muss aber meinen Perso zeigen, als ich mir ein Bier bestelle. Ich wundere mich, warum Joshua und Keegan nicht mit uns hineinkommen, sondern draußen auf dem Bordstein sitzen.
»They are not 21.«
Das hatte ich komplett vergessen. Wir beschließen, uns auf die Bank vor der Oz Lounge zu setzen, damit sich die Jungs zu uns setzen können. Ihre RucksĂ€cke lassen sie auf dem Gehweg liegen, sodass die Oz Lounge wie von Backpackern oder sexy Obdachlosen besetzt aussieht. Joshua legt sich sogar irgendwann, seinen Kopf an den Rucksack gelehnt, auf den Bordstein. Neben ihm steht sein aus Karton gebasteltes Bettlerschild: »R U even nice?«

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Irgendwann kommt Ford vorbei. Er hat seinen Iro am Hinterkopf abrasiert und sieht alles andere als gut gelaunt aus. Er sieht nicht nur mies gelaunt aus, er ist es auch: Seine Freundin hat einen anderen Kerl gevögelt. Vorhin hat sie dann bei ihm an die TĂŒr geklopft und den anderen Typen in Fords Zimmer geschoben, der ihm dann von der Sache erzĂ€hlen musste. Oje â€Š
»Did you break his nose?«, frage ich.
»Why his nose?«, wundert sich Ford.
Jo.
Ford meint, er mĂŒsse nun erst einmal einen Spaziergang machen. Wir sollen erst mal in der Oz Lounge bleiben und er meldet sich spĂ€ter wieder. Ich befĂŒrchte, meine Übernachtungsmöglichkeit dĂŒrfte sich hiermit in Luft auflösen.
Wir besetzen also weiterhin das Außenmobiliar, wĂ€hrend der Kellner, der zwischendurch mal fĂŒr eine Kippenpause rauskommt total entspannt bleibt, obwohl wir vermutlich nicht die beste Werbung fĂŒr den Laden sind und keine weiteren Drinks mehr bestellen. Irgendwann kommt er mit Essen raus und schaut, ob derjenige, der den Teller bestellt hat, draußen sitzt. Außer uns sitzt aber keiner am einzigen Tisch vor der Lounge. Also geht das Essen wieder rein. Als der Kellner kurz darauf wieder rauskommt, fragt Keegan frech: »Excuse me, Sir! Where is my dinner?«
Nach wie vor bleibt der Kellner locker und geht sogar auf Keegans kleinen Gag ein. Die Chose wiederholt sich noch mehrfach. Cooler Laden.
Plötzlich kommt die Polizei vorgefahren und parkt genau vor uns. Stille, Herzrasen. Wer hat die gerufen und weswegen? Sind die Leute der Oz Lounge vielleicht doch nicht so lÀssig und rufen direkt die Bullen, ohne uns vorher zu sagen, dass wir uns verpissen sollen? Oder wurde Keegans Gesicht als gesuchter Verbrecher nicht nur in Illinois im Fernsehen gezeigt?: »Wanted!«
Das kann doch nicht wahr sein: Da flieht Keegan zehn Monate erfolgreich und ausgerechnet heute Nacht â€Š? Die Cops gehen an uns vorbei zum Nachbarladen. Ein wenig Entspannung macht sich breit. Trotzdem trauen wir der Sache noch nicht so ganz. Ein paar Vollpfosten kommen an uns vorbei und fangen genau vor uns und dem Streifenwagen einen Streit an. Die Flachzangen streiten sich fleißig weiter und fangen dann direkt neben den Cops an, sich gegenseitig zu verprĂŒgeln. Super Timing! Erleichtert atmen wir auf.
Irgendwann macht die Lounge, in der jeden Abend live gejazzt wird, dicht und wir mĂŒssen weiterziehen. Von Ford habe ich nichts mehr gehört. Mist. Fox, Joshua und Keegan laden mich dazu ein, mit ihnen auf der Straße zu ĂŒbernachten. Da wir zu viert sind, sagen sie, passiert uns mit Sicherheit nichts. Wer attackiert schon vier Leute? Außerdem hat Fox ein Dach gefunden, auf dem wir pennen können. Also sind wir noch nicht einmal auf der Straße. Wir sind gerade auf halbem Weg zum »roof squad«, als sich Ford meldet: »Still at Oz?«
Wir machen einen neuen Treffpunkt aus. Er will mich an der Kreuzung vor seiner merkwĂŒrdigen WG treffen, die eher wie ein ehemaliges Hostel wirkt. Ich warne ihn subtil vor, dass ich wohl nicht allein sein werde. Dass die drei nicht in Fords Minizimmer ĂŒbernachten können, habe ich ihnen von Anfang an gesagt. Ich merke aber, dass sich die Jungs dennoch Hoffnung machen, vielleicht heute Nacht einmal wo unterzukommen. Hoffentlich gibt das kein Drama.
Wir warten an der Kreuzung auf Ford, der kurz darauf auftaucht: »Okay, guys. Here’s what I can offer: You can crash at my place, but you’ll have to leave tomorrow early in the morning as the owner might visit the house.«
Fox, Joshua und Keegan bekommen glĂ€nzende Augen und bedanken sich, wĂ€hrend ich mir denke: »Oh, fuck. Hoffentlich nimmt mir Ford das nicht ĂŒbel â€ŠÂ«
Ford bietet den Jungs das Gemeinschaftswohnzimmer samt zweier Sofas zum Schlafen an. Als ich Ford mal in einer ruhigen Minute alleine sprechen kann, entschuldige ich mich.
»That’s no problem«, versichert er.
Ich glaube es ihm. Jetzt bin ich auch entspannt und genieße es, wie sehr sich die »Freebies«, wie Ford sie bezeichnet, ĂŒber das Obdach freuen. Freebies sind laut Ford Menschen, die sich freiwillig zu einem Leben ohne feste Bleibe und Obdach entscheiden. Ob es diese Bezeichnung offiziell fĂŒr Leute wie Fox, Joshua und Keegan gibt, darf jedoch bezweifelt werden. Zumindest finde ich bei meinen Internetrecherchen nichts darĂŒber. Ich mag das Wort aber.
Ford kocht nun sogar fĂŒr die Jungs und mich. Es sieht nicht so aus, als wĂ€re das ein verzweifeltes Ablenken von seiner Beziehungsgeschichte. Nein, der Kerl hat schlicht und ergreifend Spaß daran, seine fremden GĂ€ste zu bekochen. Beim Essen bekommen Keegan und Fox total rote BĂ€ckchen. Wann hatten die wohl zuletzt eine warme Mahlzeit und nachts ein Dach ĂŒberm Kopf? Ach, es ist einfach alles super! Und dieser Ford ist die coolste Sau, die man sich vorstellen kann: Da wird er von seiner Freundin betrogen und lĂ€dt am selben Abend drei wildfremde Obdachlose und einen deutschen Backpacker, den er auch nicht viel besser kennt, zu sich ein und bekocht sie auch noch!
Fords Freunde und Mitbewohner Brandi und Jessy gesellen sich zu uns in die WohnkĂŒche.
»We have guests!«, freut sich Jessy, rennt zurĂŒck in sein Zimmer und kommt mit einer riesigen Flasche Wein zurĂŒck. Brandi ist locker, lesbisch und arbeitet bei Starbucks. Jessy ist ein feminin wirkender marokkanischer Jude, der – warum auch immer – glaubt, ein Hispanic zu sein. Vielleicht hat er auch irgendwoher Latinoblut â€Š Was weiß ich. Er redet viel und es ist nicht immer leicht, dem sympathischen Freak zu folgen. Das liegt zum einen daran, dass die Riesenflasche Wein kreist und zum anderen daran, dass er uns mit grĂ€sslicher hebrĂ€ischer Musik zudröhnt: »Sounds Turkish to you, doesn’t it?«
Oder: »I have a Hebrew version of Tarkan’s â€șkiss songâ€č.«
Â»Ă…ĆŸĂ„Â±kıdım?«, frage ich und sorge mich um mich selbst. Woher habe ich dieses Wissen? Das will auch Jessy sofort wissen.
»Uhm, yes, yes â€ŠÂ«
Ford erzĂ€hlt uns zunĂ€chst, dass er sich einen kleinen Zopf am Hinterkopf wachsen lassen will, um bei den angekĂŒndigten neuen »Star Wars«-Filmen als Jedi vorsprechen zu können. Dann erklĂ€rt er mir endlich, wieso sein Zuhause so aussieht, wie es aussieht: Dieses Haus war tatsĂ€chlich einst ein Hostel. Allerdings haben die Betreiber vor gut zehn Monaten die Lizenz entzogen bekommen. Ford war gerade frisch aus Chicago nach San Francisco umgesiedelt und suchte seit drei Wochen von diesem Hostel aus nach einer Wohnung. Brandi hat dieselbe Geschichte, nickt sie zustimmend. Als das Hostel dann seine Daseinsberechtigung, sprich: die Lizenz, verlor, kam der Besitzer des Hauses vorbei und bot den GĂ€sten an, weiterhin gegen eine ziemlich geringe Miete im Hostel wohnen zu dĂŒrfen. Ja, und dieses Angebot haben Ford und Brandi schließlich wahrgenommen und schon wurden aus Hostelzimmern Mietwohnungen. Es werden noch Theorien ĂŒber GeldwĂ€sche, die TĂŒrkenmafia und wem hier letztlich was gehört erzĂ€hlt. Außerdem wurden wohl bereits zwei BĂŒcher geschrieben, in denen das Globetrotters Inn beschrieben wird. Jetzt sind’s drei.
Jessy ist ĂŒbrigens bereits vor gut fĂŒnf Jahren ins Hostel eingezogen und fand es so toll, dass er seinen Aufenthalt einfach immer verlĂ€ngert und verlĂ€ngert hat. Der Betreiber hat ihn nie gefragt, ob er auch mal wieder ausziehen möchte: der hiesige Udo Lindenberg mit kleinerem Geldbeutel.
Wie man es so schön aus unzĂ€hligen Hollywoodfilmen kennt, hat das rote Backsteineckhaus natĂŒrlich auch eine richtige amerikanische Feuerleiter an der Außenseite des Hauses. Da im GebĂ€ude nicht geraucht werden darf, wird also auf dem »Balkon« geraucht. Der Aufenthalt auf Feuerleitern ist allerdings eine Ordnungswidrigkeit und wird mit einer Geldbuße bestraft. Ein Obdachloser kommt auf dem Gehsteig vorbeigeschlurft, ruft etwas zu uns hoch und schon fĂ€ngt Ford eine Unterhaltung mit ihm an. Ist das schon die Weihnachtsstimmung, die sich langsam breit macht und sich zusĂ€tzlich durch immer mehr auftauchende bunte Lichtchen bemerkbar macht? Oder ist es einfach San Francisco und die Menschen sind schlicht und ergreifend herzlich zueinander? Ich fĂŒhle mich erneut wie in einem Film, den ich irgendwie schon kenne, trotzdem aber noch nie gesehen habe. Es ist Klischee, es ist genial.
Joshua und Fantastic Mr. Fox, der ĂŒbrigens schon sechs Jahre eingesessen hat, schlafen kurz darauf wie Babys auf dem Sofa. Weil sich Joshua und Keegan fĂŒr die Nacht ein Sofa teilen mĂŒssen, sitzt Joshua seitlich auf der Couch und umklammert tiefenentspannt ein Kissen. Da wie gesagt der Besitzer vorbeikommen könnte, mĂŒssen Keegan und die beiden MĂŒden um halb acht in der FrĂŒhe die Wohnung verlassen. Ich verabschiede mich gegen vier Uhr von ihnen. Was fĂŒr ein toller Abend: Thanksgiving fand im Globetrotters Inn bereits heute statt! Bevor er sich schlafen legt, bedankt sich Keegan bei mir fĂŒr alles.
»WofĂŒr?«, wundere ich mich. Sie mĂŒssen sich bei Ford bedanken, nicht bei mir. Ich hoffe, dass ich die drei wiedersehe. Auf jeden Fall wĂŒnsche ich ihnen alles Gute. Mögen sie alle ihre Lay Points irgendwann irgendwo finden.

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