Tag 14: Ever Fallen in Love with a City You Shouldn’t Have Fallen in Love with?
Serendipity – Teil 1

Freitag, 23. November 2012
San Francisco
Ich spaziere in Richtung Golden Gate Park. Mein Tagesziel lautet: Sonnenuntergang an San Franciscos Westseite. In der Market Street hat jemand kleine Tische und StĂĽhle auf dem Bordstein aufgestellt. Hier wird Schach gespielt. Schaulustige Passanten wie ich bleiben neben den Spielenden stehen und checken, wer denn wohl die besseren ZĂĽge fabriziert hat.
Ich biege in die Haight Street ab und schaue mir die komplette StraĂźe erstmals bei Tageslicht an. Eine Graffitiwand ist mit wirklich tollen Bildern besprayt worden. Selbst auf den BĂĽrgersteig haben die KĂĽnstler kleine Fische gemalt. Dort, wo die Wand um eine Ecke fĂĽhrt, hat man eine den Graffitis wĂĽrdige kleine Comicstatue errichtet.
Die bunten Häuser in der Haight Street sind schön und erinnern an Häuser, wie ich sie aus Filmen, die in New York spielen, kenne. Die Eingangstüren befinden sich im ersten Stock. Kleine Treppen führen zu ihnen hinauf. Über den Türen sind niedliche Stuckvorbauten auf verzierten, dünnen Säulen. Jeder markierte Parkplatz hat seine eigene Parkuhr und der Waschsalon heißt »Haight to Wash«. Ich komme wieder an der Buena Vista Avenue East vorbei und will gerade ignorant am kleinen Buena Vista Park vorbeimarschieren, als ich mir denke: »Der Park wird nicht umsonst Buena Vista heißen.«
Also steige ich die Treppen zum Park hinauf und finde mich sogleich in einem Wäldchen wieder. So schnell geht das hier: eben noch in der Stadt und unmittelbar darauf im Wald. Nach einem bergauf führenden Weg von knapp fünf Minuten erreiche ich eine Parkbank. Die Bäume befinden sich nun unter mir und mir offenbart sich ein unfassbar guter Blick über die Stadt und auf die Golden Gate Bridge, eingerahmt von den Bäumen unter mir und den Stämmen und Ästen neben und über mir. Der Himmel ist wolkenfrei und die Sonne scheint auf die Hügel jenseits der Brücke. Weiter vorne sticht die St. Ignatius Church mit ihren weißgoldenen Türmen und der dunklen Kuppel aus dem Häusermeer hervor. Ich bleibe sitzen und genieße. Ich glaube, ich habe einen neuen Lieblingsplatz in dieser genialen Stadt gefunden.
Es geht sogar noch eine Etage höher im Buena Vista Park. Hier oben bin ich aber nicht alleine und der Ausblick ist nicht so wunderschön und idyllisch wie von der Parkbank aus.

Weiter geht’s zum Golden Gate Park. In einem eigens für sie abgesperrten Straßenbereich am Eingang des Parks verbessern Skater und Biker ihre artistischen skills. Ein Mann liegt schlafend auf der Wiese und hält eine Hundeleine fest im Griff. Auf der anderen Seite der Leine bellt sich der kleine Köter die Seele aus dem Leib. Sein Herrchen schläft tief und fest weiter. Ich passiere das Eingangsportal zum Park und sehe endlich mal Punks. Seltsamerweise ist mir in San Francisco bis dato noch kein einziger Irokese begegnet. Bis auf Ford wohlgemerkt, aber der hat mit Punk nichts am Hut. Überall in der Stadt – und logischerweise erst recht hier – liegt der Duft von Marihuana in der Luft. Die Leute trinken ihr Bier in der Öffentlichkeit und für die Polizeiwagen, die hier und da parken, interessiert sich keine Sau. Keine 20 Meter von einem Streifenwagen entfernt will mir sogar jemand Gras verkaufen. Der Park ist riesig und zieht sich annähernd durch die halbe Stadt bis ans Pazifikufer. Große Wiesen mit ebenfalls großen Bäumen prägen das Bild. Wie schon am Strand von Santa Cruz versucht auch hier ein Mann mit einem Metalldetektor verlorene Schätze zu finden, während neben ihm eine Gruppe von Leuten Football spielt. Ich passiere die California Academy of Sciences, die unter anderem ein Planetarium, einen künstlichen Regenwald und einen großen Aquatikbereich beherbergt. Beethovens Büste steht auf einem Steinsockel und gegenüber der Academy befindet sich das sehr interessant aussehende und nach dem Zeitungsverleger M. H. de Young benannte M. H. de Young Memorial Museum, ein dunkelbrauner großer Stahlbau mit spitzen Winkeln und einem ausufernden Überbau, unter dem ein Café seine Tische aufgestellt hat.
Zwischen den Gebäuden befindet sich eine Mischung aus Brandenburger Tor und Amphitheater mit grünen Parkbänken und Bäumen. Ein Obdachloser hat sowohl seinen Einkaufswagen als auch sich neben die Bänke geparkt und schläft. Ich wundere mich, weshalb er sich nicht auf eine der unzähligen Bänke gelegt hat.
Hinter dem »Brandenburger Tor« verkaufen einige Imbissbuden Leckereien. Ich ordere einen veganen Hotdog bei Annie’s Hot Dogs. Laut eigener Werbung wurden Annie’s Hot Dogs zum besten Hotdog gewählt. Wer da gewählt hat, weiß ich allerdings nicht. Der Hotdog ist allerdings lecker! In unmittelbarer Nähe stoße ich auf den Japanese Tea Garden, für den man leider Eintritt zahlen muss. Angeblich wurde von Makato Hagiwara, einem japanischen Gärtner, der von 1895 bis 1942 der offizielle Verwalter des Teegartens war, der Glückskeks erfunden. Ich gehe weiter in Richtung Westen und bemerke viel zu spät, dass ich quer über einen Discgolfplatz schlendere. Die Jungs, die wegen mir ihre Frisbees nicht in Richtung Korb werfen können, bleiben aber vollkommen relaxt und lachen, als sie sehen, dass ich bemerke, was ich gerade falsch mache. Auf einem idyllischen See mit flachem Ufer schwimmen die Entlein und auf der Wiese dahinter grast ein Dutzend Büffel. Sachen gibt’s …
Ich nähere mich dem Pazifik und staune über zwei holländische Windmühlen, die den Park an seinem Westende begrenzen. Jetzt noch über den Great Highway und schon bin ich am Strand. Und der ist – wie sollte es in San Francisco auch anders sein – toll! Ewig lang zieht sich der Ocean Beach von Nord nach Süd und auch die Breite des Strandes ist für einen Stadtstrand beeindruckend. Ich frage mich, wie viele Tausende von Menschen diesen Strand im Sommer füllen können. Mein Timing ist optimal: Die Sonne macht sich auf den Weg, sich bis morgen zu verabschieden. Ich finde es ja selbst langsam beängstigend, aber … dieser Sonnenuntergang ist großartig! Alles hier ist so großartig! Die Wellen überschlagen sich und die Sonne färbt das Wasser und den Himmel in bunteste Farben, während im Hintergrund riesige Ozeandampfer die Bay verlassen und aufs offene Meer schippern. Das ist episch!
Als die Sonne untergegangen ist, entzünden die Menschen Lagerfeuer, packen ihr mitgebrachtes Bier aus und grillen ihr Essen. Die Feuer und die Lichter der Stadt sind nun das Einzige, was die Dunkelheit erhellt. So einen Sonnenuntergang könnte ich mir täglich geben …
Ich laufe den Geary Boulevard entlang. Es ist ein weiter Weg zurück nach Downtown: über neun Kilometer. Die stecken mir vom Hinweg schon in den Knochen und machen sich langsam bemerkbar. Daher steige ich irgendwann in den Bus, um die Strecke etwas zu verkürzen. In Japantown, welche sich von der Fillmore Street im Osten bis zur Laguna Street im Westen und von der Sutter Street im Norden bis zur Geary Street im Süden über sechs Blocks erstreckt, verlasse ich den Bus wieder. Die kleine Japantown ist bis auf den Peace Square, der eigentlich nur ein Teil der Buchanan Street ist und auf dem die Peace Pagoda steht, eine überdachte Mall. Am Eingang wird man von einem merkwürdigen Warnhinweisschild begrüßt: »Warning! This area contains a chemical known to the State of California to cause cancer.«
In der Mall respektive Japantown werden allerlei japanische Köstlichkeiten angeboten. Mein persönliches Highlight ist der komplett in Pink gehaltene Dessousshop Shibuya SF. Auf dem sehr schön gestalteten Peace Square steht neben der Pagode auch ein Denkmal, das an die Geschichte der japanischen Einwanderer und deren Beitrag zur amerikanischen Kultur erinnert.
Wieder in Downtown gehe ich zunächst ins Hostel. Ford hat mir seinen Schlüssel mitgegeben. Ich schnappe mir meinen Computer und gehe zu Starbucks. Ich bestelle mir einen Coffee und stelle fest, dass ich meinen Adapter nicht mitgenommen habe, mein Akku aber nur noch für 20 Minuten reicht. Na, super. Meinen Refill – der muss trotzdem sein – möchte ich draußen genießen, um die Atmosphäre der Stadt weiter aufzusaugen.
Ich komme aber nicht weit, weil mich ein Mann anquatscht, der wie der obdachlose Weihnachtsmann aussieht. Er sitzt an einem der Tische, hält einen Starbucksbecher in der einen und eine Zigarette in der anderen Hand. Er braucht Feuer und ich brauche einen Stuhl. Da der zweite Stuhl an seinem Tisch der einzig noch freie ist, frage ich ihn, ob ich mich zu ihm setzen darf. Das findet er offensichtlich total klasse und bietet mir euphorisch den zweiten Stuhl an. Harvey ist tatsächlich ein lieber alter Weihnachtsmann. Er nennt mich Dennis the Menace und erzählt mir Geschichten aus seiner Jugend sowie die eher derbe Geschichte eines dreimonatigem Krankenhausaufenthalts, in der es – ich muss hier nicht ins Detail gehen – um eine nicht rechtzeitig erreichte Toilette geht. Als ich mich von ihm verabschiede, entsendet er über meine Kamera weihnachtliche Grüße nach Europa: »Happy Halloween! Happy Thanksgiving! Ho-ho-ho-ho-ho-ho! Merry, merry Christmas! Happy New Year! A happy lifetime! Thank you very much, Dennis the Menace.«
Ich sitze bei offenem Fenster in Fords Zimmer, als ich ihn auf der Straße rufen höre: »Honey, I’m home!«
Da ich seine Schlüssel habe, kann er nicht hinein. Also öffne ich ihm die Haustür: »How was your day, sweetheart? Did you already have dinner?«
Ford ist ein bisschen müde, weshalb ausnahmsweise mal ich und nicht er am Dauerquasseln bin. Wir wollen wieder in Fords Lieblingsbar, die Oz Lounge. Auf dem Weg dorthin erzähle ich ihm von meinem Tag und dass ich ernsthaft mal mit dem Gedanken spielen sollte, nach San Francisco auszuwandern.
»That would be amazing!«, antwortet er.
Wow, ich glaube, Ford und ich könnten richtig, aber so richtig gute Freunde werden.
»Ford, why are you such a nice, good and sympathetic guy?«, frage ich ihn. Andere würden wahrscheinlich verlegen reagieren oder keine Antwort wissen. Ford ist da anders und antwortet wie aus der Pistole geschossen: »Good family, I guess.«
Ford bekommt auf einmal die Idee, dass ich Weihnachten mit seiner Familie in Chicago feiern könnte. Was, was, was?!
»Yeah! Come to Chicago! My flight is on December 15th.«
Das klingt schon geil. Weihnachten bei einer amerikanischen Familie im verschneiten Chicago … Ich schaue mal, ob es bezahlbare Flüge gibt – was ich zur Weihnachtszeit allerdings stark bezweifle. Schließlich muss ich auch wieder zurück an die Westküste.
Vor der Oz Lounge unterhalte ich mich mit dem heute dann doch auch hier ID-kontrollierenden Türsteher. Matt ist ein ulkiger Bilderbuch-Ire mit Batschkapp und verlernten Deutschkenntnissen. Das hält ihn aber nicht davon ab, hier und da mal einen kleinen deutschen Satz einfließen zu lassen. Für einen Türsteher ist er auch erstaunlich kommunikationsfreudig. Es ist fast schon schwierig, nicht den halben Abend in der Tür zu verbringen, neuen und rauchenden Gästen im Weg zu stehen und dabei dem Rotschopf zuzuhören. Da er sämtliche IDs prüft, kennt er das Alter sämtlicher Gäste. Verlässt beispielsweise ein hübsches Mädel die Lounge und hat genügend Abstand zu uns, stöhnt er plötzlich: »Damn, she’s so hot … and so young! 1990.«
Irgendwann kreuzt ein Trio auf, das seine amerikanische Volljährigkeit beweisen muss. Als einer der dreien dem Türsteher seine ID vor die Nase hält, ändert sich etwas im Gesicht des Türwächters. Er schaut dem sympathisch wirkenden Gast ins Gesicht, blickt dann zu mir rüber und sagt: »I’m doing this job for quite a long time. I’ve seen thousands of IDs, but this is in the top three!«
Er zeigt mir den Ausweis des blonden Kerls und ich kann nicht mehr vor Lachen. Wie um alles in der Welt hat der Typ es fertiggebracht, dass eine Behörde solch ein Foto akzeptiert? Jeder Cop muss sich verarscht fühlen, wenn er solch ein Foto vorgelegt bekommt. Ich frage ihn, wie oft er wegen seines Fotos, auf dem er sich seinen Zopf mit einer Hand nach oben reißt und eine sagenhaft dämliche Grimasse zieht, schon doppelt auf Drogen durchsucht wurde oder anderweitig Stress hatte. Es hält sich die Waage, antwortet er. Manchmal bringt er mit seinem Ausweis die Leute zum Lachen und hat sogar weniger Ärger.
Ford und ich haben Hunger und besuchen den genau gegenüberliegenden griechisch oder türkisch wirkenden Gyrosladen mit dem irritierenden Namen California Golden Cookies. Wie sich herausstellt, verkauft man hier neben Wraps mit Gyros und großer vegetarischer und veganer Auswahl auch Süßigkeiten wie eben Cookies oder Baklava. Die Betreiber des Ladens sind wahnsinnig freundlich, und wie man das an der West Coast eben so macht, unterhält man sich auch über andere Dinge als nur über die Bestellung. Die Jungs kommen aus dem Iran und wollen meine Geschichte hören. Also erzähle ich ihnen, wie ich hier reise. Man empfiehlt mir den Avocado Wrap mit Tahini Soße für 7,95 Dollar. Den isst der eine Iraner am liebsten. Ich finde den Wrap auch richtig lecker.
Auf dem Weg zurück ins Hostel erzählt mir Ford, wie sehr er sein Zuhause liebt. Sein Zimmer würde er gerne für immer behalten. Alleine die Lage ist schon perfekt sowie auch die Atmosphäre mit den Mitbewohnern. Ford betont auch immer wieder, wie sehr er Brandi und Jessy liebt.
Im ehemaligen Hostel angekommen, treffen wir in der Küche auf Erika, Jessy, Augie und einen Typen mit riesigen Ohrlöchern, der sich offensichtlich erst kürzlich seine Tubes hat rausnehmen lassen. Boah, sieht das scheiße aus. Erika, die übrigens Chinesin ist und erst seit vier oder fünf Jahren in den Staaten lebt, gibt sich derweil mit abermals von Jessy spendiertem Wein in Rekordschnelle die Kante. Als Ford und ich die Küche für fünf Minuten verlassen, bekommt sie offenbar einen Nervenzusammenbruch und Ford soll ihr helfen. Der sieht das aber verständlicherweise so überhaupt nicht ein – »She fucked another guy!« – und überlässt Jessy das Trösten. Die Party ist auf jeden Fall zu Ende …