Tag 16: The Fordmidable

Serendipity – Teil 1

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Sonntag, 25. November 2012
San Francisco

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Ich verbringe den Tag vor meinem Notebook, da ich mit dem Schreiben bereits jetzt schon nicht mehr nachkomme und weil ich schauen muss, ob sich die Hippies, die mich in Richtung Norden bringen wollen, gemeldet haben. Haben sie nicht. Ford arbeitet wieder und Sal scheint nur mäßig glücklich darüber zu sein, dass ich wieder hier bin, fürchte ich. Ich bekomme Hunger und checke über das hin und wieder verfügbare Internet, ob es vegetarisch/vegane Restaurants in der näheren Umgebung gibt. Es gibt sie! Ich gehe ins Golden Era Vegetarian Restaurant in der 572 O’Farrell Street. Das asiatische Restaurant ist relativ groß und hat eine durchaus interessante Speisekarte. Ich bestelle mir den etwas merkwürdig klingenden Ocean of Love mit Soy Shrimp. Ich finde es ehrlich gesagt etwas schräg, dass das Zeug wie Shrimp aussieht. Die Optik brauche ich persönlich nicht. Ich habe nach Shrimp aussehenden Soy Shrimp auch noch nie gegessen. Die Premiere heute macht mich auch nicht zum größten Fan. Es schmeckt gut und die Konsistenz ist durchaus interessant. Die Optik des Ganzen schreckt mich beim Essen dennoch leicht ab.
An meinem Nachbartisch sitzt ein noch gar nicht einmal so alt wirkender, dennoch weißhaariger Turbanhippie. Einige Tische weiter, am anderen Ende des Restaurants, beenden Zwei gerade ihr Essen. Beim Verlassen des Restaurants geht der Eine auf den Turbanhippie zu und lässt ihn wissen, dass er einer seiner Fans sei. Oha. Interessant. Diniere ich also neben einem Promi? Der Turbanhippie reagiert weder sonderlich überrascht noch übertrieben erfreut. Er drückt seine Handflächen zusammen und bedankt sich mit einem kurzen Kopfnicken im Asian Style. Ich habe leider noch immer keine Ahnung, wer der Typ ist.
An der Kreuzung O’Farrell und Jones werde ich Zeuge eines Telefonats. Vom Inhalt des Gesprächs bekomme ich aber nichts mit. Mich fasziniert vielmehr die Optik dessen, was sich vor mir abspielt: Eine gut und gerne 50-jährige schwarze Dragqueen steht in ihrem Schlafanzug und Bademantel vor mir. Über der Schulter hängt lässig ein ziemlich großer Kulturbeutel und in ihrer Hand hält sie ein grünes Handy. Stylish.
Nachdem Ford von der Arbeit aufgetaucht ist, gehen wir mal wieder spazieren. Ich frage ihn, ob er diese Spaziergänge regelmäßig macht oder nur weil ich derzeit sein Gast bin. Er macht sie täglich. Die ersten Wochen nach seiner Ankunft in San Francisco hat er nur Party gemacht, jetzt spaziert er lieber umher. Das ist preiswerter und Spaß macht’s auch. Recht hat er: Ich liebe diese Spaziergänge mit Ford durch das dunkle San Francisco! Langweilig war noch kein einziger.
Da heute Sonntag ist, müsste laut Ford im Golden Gate Park ein drum circle sein. Wir laufen in Richtung des Parks, als ein Asiate wenige Meter vor uns viel zu überladen eine Tür öffnet. Mit einem Fuß hält er die Tür offen, während er sich vorn überlehnt und noch mehr Zeug aus dem Haus auf die Straße zieht. Als ich mir gerade: »Arme Sau«, denke, spricht es aus Ford: »Do you need help?«
»No, no. Thank you«, antwortet der Überfrachtete in gebrochenem Englisch.
»Come on. That’s way too much stuff.«
»I just have to bring it to the next block.«
»But you can’t carry all of it. Do you want to leave your stuff here?«
Der Asiate schaut sich um. Zunächst schaut er auf seine Kisten, dann die Straße hinunter und schließlich in Fords Gesicht. Das ist Aufforderung genug für Ford und schon bückt er sich nach der ersten Kiste. Dem Asiaten ist es sichtlich unangenehm. Ich glaube, er ist sich noch nicht sicher, ob er gerade ausgeraubt oder ihm tatsächlich geholfen wird. Ich versuche das Eis zu brechen und erzähle ihm, dass ich aus Deutschland komme. Er kommt aus China. Dann macht er eine Pause und auf einmal fällt die ganze Anspannung von ihm ab. Er strahlt plötzlich und lächelt Ford und mich an: »This would never happen in China.«
Er erzählt uns noch, dass wir Babynahrung tragen und er mit seiner Frau und dem Kind seit wenigen Monaten in San Francisco lebt. Und schon sind wir bei ihm vor der Haustür angekommen.
Als wir wieder unter uns sind, offenbart mir Ford, dass er, wegen der fiesen Mitschüler, auch auf den Namen Henry und, wegen der Eltern, ebenso auf seinen Zweitnamen Odin hört. Außer coolen Zweit- und Spitznamen hat Ford einen Modestil, der keiner ist … und dann irgendwie doch wieder. Sobald er sich seiner Jobuniform entledigt hat, trägt er entweder eine blaue spät-90er Glanztrainingsanzugshose oder kurze Hosen – Wetter egal. Gleiches gilt für seine Sandalen, die er stets in Kombination mit weißen Socken trägt. An den Oberteilen ist nichts auszusetzen: Entweder trägt er ein hellblaues Hemd oder ein schwarzes T-Shirt. Darüber kommt dann entweder eine schwarze Weste oder so eine komische nach 80er Jahren aussehende, aber vermutlich viel modernere dunkelblaue Strickjacke. Sieht gemütlich aus und meine Schwester hätte die früher bestimmt auch getragen, höhö. Auf den Deckel kommt dann entweder eine coole Basecap der Chicago Bears oder ein nach »Deppsche mit ’m Käppsche« aussehender Fischerhut. Die Bears-Kappe kommt, so scheint es mir, speziell oder gar ausschließlich an match days auf die Birne. Wenn Ford in die Oz Lounge will, läuft dort auch stets Football – aber hier läuft sowieso immer Football oder Basketball im Fernsehen. Mein Mann aus Chicago sagt auch, dass er zum Football gucken in die Oz Lounge will. Ich sehe ihn dann nur nie zuschauen, weil er ständig mit irgendwem quatscht.

Apropos Quatschen: Ein total breiter Afroamerikaner, der mit einer Tüte in der Hand an einer Hauswand lehnt, kreuzt unseren Weg. Ford drückt dem vollkommen Zugedröhnten direkt mal eine Kassette. Der Kollege ist so breit, dass er sich gegen nichts und niemanden wehren kann. Und wenn Ford erst mal in Fahrt ist, stoppt ihn niemand so schnell. Ford erzählt, stellt Fragen und der Breite lehnt maßlos überfordert an der Backsteinwand. Seine Antworten sind extrem lakonisch und der Film, den er momentan fährt, ist zu schnell für ihn. Irgendwann hat Ford ihm genug mitgeteilt und wir ziehen weiter.
»This is San Francisco. People are so nice here. That was a nice guy!«, resümiert mein Kumpel, während ich ob der ulkigen Analyse zunächst in mich hineinlache und dann wegen eines anderen Gedankens fett zu grinsen beginne.
»Why are you laughing? What is it?«, fragt mich Ford.
»Did you see ›Dogma‹?«
Ich erkläre Ford, dass ich mir auf dieser Reise ständig wie in diversen Filmen vorkomme. Ich erkenne so viele Situationen, Menschen und Bilder aus den unzähligen Filmen, die ich mir in meinem Leben angesehen habe hier in San Francisco wieder. Einen Film erlebe ich seit gestern bereits zum vierten Mal! Als wir der besoffenen Shannon geholfen haben oder als Ford die Retter der potenziellen Vergewaltigungsopfer in ihrer Zivilcourage bestärkt hat. Vorhin, als wir dem Chinesen unter die Arme gegriffen haben, und jetzt schon wieder. Abgesehen vom Babynahrungsfall ist die Situation immer die gleiche: Der lange Ford bequatscht in seinen lustig schlaksigen Klamotten die Leute und ich stehe – ruhig und ein paar Zentimeter weiter unten – in meinem schwarzen Mantel und meinem prächtig gedeihenden Vollbart nebendran, kichere zwischendurch mal oder sage ein, zwei Worte. In Kevin Smiths »Dogma« gibt es zwei Charaktere, die uns – je mehr ich darüber nachdenke und je länger mein Bart wird – mehr und mehr sogar äußerlich recht nahe kommen. Die beiden Helden heißen Jay und Silent Bob. In »Dogma« sind sie – ohne es zu wissen – Propheten, die, quasi im »Blues Brothers«-Style, im Auftrag des Herrn unterwegs sind.
»You look much more like Jay«, spielt Ford auf meine blonde Mähne an.
Whatever. Auf jeden Fall frage ich mich, ob Ford nachtnächtlich Erlebnisse dieser Art hat und ständig Leuten aus der Patsche hilft, ohne irgendeine Spur zu hinterlassen: »Are you San Francisco’s unknown superhero?«
»I need a name.«

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Wir laufen am Buena Vista Park vorbei. Als ich vorgestern durch den Park gelaufen bin, habe ich ihn nicht wieder auf der Haight Street verlassen. Diesmal bleiben Ford und ich auf der Haight Street und ich verstehe endlich, weswegen die Haight Street eine so beliebte Straße ist. Jenseits des Buena Vista Park ist die Haight Street belebt. Es gibt Bars, coole Shops und heute Nacht zudem noch musizierende Freebies. Es sitzen drei Personen vor uns. Die zwei Typen machen Musik – und das gut –, während das Mädel dazwischen sitzt. Wir stellen uns daneben, hören zu und applaudieren, als sie fertig sind. Wir kommen ins Gespräch und verquatschen uns ein wenig. Auf jeden Fall dürfte es nun für den Drum Circle zu spät sein.
Ford will mir irgendeinen coolen Shop zeigen. So ganz habe ich das nicht kapiert und da so manche wichtige Info bei Ford gerne mal überfallartig daherkommt, bekomme ich nicht immer alles mit. Und ständig nachfragen, will ich dann auch nicht. Wir gehen in einen gewöhnlichen Convenience Store, also eine Art Spätkiosk. Ford quatscht mit dem Verkäufer und fragt ihn, ob er mir den Laden zeigen darf.
»Sure«, antwortet der Verkäufer und schon führt mich Ford durch einen kleinen Flur in den Nachbarladen, einen Rauchbedarfsshop. Ford scheint den Verkäufer zu kennen. Wie gut oder flüchtig lässt sich nicht erschließen. Er heißt Art und scheint in seinem Leben genügend konsumiert zu haben. Zumindest sieht er mit seinen langen, strähnigen Haaren, den tiefen Falten und dem Hut so aus. Außerdem nuschelt er recht leise vor sich hin. Später erzählt er uns auch, dass er seit über 40 Jahren bereits Meth konsumiert.
»Really? You don’t have any holes in your face!«
Charmant, Ford. Charmant. Der alte Mann schaut Ford irritiert an: »Why am I supposed to have holes in my face?«
Auf dieses Thema sind wir übrigens gekommen, weil seit einigen Minuten eine ziemlich mies gelaunte Drogensüchtige vor der geschlossenen Tür herummeckert: »Open the fucking store!«
»I’m closed!«
»Open the fucking store!«
»Do you have money?«
»I do have money, you motherfucker!«
»Show me!«
»I don’t trust you! Give me a pipe and I’ll show you my fucking money!«
»I want to see the money first!«
Die Cracklady führt die Unterhaltung übrigens abwechselnd im Stehen oder auf Knien brüllend durch den nur gute 20 Zentimeter über dem Boden angebrachten Briefschlitz: »I need a pipe! A fucking pipe! You give me the pipe and I will give you the fucking money after it!«
»I want the money first.«
»I don’t fucking trust you!«, brüllt sie, steht wieder auf, geht vor dem Laden im Kreis und meckert weiter vor sich hin. Dann kommt sie wieder, schlägt gegen die Tür, bückt sich, hebt das Metallstück des Briefschlitzes und wiederholt ihre Forderung. Irgendwann schmeißt sie etwas durch den Schlitz. Ich kontrolliere … Es ist Müll. Das Spiel geht noch einige Zeit so weiter und irgendwann bekommt sie überraschenderweise tatsächlich ihre Pfeife. Ob sie dafür letztlich bezahlt hat, bekomme ich nicht mit.
Wieder auf der Straße bieten ein paar Obdachlose Ford erstaunlich viel Gras für zwei Zigaretten an. Die Obdachlosen in San Francisco überraschen einen des Öfteren mit Deals, die sich für sie in keiner Weise lohnen. Mehrfach wurde uns bereits ein Dollar für eine einzige Zigarette angeboten. Sehr strange. Wir spazieren durch die Nacht, als wie aus dem Nichts ein rosa Bus um die Ecke biegt. Rauchschwaden und laute Musik dringen durch die geöffneten Fenster auf die Straße. In dem Bus tanzen und feiern mehr als ein Dutzend Leute. Wir sind überrascht und winken dem Bus deswegen zu. Ford sabbert auf sein AC/DC-Hemd und ich drücke den Stoff meines Metallica-Shirts unruhig von einer in die andere Hand: »Höhö. Hö. Höhö. Hö.«
Der Fahrer stoppt den Partybus und ruft: »Jump in!«
Das muss er uns nicht zweimal sagen. Butt-Head und ich schauen uns an: »Höhö, cool.«
Sekunden später stehen wir im rosa Partybus. Die Hives dröhnen aus den Boxen.
»Welcome back!«, wird Ford strahlend an der Tür begrüßt. Er schaut das Mädel fragend an und entgegnet: »I’ve never been here.«
»Yes, you have«, nickt sie überzeugt und legt fast schon mitleidig ihre Stirn in Falten. »Like two or three times already.«
»Holy shit«, lacht Ford. Die Lady will Eintrittsgeld von uns. Hm, wie viel denn? Ford ist bereits klamm.
»Ten dollars each.«
»Come on …«
»Okay, five.«
Ford schüttelt noch immer den Kopf, wohingegen ich mir denke, dass ich meinem »fordmidablen« Freund auch mal was zurückgeben kann. Also bleche ich die zehn Öcken und schon wird gefeiert. Die Sitze im Bus wurden gegen zwei wesentlich kommunikativer angebrachte Bänke ausgetauscht, es gibt einen Stehtisch und natürlich den Tanzbereich. Allzu weit gucken kann man wegen des vielen Tabak- und Marihuanarauchs nicht. Das Licht leuchtet rot und ich frage mich, wie lange es wohl dauert, bis sich die Polizei denkt: »Den Bus halten wir besser mal an …«
Die scheint der rosa Partybus aber in keiner Weise zu interessieren. An einer Ampel halten wir sogar neben den Cops. Die schauen zu uns hoch und dann wieder auf die Ampel. Als ebendiese auf Grün schaltet, fahren sie los und lassen uns weiterhin feiern, kiffen, saufen und tanzen. Wir cruisen quer durch die City und haben unseren Spaß. Das ist speziell! Irgendwann ist dann aber auch leider dieser Spaß vorbei und der Partybus beendet die Fahrt – irgendwo. Ich glaube, wir sind mit dem Taxi nach Hause gefahren – oder zu Fuß? Auf jeden Fall kann ich nun nachvollziehen, weshalb Ford sich an seine erste Fahrt im rosa Partybus offensichtlich nicht mehr erinnern kann …

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