Tag 18: Fords Leber, Rains Sailor Dinner und Oaklands Bordello

Serendipity – Teil 1

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Dienstag, 27. November 2012
San Francisco – Oakland

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Die Feuerwehr weckt uns um halb drei – nachmittags. Mit einem riesigen Getöse kommt das SFFD angerückt. Ähm, wohin wollen die denn? Ford und ich schauen aus dem Fenster. Oha, die parken genau vor dem Globetrotters Inn! Mit mehr als fünf Löschfahrzeugen und mehreren kleineren Wagen rückt die Feuerwehr an. Allerdings rennen sie ins auf der anderen Straßenseite gelegene Hilton. Gut, bei uns brennt’s also nicht. Wir hören die Feuerwehrleute vor unserem Fenster reden. Außerdem kommt noch eine Durchsage: »This is just an emergency exercise.«
Na, dann ist ja alles gut.
Wir lassen den Tag ruhig angehen und schlendern gegen 17 Uhr durch die Downtown in Richtung Oz Lounge. Der Weihnachtsschmuck in den Straßen nimmt täglich zu. Vor der Oz Lounge liegt Ozzy, der süße Kneipenköter.

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Er bekommt eine Streicheleinheit, während der ich bemerke, dass ich ganz schön hungrig bin. Eine Bäckerei wäre mal was Feines. Einfach nur ein Baguette oder etwas ähnlich Preiswertes. Ford meint, dass es um die Ecke eine French bakery gäbe. Das klingt doch super! Ich mache mich auf den Weg, kann aber beim besten Willen keine Bäckerei finden und mich auch nicht erinnern, jemals eine Bäckerei in San Francisco gesehen zu haben. Also geht’s wieder zurück in die Oz Lounge, wo ich mir den vegetarischen Oz Burger bestelle.
Ford zerrt mich plötzlich zu einer jungen Frau. Ich soll mir anhören, was sie mir zu sagen hat und unterschreiben. Hä? Worum geht’s? Sie erklärt es mir: Sie arbeitet für MOGL, eine neue Organisation, die mich für meinen Alkohol- und Burgerkonsum in ausgewählten Lokalitäten wie beispielsweise der Oz Lounge belohnt. Das heißt: Wenn ich in der Oz Lounge trinke und am Ende des Abends mit meiner VISA-Karte zahle, bekomme ich einen gewissen Prozentsatz gutgeschrieben. Sobald ich zehn Dollar im Monat überschreite, bekomme ich Geld zurück. Sollte ich es in der Oz Lounge zudem unter die drei MOGL-Top-Konsumenten des Monats schaffen, bekomme ich fünf, zehn oder 25 Dollar geschenkt. Der Spaß kostet nichts und bisher macht kaum jemand mit. Na, dann mache ich das doch. Ford ist bereits ein Fan, weil er mal 30 Dollar zurückbekommen hat, ohne damit zu rechnen. Rock und Roll!
Apropos Rock und Roll: In der Oz Lounge ist – wie jeden Abend – Livemusik. Heute singt die dicke Frau: Emily Hayes. Sie wird von einer Jazzband begleitet. Egal, an welchem Abend man in die Oz Lounge geht: Der Gitarrist ist immer derselbe. Verrückt.
Ford weiß, dass ich nach Norden will und daher ziemlich sauer darüber bin, dass mein Rideshare nicht aufgekreuzt ist. Also bietet er mir an, ein Auto zu mieten und mich bis nach Portland zu fahren. Ich lehne umgehend ab: »You’ve done more than enough for me!«
»You can get parts of my liver, if you need …«
Ich bin ob der angebotenen Organspende gerührt, lehne aber dennoch weiterhin sein Angebot ab.
Ich muss heute das Globetrotter Inn verlassen. Ford will aber noch nicht, dass ich abhaue und ich würde auch liebend gerne mehr Zeit mit ihm verbringen. Also schlägt er vor, dass wir gemeinsam nach Oakland ziehen. Aha? Oakland ist in der East Bay, also genau gegenüber von San Francisco, auf der anderen Seite der Bucht. Ford hat eine Freundin, die dort lebt und bei der wir unterkommen können. Na, dann machen wir das doch!
Ford, ich und drei knapp 50-jährige Afroamerikaner, die Ford aus der Oz Lounge kennt und mit denen wir ein Bierchen getrunken haben, fahren mit dem BART in die 12th Street in Oakland. Der Zug fährt unter dem Wasser der Bucht auf die Ostseite der Bay. Als wir durch den Tunnel fahren, lehnt sich Ford zurück, schließt die Augen und sagt: »Say: ›Hi‹, to all the dolphins and the sharks …«
Ford flirtet während der Fahrt ständig auf ironische Weise mit der einzigen Frau in unserer Runde. Cherry heißt sie, ist lustig und – speziell im oberen Bauchbereich – sehr rund. Mich findet sie offensichtlich putzig und fragt Ford ununterbrochen, ob sie mich behalten darf. Ich würde da auch gerne mitreden. Meine Stimme hat aber offenbar weniger Gewicht. Ich verstehe auch gar nicht, warum sie so verrückt nach mir ist. Ich finde mich heute gar nicht so unterhaltsam. Ford gibt mich nicht her, räumt Cherry und ihren Kollegen aber ein Wiedersehen ein: morgen im Revolution Cafe in West Oakland.
Ford erzählt Cherry ein weiteres Mal, wie toll und schön sie ist und kneift ihr in den Hintern. Das kommt nicht gut an und plötzlich mag Cherry Ford nicht mehr – wobei ich bis zum Schluss nicht so ganz herausfinden kann, ob sie ironisch übertreibt oder tatsächlich angepisst ist. Ich plädiere für Ironie.
Ford und ich laufen gute 25 Minuten die 12th Street entlang, bevor wir bei Fords Freundin Rain ankommen, die im Bordello wohnt. Bordello? Das wirft Fragen auf. Auf dem Weg dorthin erzählt mir Ford aber zunächst ein wenig von Oakland und von Rain: Oakland wird in spätestens zehn Jahren der neue In-Bezirk sein, meint er. Momentan besteht da aber noch ein großes Problem, das sich erst einmal ändern muss. Der große Unterschied zwischen San Francisco und Oakland liegt laut Ford nämlich im Zwischenmenschlichen: »In San Francisco, everybody loves each other. In Oakland … they hate each other.«
»Oh yeah, I can feel it«, antworte ich ironisch.
»Yeah, really?«
Ich grinse ihn an, er versteht. Der große Vorteil an Oakland, so Ford, ist jedoch, dass es hier wärmer ist. San Francisco ist auf drei Seiten von Wasser umgeben, das macht das Klima kühler.
Seine Freundin Rain, führt Ford weiter aus, ist eine polygame Lesbe, die sehr groß, maskulin und unglaublich lieb ist. Außerdem wird er ihr irgendwann seinen Samen zur Verfügung stellen, damit sie Kinder in die Welt setzen kann. Das ist nett.
Und wieso nennt er nun das Haus, in dem sie lebt »Bordello«?
Nun, das Bordello war tatsächlich einst ein Puff. In den 60er und 70er Jahren ging es wohl am heißesten her. Janis Joplin soll sogar zeitweise darin gewohnt haben. Heute finden hier nur noch Swingerpartys statt. Ford und ich waren letzte Woche gar dazu eingeladen worden. Oder so ähnlich … So ganz hatte ich das nie kapiert. Ford sprach ständig von einer Party und dann fielen immer wieder die Worte »Sex« und »Bordello«. Ich dachte, es handelt sich um einen Stripclub oder so. Egal. Ich wollte da nicht hin und Ford zum Glück auch nicht wirklich.
Jetzt kommen wir aber doch noch ins Bordello, in dem heute keine Huren mehr, sondern Rain und wohl auch andere Menschen leben. Ach, ich habe eigentlich einmal mehr absolut keinen Schimmer, wohin Ford mich entführt …

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Der Haupteingang ist geschlossen. Der Seiteneingang jedoch nicht. Wir finden uns in einem rot beleuchteten Raum wieder. Es ist ein sehr schöner Raum, in dem wie in einem kleinen Restaurant Tische und Stühle stehen, an denen ein paar ältere Herren mit Bärten sitzen. Eine niedliche Bar, ein DJ-Pult und eine kleine Bühne befinden sich ebenfalls hierin. Eine Etage höher befindet sich eine Empore. Die Decke des Raumes ist aus Glas. Stylisher Ex-Puff!
Rain ist in der Küche und kocht. Fords Beschreibung von Rain passt ganz gut: Sie sieht aus wie ein großer Junge mit kurzen Haaren und Basecap. Ohne Bartwuchs, dafür aber mit einem ordentlich gesegneten Brustumfang. Sie ist cool! Ford erzählt ihr, dass ich gestern oder vorgestern von ein paar Tree Huggern hätte abgeholt werden sollen und eigentlich auf meinem Weg nach Norden bin. Sie bietet mir an, einen Freund anzurufen, der morgen früh nach Seattle fährt. Vielleicht kann er mich mitnehmen. Das wäre gut!
Die mit Holz verkleidete Küche wirkt wie die Küche einer großen WG, in der eine Menge kitschiger Schnickschnack herumsteht. Auch hier ist die Architektur interessant: Die Küche hat etwas von einem Wintergarten. Ford erklärt mir, dass George, der Besitzer des Hauses, in den Jahrzenten das Haus immer wieder erweitert hat. Eine der Wände in der Küche war einst die Hauswand. Das Haus hat mehrere Wohnungen. Ich habe die Anzahl vergessen. 16? Es klang auf jeden Fall unglaubwürdig: So groß kann das Haus doch nicht sein. Außerdem gibt es neben der Küche, diversen Wintergärten, dem Wäscheraum, dem »Speisesaal«, dem Sexkerker für die Swingerpartys noch den Saloon samt Bar, Bühne und Tanzbereich. Hierbei handelt es sich um den tatsächlichen, originalen Saloon Oaklands, der 1870 eröffnet wurde. Obwohl nun nur noch für Partys geöffnet, beherbergt der Raum heute noch den originalen Tresen aus der Zeit, als der Westen noch wild war. Wobei ich mir hier manchmal nicht so sicher bin, ob die Bewohner der West Coast nicht nach wie vor ein bisschen verrückt sind. Whatever. George, ein 60- bis 65-jähriger Althippie benötigt Fords und meine Hilfe. Wir sollen ein Piano im Saloon hinter die Bühne tragen. Klar, kein Ding. Als wir am Herumrücken sind, erfahre ich, wofür wir den Buckel krumm machen: »Hollywood shows up tomorrow!«
Wie meinen?
Eric Roberts, seines Zeichens Meister der B-Movies und Bruder von Julia, wird ab morgen einen Film im Bordello drehen – drei Wochen lang! Hell, yeah! Ford und ich erkundigen uns sofort, ob wir einen Job bekommen könnten. Von der Crew ist aber noch niemand anwesend, weswegen die Frage unbeantwortet bleibt. George und ich bezweifeln jedoch, dass die Crew unvollständig anrücken wird. Trotzdem klingt das durchaus verheißungsvoll. Ich denke, ich werde Rains Angebot, mich von ihrem Kumpel nach Seattle mitnehmen zu lassen, nicht wahrnehmen – überlege aber doch noch. Schließlich habe ich schon genug Zeit in der Bay Area verbracht und sollte mal langsam weiterziehen.
Mit uns tragen einige der alten Männer aus dem rot beleuchteten Raum das Piano. Sie wollen wissen, wer wir sind und was wir machen. Ford sagt ihnen, dass ich ein großartiger Regisseur bin und meinen Film dabei habe. Der Oakland-Premiere von »Erinnerungen« steht also nichts mehr im Wege. Fast nichts, denn jetzt gibt es erst einmal Dinner.
Rain ist in der Küche verantwortlich dafür. Ich erfahre, dass sie jeden Dienstag ihr sogenanntes Sailor Dinner veranstaltet. Eingeladen sind alle (mittellosen) Seebären, die in Oakland (dauerhaft) vor Anker liegen. Gegen eine kleine Spende kocht die gute Rain für die bärtigen Männer, die allesamt jenseits der 60 sind. Das ist ja mal eine süße Aktion! Es gibt ein Vier-Gänge-Menü. Gerade wird die Käse-Tomatensuppe samt mit Käse überbackenem Toast fertig. Ford und ich servieren das Mahl.
Als Rain am Vormittag die Einkäufe für ihr Sailor Dinner erledigte, ist sie einem Straßenmusikerduo begegnet, das es ihr angetan hat: »You’ve got to perform at my Sailor Dinner!«
Die beiden tauchen tatsächlich auf und sorgen für richtig, richtig gute Gänsehautatmosphäre. Sie spielt Gitarre und singt mit engelsgleicher Stimme, während er die Violine streicht. Ein Dritter sorgt ab und an am DJ-Pult für zusätzliche Klänge. Die alten Seebären sind begeistert und lauschen gebannt dem melancholischen Indie-Folk von Foxtails Brigade. So manch einer ist sogar sichtlich gerührt.

Anmerkung:
Vielen Dank an Matthias Koch und Amanda aus Oakland, die mit gespitzten Ohren und Dank meisterhafter Detektivarbeit den Namen des Duos herausgefunden haben!

Es sind übrigens nicht nur ältere Männer, sondern auch Damen fortgeschrittenen Alters anwesend. Ich weiß nicht warum, aber bei Mamis komme ich immer ganz gut an. Nachdem das Pfeifchen die Runde gemacht hat – hier kifft wirklich jeder –, bekomme ich von der 53-jährigen Amy ihr Haus zum Wohnen angeboten. Sie haut demnächst für zwei, drei Wochen ab und würde sich wohler fühlen, wenn sie a) wüsste, dass jemand auf das Haus aufpasst und b) sie mich in Sicherheit wüsste. Süß! Ich lehne aber dankend ab: Ich muss nach Norden.
Annie ist nicht minder lustig und bietet mir ihre Tochter zum Heiraten an. Die Tochter ist Schauspielerin und sieht laut Mama ganz zauberhaft aus. Annie gibt mir ihre IMDb-Daten. Da kann ich mir meine potenzielle künftige Ehefrau anschauen. Wird gemacht.
Amy will sich mit mir fotografieren lassen. Der ihrer Meinung nach perfekte Hintergrund hierfür ist ein kitschig beleuchteter Miniaturleuchtturm in der Küche. Dann endlich folgt die Filmvorführung von »Erinnerungen«. Die Angebote werden von den Damen noch einmal unterstrichen und Seebär David bezeichnet sich nun als mein Fan. Das war also erfolgreich.
Die Seeleute ziehen nach und nach ab. Ich glaube, die Alten hatten einen richtig coolen Abend: ein Vier-Gänge-Menü, ein kostenloses Konzert und eine kleine Filmvorführung. Die sympathischen Leute hören gar nicht mehr auf, sich bei allen Beteiligten zu bedanken. Ich finde den Abend auch super und bedanke mich ebenfalls für die vielen lieben Worte, Töchter und Häuser.
Ford will mir mal wieder etwas zeigen. Ich folge ihm durch das Haus, welches das reinste Labyrinth ist. Jetzt kann ich mir auch vorstellen, dass Fords genannte Anzahl an Wohnungen im Bordello vielleicht doch realistisch ist. Er führt mich hinauf aufs flache Dach, wo bereits zwei andere Kollegen sitzen. Einer der beiden, Ryan, ist Rains Nachbar im Bordello. Vom Dach aus hat man einen netten Blick auf Oaklands gut zweieinhalb Kilometer westlich von uns gelegenes Zentrum. Außerdem ist heute Vollmond und Luna leuchtet hell auf uns herab. Es ist also recht gemütlich auf dem Dach des Bordello. Außerdem kann man von hier aus durch das gläserne Dach das Treiben im Rotlichtraum beobachten.

Es wird kühler. Wir quatschen noch ein wenig in der Küche, wo ich Dana kennenlerne, die ebenfalls im Haus lebt. Mit ihr kann man richtig gut über Filme, Musik und Kunst reden. Sie wirkt sehr schüchtern, hat aber einiges auf dem Kasten. Irgendwann kommt George und schmeißt uns aus der Küche. Er ist sichtlich nervös. Kein Wunder, wenn Hollywood zu einem nach Hause kommt.
Ford und ich teilen uns ein Ehebett im Obergeschoss von Rains sehr geiler, doppelstöckigen Wohnung. Hier unterm Dach ist der aufrechte Gang größtenteils unmöglich. Dafür haben wir eine hübsch hässliche Elektrokaminheizung: Steckt man den Stecker in die Dose, lodert es im kleinen Kamin. Der absolute Clou ist, dass es sogar tatsächlich warm wird. Verrückt.
Ich bin kurz vorm Einschlafen, als ich plötzlich Fords Hand in meinem Schritt spüre. Ich reiße meine Augen auf und drehe meinen Kopf zu ihm. Er macht mit verschlafenem Blick die gleiche Bewegung und sieht in mein überraschtes Gesicht. Ich mache eine Kopfbewegung in Richtung meines Schritts: »Äh …?«
Er schaut ebenfalls nach unten und bewegt kurz seine Hand. Er merkt, wo sie liegt, zieht sie sofort weg und stottert geschockt: »No! No, no, no! That was …«
Ich lache, während er sich wieder entspannt und weiter von mir wegrückt … Wüstling.

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