Tag 20: High Noon at Midnight
Serendipity – Teil 1

Donnerstag, 29. November 2012
Oakland – San Carlos – San Francisco – Oakland
Seitdem wir im Bordello eingezogen beziehungsweise zu Rain auf Besuch gekommen sind, ist Ford über den Zustand der Wohnung seiner Freundin geschockt. Ja, die sauberste Wohnung hat Rain mit Sicherheit nicht. Ford meint, die alte Lesbe wolle wohl einen auf Junge machen. Da ich mich sowieso schon frage, was Ford Rain bezüglich der Dauer unseres recht spontanen, aber dafür mehrtägigen Besuches erzählt hat, finde ich Fords Vorschlag, Rains Wohnung zu putzen, vollkommen in Ordnung. Allerdings darf ich Ford beim Putzen nicht helfen, da ich ja der Gast bin. Und was kann ich beisteuern? Kochen. Geht klar. Ich erkundige mich, wo der nächste Supermarkt ist, damit ich Zutaten kaufen kann. Ford sieht mich an, als wäre dies eine blöde Frage und öffnet Rains amerikatypischen Kühlschrank – ein für europäische Verhältnisse also einmal mehr übertrieben großes Teil. Der Kühlschrank ist nicht nur übertrieben groß, sondern für einen Singlehaushalt auch übertrieben gefüllt. Ford muss nichts weiter erklären: Ich habe verstanden. Als guter Gast koche ich nachher mit den Einkäufen der Gastgeberin ein Abendessen für vier. Für vier? Ja, denn Rain hat Besuch – Frauenbesuch. Aufgrund dieser Tatsache bekommt sie von Fords Plänen auch gar nichts mit. Ford putzt nicht nur stundenlang, sondern räumt auch die Möbel um: »Die neue Anordnung ergibt viel mehr Sinn und schafft Platz«, begründet er seine Aktion. Ich gebe ihm recht und gehe aufs Klo. Mir ist zuvor schon aufgefallen, dass der Abfluss nicht allzu frei zu sein scheint. Als ich mein Werk hinunterspülen möchte, bestätigt sich nicht nur der Verdacht erneut, sondern er … verfestigt sich. Hm, scheiße. Gibt’s hier auch einen Pümpel und was ist das englische Wort dafür? Ich frage den Putzmann und umschreibe den Begriff etwas: »Uhm, I fear my shit got stuck in the sewer. Is there a pff pff pff?«
Bei letztem Satz forme ich zwei Fäuste vor meiner Brust und bewege knackig zackig meine Arme vor und zurück.
»Oh!«, antwortet Ford nur und stürmt an mir vorbei ins Klo.
»Ah!«, reagiere ich wiederum und versuche mich wieder an ihm vorbeizudrücken, bevor er die Sache genauer unter die Lupe nimmt. »I can do that. I just need the pff pff pff.« – Selbe Bewegung.
Ford greift nach einem Instrument, das für mich kurz zuvor nicht nach Saugglocke aussah. In Amerika sind die Dinger schwarz und anders geformt. Naja, bei denen steht ja auch das Wasser hoch in der Schüssel – was die ganze Sache übrigens angenehmerweise stets geruchsneutral gestaltet. Besonders jetzt bin ich dafür sehr dankbar. Ford stellt sich in die Tür und beobachtet mich beim Rohr reinigen. Plötzlich höre ich nur noch ein geschocktes: »Oh my … no … no, please.«
»Whassup?«, drehe ich mich in guter alter Budweiser-Werbemanier zu ihm um. Vor mir steht ein Mann, der bereits eine ziemlich dreckige Wohnung strahlend sauber geputzt hat und nun in die Dusche blickt als habe er etwas »Grauenhaftes im Holzschuppen gesehen«. Dieses Zitat stammt übrigens aus dem erstaunlich unbekannten »Cold Comfort Farm«. Ja, dies ist ein Filmtipp.
»You okay?«, frage ich Ford … und ahne Schlimmes. Ford wendet sich ab, stolpert wie angeschossen in die Küche zurück und beugt sich vornüber. Dabei macht er recht geräuschlos die Mimik eines Fisches nach. Eines Fisches, der nach Luft schnappt – inklusive der aufgerissenen, lidlosen runden Augen. Ja, es ist wohl passiert. Ford beruhigt sich wenige Sekunden später wieder und hangelt sich an der Wand entlang zum Wasserhahn. Ich denke mir derweil, dass das Rohr nun mal frei gemacht werden muss und drücke noch zwei, drei Druckwellen durch.
»I don’t know if I will ever again be able to use this shower«, leidet der arme Held.
»Shit happens«, findet er nur semilustig.
Ford benötigt was auch immer aus Rains Zimmer. Die hat uns aber den Zutritt zum Liebespalast für die nächsten 20 Minuten untersagt. Nach einer guten Stunde – es wird mittlerweile nicht mehr laut gestöhnt, gekeucht, gesprochen und gelacht – hat Ford genug, klopft kurz an und betritt den Raum. Er wird freundlich begrüßt. Die Show ist also offensichtlich vorbei. Ich lehne mich in den Türrahmen und sage: »Hello«, zu Rain und ihrer Freundin Crystal, einer sympathisch aussehenden Asiaamerikanerin.
Rain flüstert etwas zu Ford, der daraufhin kurz irritiert guckt und dann um das Bett läuft. Dabei schaut er konzentriert auf das Pärchen im Bett. Crystal liegt auf ihrem Rücken, während Rain vor ihr sitzt. Die beiden tragen übrigens T-Shirts.
»That’s completely wrong«, sagt Ford bestimmt. Worum geht’s?
»You have to raise your hip, honey!«
Crystal lacht. Ford scheint aber – worum auch immer es gerade geht – die Sache ernst zu nehmen. Er schnappt sich ein Kissen und greift Crystal unter den Rücken. Crystal lacht nun lauter und auch Rain amüsiert sich.
»Up, up, up!«, fordert Ford Crystal auf, während er ihr das Kissen unter den Rücken schiebt. Was zum …?
Auf einmal stöhnen Rain und Crystal zeitgleich auf.
»Aaah!«, freut sich Ford.
»Oooh!«, fällt bei mir endlich der Groschen.
»Don’t … That’s so deep«, verzieht Crystal ihr Gesicht in einer Mischung aus Lust und Schmerz.
»That’s weird«, bemerkt Rain nun. »I never had audience while I was having sex.«
Endgültige Bestätigung: Doppeldildo. Ich ziehe mich höflich zurück und höre Fords weiteren Instruktionen von der Küche aus zu: »The pillow under your lower back raises your pelvis at a better angle to grind with Rain.«
Es wird gelacht und das Stöhnen geht kurz darauf auch wieder los. Wenig später steht Ford fett grinsend vor mir und erklärt mir, dass er noch so manch anderen tollen Tipp parat hat.
»Close the door!«, brüllt Rain Ford noch hinterher, während Crystal: »Ah!«, ächzt. Das Klischee der amerikanischen Prüderie betrachte ich hiermit als widerlegt.
Ich koche übrigens asiatisch mit italienischen Nudeln. Ich finde es nicht so prickelnd und leicht blasphemisch. Als ich aber Cashewnüsse in die Pfanne schmeiße, werde ich für meine Kreativität und mein Kochwissen gefeiert.
Nach dem Essen muss Crystal, die nicht nur Sex vor fremden Backpackern hat, sondern auch bei weit geöffneter Tür pinkelt, zur Arbeit. Sie kellnert im Z Cafe auf dem Broadway in Oakland. Ich mag sie. Raindove Danielle Victoria Rupert Dubilewski, die es überhaupt nicht seltsam, sondern cool findet, dass in ihrem ewig langen Namen auch Rupert vorkommt, bleibt indes nicht lange alleine und begrüßt mit Candice ihre nächste Gespielin. Rain vermutet übrigens, dass ihre Vorfahren aus Polen stammen und bei ihrer Ankunft auf Ellis Island von überforderten Staatsbediensteten einen neuen Namen verpasst bekamen: »What’s your name? Double-u … double-u what? Poland? Okay. I just understand ›double-u‹ and ›ski‹. Whatever: Your name is from now on Dubilewski.«
Die dicke Candice mit dem silberweißen Haar – ist es Natur oder echt? – hat mit Sprachen ein ganz anders geartetes Problem: Sie liebt Deutsch!
»German is the most sexy language ever! Say: ›The airport is on the right.‹«
»Huh?«
»It doesn’t make sense, but it’s fucking sexy to hear nonsense sentences in German. Say it!«
»Der Flughafen ist auf der rechten Seite.«
»That’s so hot.«
Crystal ist cooler.
Ford und ich überlassen Rain und Candice sich selbst und steigen mit freundlicher Genehmigung der Filmcrew die Treppen hinab ins Freie. Wir führen einen kurzen Small Talk mit dem freundlichen Sicherheitsmann vor der Tür und dann passiert es endlich: Eric Roberts himself verlässt das Bordello und steht leibhaftig in einem himmelblauen Anzug und zurückgegeltem grau meliertem Haar vor uns! Ford kann seine Begeisterung kaum zügeln und begrüßt den erstaunlich lockeren und sympathischen Hollywoodstar: »I was a big fan since I was a child.«
»That makes me feel really old. I appreciate it«, entgegnet Eric locker und mit einem Grinsen. Ford fällt hingegen die Kinnlade nach unten. Eine bildhübsche junge Frau gesellt sich zu uns. Sie trägt einen blauen Bademantel. Eric stellt sie uns vor: Es ist Elizabeth Rice, die die weibliche Hauptrolle Catherine in Carolyn Cavalleros Film spielt, der aller Voraussicht nach »Garden of Eden« heißen wird.
»She’s the star of the movie. I’m just the villain.«
Man kauft dem Star die Bescheidenheit durchaus ab. Es ist angenehm, mit ihm vor dem Bordello zu stehen. Von Starallüren ist weit und breit nichts zu spüren, wodurch auch keine Verkrampfung bei Ford und mir entsteht. Okay, Ford hat noch immer mit seinem Spruch zu kämpfen: »Fuck, that was pathetic«, leidet er später.
Eric und die schöne Elizabeth werden von der Aufnahmeleitung zurück ans Set gebeten und auch wir bereiten unseren Abflug vor, denn Ford muss einen Gehaltsscheck abholen. Das finde ich seltsam: Können ihm seine Arbeitgeber nicht einfach das Geld überweisen? Nein, er muss den Scheck persönlich abholen – im über 50 Kilometer entfernten San Carlos. Wow. Candice muss zudem zurück nach San Francisco. Also springen wir in Rains Auto und düsen los in Richtung West Bay. Wegen Falschparkens hat Rain einen Strafzettel über 60 Dollar bekommen. Scheiß Hollywood.
Wir müssen in Oakland tanken, einen platten Reifen aufpumpen und Lotto spielen. Die drei Amis kaufen sich je ein Rubbellos und hoffen auf die große Asche: »This is a lottery ticket«, erklärt Ford. »In America, this represents hope and faith … ’cause you can get money from it. The money raised from this is supposed to go to education and stuff like that, but – haha – it usually goes for booze and drugs and women in Vegas.«
Alle verlieren, lediglich Ford gewinnt … ein free ticket. Er darf also noch einmal ein neues Los freirubbeln. Juchhe.
»We need more power«, meint Rain. Ich halte meine rechte Hand in die Runde und schaue den beiden erwartungsvoll in die Augen. Sie verstehen recht schnell und legen ihre rechten Hände auf die meine.
»Cowabunga!«, rufe ich, reiße meine Hand in die Luft und stürme auf den Kofferraum zu. Die Mädels lachen, rufen ebenfalls: »Cowabunga!«, und schieben mit mir den Wagen an. Es funktioniert! Der Motor springt an und Ford fährt davon.
»Cowabunga?«, fragt mich Candice.
»Cowabunga power! Teenage Mutant Ninja Turtles?«, wundere ich mich über ihre Unwissenheit.
»Well, it worked«, resümiert Rain und steigt in den zurückgekommenen Wagen.
In San Francisco regnet es nicht mehr. Wir machen Halt bei McDonald’s. Ich konsumiere nichts von McDonald’s, weil ich den Konzern nicht unterstützen möchte. Ford findet das seltsam und lächerlich. In seinen Augen hat McDonald’s die Armen genährt, als diese sich sonst nirgends Essen leisten konnten. McDonald’s als Retter der Armen? In Amerika tickt so manche Uhr anders als bei uns. Candice bekommt einen Abschiedskuss von Rain und einen dämlichen deutschen Abschiedsspruch von mir: »Wo ist das Krankenhaus?«, möchte sie diesmal hören. Und weiter geht’s …
Dass Rain eine erbärmliche Kolonnenfahrerin ist, konnte ich ja bereits gestern amüsiert feststellen. Sie schafft es aber auch, trotz eher schleichenden denn rasenden Tempos wie eine Henkerin zu fahren. Fragt mich nicht, wie das möglich ist. Vermutlich liegt es daran, dass man in Amerika nur einmal um den Block fahren muss, um den Führerschein zu bekommen. Als ich erzähle, dass man in Deutschland mal locker mit vier Monaten rechnen kann, bis man den Lappen hat, herrscht erstauntes Schweigen vor.
Wir erreichen San Carlos. Ford holt sich schnell seinen Scheck ab und löst ihn bei seiner Bank ein. Rain setzt sich in den Starbucks und packt ihren Laptop aus.
»Don’t you have to order something before you use the internet?«, frage ich sie.
Sie schaut mich irritiert an: »No!«
Es juckt hier aber auch offensichtlich niemanden. Na dann. Ich beschließe, die Straße, in der wir uns befinden, ein wenig entlangzuspazieren bis die beiden fertig sind. San Carlos ist gänzlich unspektakulär – bis auf die Tatsache, dass es einen Laden namens Cova Bunga gibt. Sachen gibt’s …
»Serendipity!«, nennen es Ford und Rain und machen mich darauf aufmerksam, dass »Serendipity« generell meine bisherige Reise ganz gut beschreibt. Serendipity? Was heißt das denn überhaupt? Das Online-Wörterbuch gibt Aufschluss:
Das Wort merke ich mir besser mal …
Wir fahren zurück nach Oakland und besuchen Crystal im Z Cafe. Ich schaue mir die nun ziemlich seriös aussehende Kellnerin an und frage mich, ob es wirklich dieselbe Frau ist, die ich heute sowohl beim Sex als auch beim Urinieren zu Gesicht bekommen habe. Zeitgleich frage ich mich, mit wie vielen Kellnerinnen dieses Ladens Rain wohl Sex hat. Die Begrüßungen sind zumindest äußerst vertraut und liebevoll. Rain, ein lesbischer Sexguru in Oakland?
Ford will in die Oz Lounge. Party on! Ich bin mir noch nicht so sicher, wie sehr ich die Oz Lounge mag, da der Laden eigentlich wenig Style versprĂĽht und zudem nicht sonderlich gemĂĽtlich ist. Ich frage daher Ford, was an der Bar so besonders ist.
»It’s about the people«, antwortet er wie immer direkt und ohne lange nachzudenken. Eine passable Wörterbuchdefinition für Spontaneität sollte »Ford Odin Folliard« sein. Wie eigentlich immer hat er mit dem, was er sagt, auch recht. Das Publikum in der Oz Lounge besticht nicht durch verrückte Kleider und Frisuren, lautes und extravagantes Verhalten oder übermäßiger Partylaune. Sie sind einfach nur superkommunikativ, extrem lustig und wahnsinnig lässig. So verwundert es mich auch nicht, dass ich erst einmal wieder bei der Welt coolstem Türsteher hängen bleibe. Ein junges Pärchen gesellt sich zu Matt und mir. Ihr Name ist Julie, er heißt Jordan und ist knülle. Er redet irgendeinen Quatsch, den sie als Sexismus auslegt. Kurz darauf macht sie wiederum eine Bemerkung, die mich an ihrer Emanzipation zweifeln lässt. Jordan solidarisiert sich daraufhin direkt mit mir und haut den nächsten dummen Spruch raus.
»You better organize me a new drink«, meckert Julie Jordan an, woraufhin ich sie wissen lasse, dass eine emanzipierte Frau eher den Männern einen ausgeben müsste.
»What do you want to drink?«, grinst sie mich an.
»I was just kidding.«
»What do you want?«
»He wants a beer«, kürzt Matt die Szene ab. »IPA.«
Die hübsche Julie, die auch japanisches Blut hat und in einem gym arbeitet, lächelt mich an und verschwindet in der Bar. Eine Minute später kommt sie mit einem Bier in der Hand wieder raus. Vor der Oz Lounge darf man übrigens Bier trinken, solange man sich nicht vom einzigen Tisch, der vor dem Laden positioniert ist, entfernt. Diese Alkoholgesetze …
Ich sage Julie, dass sie das nicht hätte machen müssen.
»That’s how we do it here. Welcome to America.«
Jordan und die durchaus bezaubernde Julie gehen an die Bar, während ich weiterhin draußen beim Türsteher stehen bleibe. Ein Obdachloser kommt vorbei und gesellt sich zu uns. Er ist ulkig und durstig. Also lasse ich ihn von meinem Bier trinken, was ein anderer Gast der Bar ganz offensichtlich unglaublich widerlich findet. Ich denke wieder an Che Guevaras Besuch bei den Leprakranken, proste zunächst dem Schnösel und dann dem Obdachlosen zu und trinke den nächsten Schluck aus unserem Glas. Als ich Minuten später die Oz Lounge betrete, werde ich vom Barkeeper mit: »You’re the guy who won the film award!«, begrüßt. Ford hat mal wieder Werbung für mich gemacht.
Ich komme mit Jordan ins Gespräch und erfahre, dass er und Julie überhaupt kein Paar sind und es auch nicht vorhaben zu werden. Er streichelt dennoch ständig ihren Rücken. Dann sind es wohl friends with benefits, denke ich mir und freue mich zugleich darüber, dass ich dann wohl auch mit Julie flirten darf.
Ich stehe wieder draußen, als Julie – recht mies gelaunt dreinschauend – die Oz Lounge verlässt und straight zur Ampel läuft. Hm, da renne ich doch mal besser hinterher: »Hey, are you leaving?«
»Well, yes.«
»Do you want to give me your number?«
»Of course.«
Wir tauschen Nummern aus, als Jordan aufkreuzt und Julie darauf aufmerksam macht, dass sie in die falsche Richtung abhaut. Sie lächelt peinlich berührt und geht mit ihm in die andere Richtung.
Wir fahren mit dem BART wieder zurück nach Oakland. Als der Zug San Francisco verlässt und unter dem Wasser nach Oakland fährt, schließt Ford wieder die Augen und fordert mich wie vorgestern dazu auf, die Delfine und Haie zu begrüßen. In Oakland spazieren wir an einem der in Amerika erschreckend häufig vorkommenden Läden eines Mediums vorbei. Auch ohne die Tarotkarten eines psychic reader stellen wir unweit des Bordello fest, dass wir noch durstig sind.
Wir kommen an der mexikanischen Victor’s Bar vorbei. Optimal, freue ich mich und will gerade reingehen, als Ford eine ältere mexikanische Frau vor der Bar fragt, ob es sicher und okay ist, als Weiße die Bar zu betreten. Bitte, was? Ich wundere mich über Ford. Er meint jedoch, dass man ab und an mal in gewissen Gegenden auf Nummer sicher gehen sollte. Aha …
In der Bar ist die Stimmung recht ausgelassen. Die anwesenden Mexikaner – wir sind tatsächlich die einzigen Nichtmexikaner – singen fröhlich am Tresen und geizen nicht mit dem Alkohol. Ford fĂĽhlt sich, glaube ich, etwas unwohl. Er denkt auch, dass sich die Mexikaner in ihren Liedern ĂĽber uns lustig machen. Mein Spanisch ist mittlerweile generell äuĂźerst bescheiden und zu dieser Stunde sowieso nicht zu gebrauchen. Ich versuche also erst gar nicht herauszufinden, ob wir Opfer von lustig dargebrachtem Rassismus werden. Die Barkeeperin diskriminiert uns – oder zumindest mich – auf jeden Fall nicht. Ganz im Gegenteil. Sie flirtet mich an und lässt mich wissen, dass ich schöne Augen habe. ¡SĂ, soy un guapo!
Als wir die Bar wieder verlassen, bemerkt Ford, dass ihm die Kippen ausgegangen sind. Also machen wir uns auf die Suche nach einem Shop, der noch geöffnet hat. Es ist kurz vor Mitternacht. Wir biegen in die 10th Avenue ab, passieren den International Boulevard und bewegen uns in Richtung East 15th Street, als es plötzlich achtmal hinter uns knallt. Wieso spielen zu dieser Uhrzeit und ausgerechnet heute Nacht Kinder mit Böllern, wundere ich mich und drehe mich um. Ich kann niemanden sehen, schaue aber auch nicht wirklich, weil ich plötzlich bemerke, dass Ford anfängt loszurennen. Ich schaue ihm hinterher, als er mir hektisch entgegenbrüllt: »Run, Dennis! Run!«
Hä? Fuck!
Ich renne neben Ford her: »Are you sure that …«
»I’m from Chicago. I know how it sounds like when somebody shoots at you!«
Rechts von uns tut sich ein Parkplatz auf. Ford zögert nicht und rennt auf die freie Fläche.
»There are fences, Ford!«
»Yeah, that’s our plus.«
Ich verstehe nicht. FĂĽr mich fĂĽhlt sich das nicht gerade nach einem Vorteil an.
»Are we going to hide behind a car?«, möchte ich wissen.
»No«, entgegnet mir Ford kurz und rennt auf den Zaun zu, der uns von der East 15th Street trennt. Er springt auf den Zaun, ich folge ihm. Wir klettern den Zaun hinauf und klammern uns oben fest. Augenblicklich kommt ein weißes Auto mit verdunkelten Scheiben die 10th Avenue entlanggefahren. Es fährt langsam. Schrittgeschwindigkeit. Auf einmal bleibt der Wagen am Eingang zum Parkplatz stehen. Scheiße, die verfolgen uns!
»What now?«, frage ich Ford.
»We wait. When he’s going around the corner, we jump down the fence and run back to where we came from. If he enters the parking lot, we jump over the fence and run down the street. That’s why we came to the parking lot. We have to play with them!«
Wow, das ist ja mal ein richtig guter Plan. Ich bin fasziniert von Fords spontanem Krisenmanagement. In beiden Fällen müsste der Wagen umdrehen, wodurch wir einen gewissen Vorsprung gewinnen. Ich beobachte unsere Verfolger und versuche zu verstehen, was ich gerade empfinde. Seltsamerweise habe ich überhaupt keine Angst. Die Situation ist viel zu surreal. Ich bin noch nicht einmal sonderlich aufgeregt, obwohl vermutlich gerade achtmal auf Ford und mich geschossen wurde – von wem auch immer und keine 100 Meter hinter uns. Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob ich Ford glauben soll, dass wir uns in akuter Lebensgefahr befinden. Okay, da ist dieses Auto. Aber der sucht vielleicht nur einen Parkplatz? Nein, der sucht keinen Parkplatz. Er drückt plötzlich aufs Gaspedal und heizt auf den Parkplatz. Ford und ich klettern über den Zaun und sprinten die East 15th Street entlang in Richtung Osten.
»They will come back. We have to play hide and seek with them.«
»Okay?!«
Wir biegen ab. Ich verstehe noch immer nicht, was ich von der ganzen Chose halten soll.
»Fuck, there’s another car.«
»How do you know that this car is chasing us, too?«
»Dennis, look how he’s driving. He’s obviously looking for somebody.«
Jetzt sind’s also schon zwei Autos. Super. Wir sprinten, verstecken uns hinter Autos, täuschen an abzubiegen, drehen dann aber wieder um und laufen den Weg zurück, den wir gekommen sind. Ein drittes Auto taucht schließlich auf. Verdammte Scheiße!
»Should we call the cops?«, kommt es mir plötzlich in den Sinn.
Ford reagiert zum ersten Mal seitdem ich ihn kenne nicht sofort, sondern schaut mich nur ein, zwei Sekunden lang schweigend an, bevor er: »Yes, that’s actually a good idea«, nickt. Bevor ich mein Handy aus der Tasche ziehen kann, drückt er mich plötzlich ruckartig nach unten: »Duck, Dennis! There’s the first car again.«
Wir kauern hinter einem geparkten Wagen und schauen zur knapp 50 Meter entfernten Kreuzung. Zum ersten Mal in meinem Leben bereue ich, dass ich mich so überhaupt nicht für Autos interessiere: »How do you know that this is the first car again?«
Ford guckt mich verwundert an. Für ihn ist es in der Dunkelheit offensichtlich nicht so schwierig, Autos zu identifizieren. Er umfasst meine Handgelenke und schüttelt mich: »Dennis, you’ve got to be more conscious, if you want to survive!«
Die Situation ist so bescheuert, dass ich mir ernsthaft das Lachen verkneifen muss. Was ein blöder Spruch – wie in einem schlechten Film.
Der Wagen fährt langsam weiter und wir schlagen uns in die East 8th Street durch, als uns auf einmal Wagen Nummer 1, 2 oder 3 mit hohem Tempo entgegenkommt. Für mich sehen die immer noch alle gleich aus und könnten auch die Wagen X oder Y sein. Ford will mich gerade wieder in ein Versteck drücken, als wir feststellen, dass unsere Jäger mittlerweile andere Probleme haben, als uns zu finden: Die Cops verfolgen sie. Na, die sind wir dann wohl los. Sehr gut.
Wir schaffen es ohne weitere Probleme zum Bordello zu gelangen. Wir schließen die Tür auf, betreten das Gebäude und schließen erleichtert hinter uns ab. Überlebt! Rock und Roll!
Jetzt kann ich aber wirklich nicht mehr und fange an zu lachen. Ford versteht die Welt nicht mehr und wird fast schon sauer: »You still don’t realize in what situation we were in, do you?«
»I don’t know, Ford. But I’ve got to be more conscious, if I want to survive«, mache ich ihn nach.
»Fuck you.«
»I’m so sorry, Ford«, kichere ich. »The whole situation was just so surreal. I … I don’t know what to think. But I really want to thank you for managing it. How did you know how to react? Have you ever before been in a situation like that?«
»I joined a zombie apocalypse boot camp once.«
Nun breche ich vollkommen ab vor Lachen. Mein grandioser Freund hat ein Trainingslager besucht, bei dem ihm die Flucht vor Zombies beigebracht wurde? Und das hat uns heute womöglich das Leben gerettet? Auch Ford kann sich sein Grinsen nicht mehr verkneifen und setzt sogar noch einen drauf: »Did I really say: ›You’ve got to be more conscious if you want to survive‹?«
»Yeah, baby.«
Pitschnass vom nächtlichen Regen liegen wir uns lachend in den Armen und freuen uns, noch am Leben zu sein. Wie war das? In San Francisco lieben sich die Menschen und in Oakland hassen sie sich? Heute Nacht hat sich Fords These eindrucksvoll bestätigt. Tage später erfahren wir, dass sich das Bordello quasi auf dem Grenzstreifen zwischen dem afroamerikanischen, dem vietnamesischen und dem mexikanischen Hood befindet. Nächtliche Spaziergänge sind hier alles andere als empfehlenswert. Das hätte man uns ja auch mal früher sagen können …
Es lebe das Leben!

200 Meter weiter wurde es in der Nacht brenzlig …