Tag 20: High Noon at Midnight

Serendipity – Teil 1

2012 12 02 15.21.18 edited

Donnerstag, 29. November 2012
Oakland – San Carlos – San Francisco – Oakland

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Es regnet wieder. Im Erdgeschoss sind die Dreharbeiten im vollen Gange. Jemand singt. Jemand? Nicht nur irgendjemand: Eric Roberts ist angerĂŒckt und beschallt das Bordello mit seinen GesangskĂŒnsten. Zumindest erzĂ€hlt man uns das. Zu sehen bekommen wir ihn natĂŒrlich nicht, da der Drehort hermetisch abgeriegelt ist. Wir dĂŒrfen noch nicht einmal die knarrende Holztreppe benutzen, wann wir wollen, sondern immer nur zwischen den einzelnen Takes. Rains Wohnung im Bordello befindet sich direkt ĂŒber dem Saloon, dem Drehort des Streifens. Dadurch bekommen wir wenigstens akustisch mit, was unten passiert.
Seitdem wir im Bordello eingezogen beziehungsweise zu Rain auf Besuch gekommen sind, ist Ford ĂŒber den Zustand der Wohnung seiner Freundin geschockt. Ja, die sauberste Wohnung hat Rain mit Sicherheit nicht. Ford meint, die alte Lesbe wolle wohl einen auf Junge machen. Da ich mich sowieso schon frage, was Ford Rain bezĂŒglich der Dauer unseres recht spontanen, aber dafĂŒr mehrtĂ€gigen Besuches erzĂ€hlt hat, finde ich Fords Vorschlag, Rains Wohnung zu putzen, vollkommen in Ordnung. Allerdings darf ich Ford beim Putzen nicht helfen, da ich ja der Gast bin. Und was kann ich beisteuern? Kochen. Geht klar. Ich erkundige mich, wo der nĂ€chste Supermarkt ist, damit ich Zutaten kaufen kann. Ford sieht mich an, als wĂ€re dies eine blöde Frage und öffnet Rains amerikatypischen KĂŒhlschrank â€“ ein fĂŒr europĂ€ische VerhĂ€ltnisse also einmal mehr ĂŒbertrieben großes Teil. Der KĂŒhlschrank ist nicht nur ĂŒbertrieben groß, sondern fĂŒr einen Singlehaushalt auch ĂŒbertrieben gefĂŒllt. Ford muss nichts weiter erklĂ€ren: Ich habe verstanden. Als guter Gast koche ich nachher mit den EinkĂ€ufen der Gastgeberin ein Abendessen fĂŒr vier. FĂŒr vier? Ja, denn Rain hat Besuch â€“ Frauenbesuch. Aufgrund dieser Tatsache bekommt sie von Fords PlĂ€nen auch gar nichts mit. Ford putzt nicht nur stundenlang, sondern rĂ€umt auch die Möbel um: »Die neue Anordnung ergibt viel mehr Sinn und schafft Platz«, begrĂŒndet er seine Aktion. Ich gebe ihm recht und gehe aufs Klo. Mir ist zuvor schon aufgefallen, dass der Abfluss nicht allzu frei zu sein scheint. Als ich mein Werk hinunterspĂŒlen möchte, bestĂ€tigt sich nicht nur der Verdacht erneut, sondern er â€Š verfestigt sich. Hm, scheiße. Gibt’s hier auch einen PĂŒmpel und was ist das englische Wort dafĂŒr? Ich frage den Putzmann und umschreibe den Begriff etwas: »Uhm, I fear my shit got stuck in the sewer. Is there a pff pff pff?«
Bei letztem Satz forme ich zwei FĂ€uste vor meiner Brust und bewege knackig zackig meine Arme vor und zurĂŒck.
»Oh!«, antwortet Ford nur und stĂŒrmt an mir vorbei ins Klo.
»Ah!«, reagiere ich wiederum und versuche mich wieder an ihm vorbeizudrĂŒcken, bevor er die Sache genauer unter die Lupe nimmt. »I can do that. I just need the pff pff pff.« â€“ Selbe Bewegung.
Ford greift nach einem Instrument, das fĂŒr mich kurz zuvor nicht nach Saugglocke aussah. In Amerika sind die Dinger schwarz und anders geformt. Naja, bei denen steht ja auch das Wasser hoch in der SchĂŒssel â€“ was die ganze Sache ĂŒbrigens angenehmerweise stets geruchsneutral gestaltet. Besonders jetzt bin ich dafĂŒr sehr dankbar. Ford stellt sich in die TĂŒr und beobachtet mich beim Rohr reinigen. Plötzlich höre ich nur noch ein geschocktes: »Oh my â€Š no â€Š no, please.«
»Whassup?«, drehe ich mich in guter alter Budweiser-Werbemanier zu ihm um. Vor mir steht ein Mann, der bereits eine ziemlich dreckige Wohnung strahlend sauber geputzt hat und nun in die Dusche blickt als habe er etwas »Grauenhaftes im Holzschuppen gesehen«. Dieses Zitat stammt ĂŒbrigens aus dem erstaunlich unbekannten »Cold Comfort Farm«. Ja, dies ist ein Filmtipp.
»You okay?«, frage ich Ford â€Š und ahne Schlimmes. Ford wendet sich ab, stolpert wie angeschossen in die KĂŒche zurĂŒck und beugt sich vornĂŒber. Dabei macht er recht gerĂ€uschlos die Mimik eines Fisches nach. Eines Fisches, der nach Luft schnappt â€“ inklusive der aufgerissenen, lidlosen runden Augen. Ja, es ist wohl passiert. Ford beruhigt sich wenige Sekunden spĂ€ter wieder und hangelt sich an der Wand entlang zum Wasserhahn. Ich denke mir derweil, dass das Rohr nun mal frei gemacht werden muss und drĂŒcke noch zwei, drei Druckwellen durch.
»I don’t know if I will ever again be able to use this shower«, leidet der arme Held.
»Shit happens«, findet er nur semilustig.

Video


Ford benötigt was auch immer aus Rains Zimmer. Die hat uns aber den Zutritt zum Liebespalast fĂŒr die nĂ€chsten 20 Minuten untersagt. Nach einer guten Stunde â€“ es wird mittlerweile nicht mehr laut gestöhnt, gekeucht, gesprochen und gelacht â€“ hat Ford genug, klopft kurz an und betritt den Raum. Er wird freundlich begrĂŒĂŸt. Die Show ist also offensichtlich vorbei. Ich lehne mich in den TĂŒrrahmen und sage: »Hello«, zu Rain und ihrer Freundin Crystal, einer sympathisch aussehenden Asiaamerikanerin.
Rain flĂŒstert etwas zu Ford, der daraufhin kurz irritiert guckt und dann um das Bett lĂ€uft. Dabei schaut er konzentriert auf das PĂ€rchen im Bett. Crystal liegt auf ihrem RĂŒcken, wĂ€hrend Rain vor ihr sitzt. Die beiden tragen ĂŒbrigens T-Shirts.
»That’s completely wrong«, sagt Ford bestimmt. Worum geht’s?
»You have to raise your hip, honey!«
Crystal lacht. Ford scheint aber â€“ worum auch immer es gerade geht â€“ die Sache ernst zu nehmen. Er schnappt sich ein Kissen und greift Crystal unter den RĂŒcken. Crystal lacht nun lauter und auch Rain amĂŒsiert sich.
»Up, up, up!«, fordert Ford Crystal auf, wĂ€hrend er ihr das Kissen unter den RĂŒcken schiebt. Was zum â€Š?
Auf einmal stöhnen Rain und Crystal zeitgleich auf.
»Aaah!«, freut sich Ford.
»Oooh!«, fÀllt bei mir endlich der Groschen.
»Don’t â€Š That’s so deep«, verzieht Crystal ihr Gesicht in einer Mischung aus Lust und Schmerz.
»That’s weird«, bemerkt Rain nun. »I never had audience while I was having sex.«
EndgĂŒltige BestĂ€tigung: Doppeldildo. Ich ziehe mich höflich zurĂŒck und höre Fords weiteren Instruktionen von der KĂŒche aus zu: »The pillow under your lower back raises your pelvis at a better angle to grind with Rain.«
Es wird gelacht und das Stöhnen geht kurz darauf auch wieder los. Wenig spÀter steht Ford fett grinsend vor mir und erklÀrt mir, dass er noch so manch anderen tollen Tipp parat hat.
»Close the door!«, brĂŒllt Rain Ford noch hinterher, wĂ€hrend Crystal: »Ah!«, Ă€chzt. Das Klischee der amerikanischen PrĂŒderie betrachte ich hiermit als widerlegt.
Ich koche ĂŒbrigens asiatisch mit italienischen Nudeln. Ich finde es nicht so prickelnd und leicht blasphemisch. Als ich aber CashewnĂŒsse in die Pfanne schmeiße, werde ich fĂŒr meine KreativitĂ€t und mein Kochwissen gefeiert.
Nach dem Essen muss Crystal, die nicht nur Sex vor fremden Backpackern hat, sondern auch bei weit geöffneter TĂŒr pinkelt, zur Arbeit. Sie kellnert im Z Cafe auf dem Broadway in Oakland. Ich mag sie. Raindove Danielle Victoria Rupert Dubilewski, die es ĂŒberhaupt nicht seltsam, sondern cool findet, dass in ihrem ewig langen Namen auch Rupert vorkommt, bleibt indes nicht lange alleine und begrĂŒĂŸt mit Candice ihre nĂ€chste Gespielin. Rain vermutet ĂŒbrigens, dass ihre Vorfahren aus Polen stammen und bei ihrer Ankunft auf Ellis Island von ĂŒberforderten Staatsbediensteten einen neuen Namen verpasst bekamen: »What’s your name? Double-u â€Š double-u what? Poland? Okay. I just understand â€șdouble-uâ€č and â€șskiâ€č. Whatever: Your name is from now on Dubilewski.«
Die dicke Candice mit dem silberweißen Haar â€“ ist es Natur oder echt? â€“ hat mit Sprachen ein ganz anders geartetes Problem: Sie liebt Deutsch!
»German is the most sexy language ever! Say: â€șThe airport is on the right.â€č«
»Huh?«
»It doesn’t make sense, but it’s fucking sexy to hear nonsense sentences in German. Say it!«
»Der Flughafen ist auf der rechten Seite.«
»That’s so hot.«
Crystal ist cooler.
Ford und ich ĂŒberlassen Rain und Candice sich selbst und steigen mit freundlicher Genehmigung der Filmcrew die Treppen hinab ins Freie. Wir fĂŒhren einen kurzen Small Talk mit dem freundlichen Sicherheitsmann vor der TĂŒr und dann passiert es endlich: Eric Roberts himself verlĂ€sst das Bordello und steht leibhaftig in einem himmelblauen Anzug und zurĂŒckgegeltem grau meliertem Haar vor uns! Ford kann seine Begeisterung kaum zĂŒgeln und begrĂŒĂŸt den erstaunlich lockeren und sympathischen Hollywoodstar: »I was a big fan since I was a child.«
»That makes me feel really old. I appreciate it«, entgegnet Eric locker und mit einem Grinsen. Ford fĂ€llt hingegen die Kinnlade nach unten. Eine bildhĂŒbsche junge Frau gesellt sich zu uns. Sie trĂ€gt einen blauen Bademantel. Eric stellt sie uns vor: Es ist Elizabeth Rice, die die weibliche Hauptrolle Catherine in Carolyn Cavalleros Film spielt, der aller Voraussicht nach »Garden of Eden« heißen wird.
»She’s the star of the movie. I’m just the villain.«
Man kauft dem Star die Bescheidenheit durchaus ab. Es ist angenehm, mit ihm vor dem Bordello zu stehen. Von StarallĂŒren ist weit und breit nichts zu spĂŒren, wodurch auch keine Verkrampfung bei Ford und mir entsteht. Okay, Ford hat noch immer mit seinem Spruch zu kĂ€mpfen: »Fuck, that was pathetic«, leidet er spĂ€ter.
Eric und die schöne Elizabeth werden von der Aufnahmeleitung zurĂŒck ans Set gebeten und auch wir bereiten unseren Abflug vor, denn Ford muss einen Gehaltsscheck abholen. Das finde ich seltsam: Können ihm seine Arbeitgeber nicht einfach das Geld ĂŒberweisen? Nein, er muss den Scheck persönlich abholen â€“ im ĂŒber 50 Kilometer entfernten San Carlos. Wow. Candice muss zudem zurĂŒck nach San Francisco. Also springen wir in Rains Auto und dĂŒsen los in Richtung West Bay. Wegen Falschparkens hat Rain einen Strafzettel ĂŒber 60 Dollar bekommen. Scheiß Hollywood.
Wir mĂŒssen in Oakland tanken, einen platten Reifen aufpumpen und Lotto spielen. Die drei Amis kaufen sich je ein Rubbellos und hoffen auf die große Asche: »This is a lottery ticket«, erklĂ€rt Ford. »In America, this represents hope and faith â€Š ’cause you can get money from it. The money raised from this is supposed to go to education and stuff like that, but â€“ haha â€“ it usually goes for booze and drugs and women in Vegas.«
Alle verlieren, lediglich Ford gewinnt â€Š ein free ticket. Er darf also noch einmal ein neues Los freirubbeln. Juchhe.

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Als Tanken, Pumpen und Geld Verschwenden erledigt ist, springt Rains alter VW nicht mehr an. Tolle Wurst. Da Rain keinen Plan hat, wie das mit der Kupplung beim Anschieben funktioniert, und Ford wohl auch eher Automatikgetriebe gewohnt ist, setze ich mich zunĂ€chst hinters Steuer. Ist ja auch ein deutsches Auto, meinen die drei. Das deutsche Wunderwerk will aber auch bei mir nicht anspringen, weswegen Ford es dann doch mal versucht. Die MĂ€dels und ich beratschlagen derweil, was wir anders machen mĂŒssen.
»We need more power«, meint Rain. Ich halte meine rechte Hand in die Runde und schaue den beiden erwartungsvoll in die Augen. Sie verstehen recht schnell und legen ihre rechten HÀnde auf die meine.
»Cowabunga!«, rufe ich, reiße meine Hand in die Luft und stĂŒrme auf den Kofferraum zu. Die MĂ€dels lachen, rufen ebenfalls: »Cowabunga!«, und schieben mit mir den Wagen an. Es funktioniert! Der Motor springt an und Ford fĂ€hrt davon.
»Cowabunga?«, fragt mich Candice.
»Cowabunga power! Teenage Mutant Ninja Turtles?«, wundere ich mich ĂŒber ihre Unwissenheit.
»Well, it worked«, resĂŒmiert Rain und steigt in den zurĂŒckgekommenen Wagen.
In San Francisco regnet es nicht mehr. Wir machen Halt bei McDonald’s. Ich konsumiere nichts von McDonald’s, weil ich den Konzern nicht unterstĂŒtzen möchte. Ford findet das seltsam und lĂ€cherlich. In seinen Augen hat McDonald’s die Armen genĂ€hrt, als diese sich sonst nirgends Essen leisten konnten. McDonald’s als Retter der Armen? In Amerika tickt so manche Uhr anders als bei uns. Candice bekommt einen Abschiedskuss von Rain und einen dĂ€mlichen deutschen Abschiedsspruch von mir: »Wo ist das Krankenhaus?«, möchte sie diesmal hören. Und weiter geht’s â€Š
Dass Rain eine erbĂ€rmliche Kolonnenfahrerin ist, konnte ich ja bereits gestern amĂŒsiert feststellen. Sie schafft es aber auch, trotz eher schleichenden denn rasenden Tempos wie eine Henkerin zu fahren. Fragt mich nicht, wie das möglich ist. Vermutlich liegt es daran, dass man in Amerika nur einmal um den Block fahren muss, um den FĂŒhrerschein zu bekommen. Als ich erzĂ€hle, dass man in Deutschland mal locker mit vier Monaten rechnen kann, bis man den Lappen hat, herrscht erstauntes Schweigen vor.
Wir erreichen San Carlos. Ford holt sich schnell seinen Scheck ab und löst ihn bei seiner Bank ein. Rain setzt sich in den Starbucks und packt ihren Laptop aus.
»Don’t you have to order something before you use the internet?«, frage ich sie.
Sie schaut mich irritiert an: »No!«
Es juckt hier aber auch offensichtlich niemanden. Na dann. Ich beschließe, die Straße, in der wir uns befinden, ein wenig entlangzuspazieren bis die beiden fertig sind. San Carlos ist gĂ€nzlich unspektakulĂ€r â€“ bis auf die Tatsache, dass es einen Laden namens Cova Bunga gibt. Sachen gibt’s â€Š
»Serendipity!«, nennen es Ford und Rain und machen mich darauf aufmerksam, dass »Serendipity« generell meine bisherige Reise ganz gut beschreibt. Serendipity? Was heißt das denn ĂŒberhaupt? Das Online-Wörterbuch gibt Aufschluss:

Serendipity
Serendipity ist die Gabe, zufĂ€llig glĂŒckliche und unerwartete Entdeckungen zu machen. Serendipity heißt auch GlĂŒck, glĂŒcklicher Zufall oder SpĂŒrsinn.

Das Wort merke ich mir besser mal â€Š
Wir fahren zurĂŒck nach Oakland und besuchen Crystal im Z Cafe. Ich schaue mir die nun ziemlich seriös aussehende Kellnerin an und frage mich, ob es wirklich dieselbe Frau ist, die ich heute sowohl beim Sex als auch beim Urinieren zu Gesicht bekommen habe. Zeitgleich frage ich mich, mit wie vielen Kellnerinnen dieses Ladens Rain wohl Sex hat. Die BegrĂŒĂŸungen sind zumindest Ă€ußerst vertraut und liebevoll. Rain, ein lesbischer Sexguru in Oakland?
Ford will in die Oz Lounge. Party on! Ich bin mir noch nicht so sicher, wie sehr ich die Oz Lounge mag, da der Laden eigentlich wenig Style versprĂŒht und zudem nicht sonderlich gemĂŒtlich ist. Ich frage daher Ford, was an der Bar so besonders ist.
»It’s about the people«, antwortet er wie immer direkt und ohne lange nachzudenken. Eine passable Wörterbuchdefinition fĂŒr SpontaneitĂ€t sollte »Ford Odin Folliard« sein. Wie eigentlich immer hat er mit dem, was er sagt, auch recht. Das Publikum in der Oz Lounge besticht nicht durch verrĂŒckte Kleider und Frisuren, lautes und extravagantes Verhalten oder ĂŒbermĂ€ĂŸiger Partylaune. Sie sind einfach nur superkommunikativ, extrem lustig und wahnsinnig lĂ€ssig. So verwundert es mich auch nicht, dass ich erst einmal wieder bei der Welt coolstem TĂŒrsteher hĂ€ngen bleibe. Ein junges PĂ€rchen gesellt sich zu Matt und mir. Ihr Name ist Julie, er heißt Jordan und ist knĂŒlle. Er redet irgendeinen Quatsch, den sie als Sexismus auslegt. Kurz darauf macht sie wiederum eine Bemerkung, die mich an ihrer Emanzipation zweifeln lĂ€sst. Jordan solidarisiert sich daraufhin direkt mit mir und haut den nĂ€chsten dummen Spruch raus.
»You better organize me a new drink«, meckert Julie Jordan an, woraufhin ich sie wissen lasse, dass eine emanzipierte Frau eher den MĂ€nnern einen ausgeben mĂŒsste.
»What do you want to drink?«, grinst sie mich an.
»I was just kidding.«
»What do you want?«
»He wants a beer«, kĂŒrzt Matt die Szene ab. »IPA.«
Die hĂŒbsche Julie, die auch japanisches Blut hat und in einem gym arbeitet, lĂ€chelt mich an und verschwindet in der Bar. Eine Minute spĂ€ter kommt sie mit einem Bier in der Hand wieder raus. Vor der Oz Lounge darf man ĂŒbrigens Bier trinken, solange man sich nicht vom einzigen Tisch, der vor dem Laden positioniert ist, entfernt. Diese Alkoholgesetze â€Š
Ich sage Julie, dass sie das nicht hĂ€tte machen mĂŒssen.
»That’s how we do it here. Welcome to America.«
Jordan und die durchaus bezaubernde Julie gehen an die Bar, wĂ€hrend ich weiterhin draußen beim TĂŒrsteher stehen bleibe. Ein Obdachloser kommt vorbei und gesellt sich zu uns. Er ist ulkig und durstig. Also lasse ich ihn von meinem Bier trinken, was ein anderer Gast der Bar ganz offensichtlich unglaublich widerlich findet. Ich denke wieder an Che Guevaras Besuch bei den Leprakranken, proste zunĂ€chst dem Schnösel und dann dem Obdachlosen zu und trinke den nĂ€chsten Schluck aus unserem Glas. Als ich Minuten spĂ€ter die Oz Lounge betrete, werde ich vom Barkeeper mit: »You’re the guy who won the film award!«, begrĂŒĂŸt. Ford hat mal wieder Werbung fĂŒr mich gemacht.
Ich komme mit Jordan ins GesprĂ€ch und erfahre, dass er und Julie ĂŒberhaupt kein Paar sind und es auch nicht vorhaben zu werden. Er streichelt dennoch stĂ€ndig ihren RĂŒcken. Dann sind es wohl friends with benefits, denke ich mir und freue mich zugleich darĂŒber, dass ich dann wohl auch mit Julie flirten darf.
Ich stehe wieder draußen, als Julie â€“ recht mies gelaunt dreinschauend â€“ die Oz Lounge verlĂ€sst und straight zur Ampel lĂ€uft. Hm, da renne ich doch mal besser hinterher: »Hey, are you leaving?«
»Well, yes.«
»Do you want to give me your number?«
»Of course.«
Wir tauschen Nummern aus, als Jordan aufkreuzt und Julie darauf aufmerksam macht, dass sie in die falsche Richtung abhaut. Sie lĂ€chelt peinlich berĂŒhrt und geht mit ihm in die andere Richtung.
Wir fahren mit dem BART wieder zurĂŒck nach Oakland. Als der Zug San Francisco verlĂ€sst und unter dem Wasser nach Oakland fĂ€hrt, schließt Ford wieder die Augen und fordert mich wie vorgestern dazu auf, die Delfine und Haie zu begrĂŒĂŸen. In Oakland spazieren wir an einem der in Amerika erschreckend hĂ€ufig vorkommenden LĂ€den eines Mediums vorbei. Auch ohne die Tarotkarten eines psychic reader stellen wir unweit des Bordello fest, dass wir noch durstig sind.

Oakland - Tarot Cart & Psychic Reader - 2012-11-29 23.32.01

Wir kommen an der mexikanischen Victor’s Bar vorbei. Optimal, freue ich mich und will gerade reingehen, als Ford eine Ă€ltere mexikanische Frau vor der Bar fragt, ob es sicher und okay ist, als Weiße die Bar zu betreten. Bitte, was? Ich wundere mich ĂŒber Ford. Er meint jedoch, dass man ab und an mal in gewissen Gegenden auf Nummer sicher gehen sollte. Aha â€Š
In der Bar ist die Stimmung recht ausgelassen. Die anwesenden Mexikaner â€“ wir sind tatsĂ€chlich die einzigen Nichtmexikaner â€“ singen fröhlich am Tresen und geizen nicht mit dem Alkohol. Ford fĂŒhlt sich, glaube ich, etwas unwohl. Er denkt auch, dass sich die Mexikaner in ihren Liedern ĂŒber uns lustig machen. Mein Spanisch ist mittlerweile generell Ă€ußerst bescheiden und zu dieser Stunde sowieso nicht zu gebrauchen. Ich versuche also erst gar nicht herauszufinden, ob wir Opfer von lustig dargebrachtem Rassismus werden. Die Barkeeperin diskriminiert uns â€“ oder zumindest mich â€“ auf jeden Fall nicht. Ganz im Gegenteil. Sie flirtet mich an und lĂ€sst mich wissen, dass ich schöne Augen habe. ÂĄSĂ­, soy un guapo!

Als wir die Bar wieder verlassen, bemerkt Ford, dass ihm die Kippen ausgegangen sind. Also machen wir uns auf die Suche nach einem Shop, der noch geöffnet hat. Es ist kurz vor Mitternacht. Wir biegen in die 10th Avenue ab, passieren den International Boulevard und bewegen uns in Richtung East 15th Street, als es plötzlich achtmal hinter uns knallt. Wieso spielen zu dieser Uhrzeit und ausgerechnet heute Nacht Kinder mit Böllern, wundere ich mich und drehe mich um. Ich kann niemanden sehen, schaue aber auch nicht wirklich, weil ich plötzlich bemerke, dass Ford anfĂ€ngt loszurennen. Ich schaue ihm hinterher, als er mir hektisch entgegenbrĂŒllt: »Run, Dennis! Run!«
HĂ€? Fuck!
Ich renne neben Ford her: »Are you sure that â€ŠÂ«
»I’m from Chicago. I know how it sounds like when somebody shoots at you!«
Rechts von uns tut sich ein Parkplatz auf. Ford zögert nicht und rennt auf die freie FlÀche.
»There are fences, Ford!«
»Yeah, that’s our plus.«
Ich verstehe nicht. FĂŒr mich fĂŒhlt sich das nicht gerade nach einem Vorteil an.
»Are we going to hide behind a car?«, möchte ich wissen.
»No«, entgegnet mir Ford kurz und rennt auf den Zaun zu, der uns von der East 15th Street trennt. Er springt auf den Zaun, ich folge ihm. Wir klettern den Zaun hinauf und klammern uns oben fest. Augenblicklich kommt ein weißes Auto mit verdunkelten Scheiben die 10th Avenue entlanggefahren. Es fĂ€hrt langsam. Schrittgeschwindigkeit. Auf einmal bleibt der Wagen am Eingang zum Parkplatz stehen. Scheiße, die verfolgen uns!
»What now?«, frage ich Ford.
»We wait. When he’s going around the corner, we jump down the fence and run back to where we came from. If he enters the parking lot, we jump over the fence and run down the street. That’s why we came to the parking lot. We have to play with them!«
Wow, das ist ja mal ein richtig guter Plan. Ich bin fasziniert von Fords spontanem Krisenmanagement. In beiden FĂ€llen mĂŒsste der Wagen umdrehen, wodurch wir einen gewissen Vorsprung gewinnen. Ich beobachte unsere Verfolger und versuche zu verstehen, was ich gerade empfinde. Seltsamerweise habe ich ĂŒberhaupt keine Angst. Die Situation ist viel zu surreal. Ich bin noch nicht einmal sonderlich aufgeregt, obwohl vermutlich gerade achtmal auf Ford und mich geschossen wurde â€“ von wem auch immer und keine 100 Meter hinter uns. Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob ich Ford glauben soll, dass wir uns in akuter Lebensgefahr befinden. Okay, da ist dieses Auto. Aber der sucht vielleicht nur einen Parkplatz? Nein, der sucht keinen Parkplatz. Er drĂŒckt plötzlich aufs Gaspedal und heizt auf den Parkplatz. Ford und ich klettern ĂŒber den Zaun und sprinten die East 15th Street entlang in Richtung Osten.
»They will come back. We have to play hide and seek with them.«
»Okay?!«
Wir biegen ab. Ich verstehe noch immer nicht, was ich von der ganzen Chose halten soll.
»Fuck, there’s another car.«
»How do you know that this car is chasing us, too?«
»Dennis, look how he’s driving. He’s obviously looking for somebody.«
Jetzt sind’s also schon zwei Autos. Super. Wir sprinten, verstecken uns hinter Autos, tĂ€uschen an abzubiegen, drehen dann aber wieder um und laufen den Weg zurĂŒck, den wir gekommen sind. Ein drittes Auto taucht schließlich auf. Verdammte Scheiße!
»Should we call the cops?«, kommt es mir plötzlich in den Sinn.
Ford reagiert zum ersten Mal seitdem ich ihn kenne nicht sofort, sondern schaut mich nur ein, zwei Sekunden lang schweigend an, bevor er: »Yes, that’s actually a good idea«, nickt. Bevor ich mein Handy aus der Tasche ziehen kann, drĂŒckt er mich plötzlich ruckartig nach unten: »Duck, Dennis! There’s the first car again.«
Wir kauern hinter einem geparkten Wagen und schauen zur knapp 50 Meter entfernten Kreuzung. Zum ersten Mal in meinem Leben bereue ich, dass ich mich so ĂŒberhaupt nicht fĂŒr Autos interessiere: »How do you know that this is the first car again?«
Ford guckt mich verwundert an. FĂŒr ihn ist es in der Dunkelheit offensichtlich nicht so schwierig, Autos zu identifizieren. Er umfasst meine Handgelenke und schĂŒttelt mich: »Dennis, you’ve got to be more conscious, if you want to survive!«
Die Situation ist so bescheuert, dass ich mir ernsthaft das Lachen verkneifen muss. Was ein blöder Spruch â€“ wie in einem schlechten Film.
Der Wagen fĂ€hrt langsam weiter und wir schlagen uns in die East 8th Street durch, als uns auf einmal Wagen Nummer 1, 2 oder 3 mit hohem Tempo entgegenkommt. FĂŒr mich sehen die immer noch alle gleich aus und könnten auch die Wagen X oder Y sein. Ford will mich gerade wieder in ein Versteck drĂŒcken, als wir feststellen, dass unsere JĂ€ger mittlerweile andere Probleme haben, als uns zu finden: Die Cops verfolgen sie. Na, die sind wir dann wohl los. Sehr gut.
Wir schaffen es ohne weitere Probleme zum Bordello zu gelangen. Wir schließen die TĂŒr auf, betreten das GebĂ€ude und schließen erleichtert hinter uns ab. Überlebt! Rock und Roll!
Jetzt kann ich aber wirklich nicht mehr und fange an zu lachen. Ford versteht die Welt nicht mehr und wird fast schon sauer: »You still don’t realize in what situation we were in, do you?«
»I don’t know, Ford. But I’ve got to be more conscious, if I want to survive«, mache ich ihn nach.
»Fuck you.«
»I’m so sorry, Ford«, kichere ich. »The whole situation was just so surreal. I â€ŠÂ I don’t know what to think. But I really want to thank you for managing it. How did you know how to react? Have you ever before been in a situation like that?«
»I joined a zombie apocalypse boot camp once.«
Nun breche ich vollkommen ab vor Lachen. Mein grandioser Freund hat ein Trainingslager besucht, bei dem ihm die Flucht vor Zombies beigebracht wurde? Und das hat uns heute womöglich das Leben gerettet? Auch Ford kann sich sein Grinsen nicht mehr verkneifen und setzt sogar noch einen drauf: »Did I really say: â€șYou’ve got to be more conscious if you want to surviveâ€č?«
»Yeah, baby.«
Pitschnass vom nĂ€chtlichen Regen liegen wir uns lachend in den Armen und freuen uns, noch am Leben zu sein. Wie war das? In San Francisco lieben sich die Menschen und in Oakland hassen sie sich? Heute Nacht hat sich Fords These eindrucksvoll bestĂ€tigt. Tage spĂ€ter erfahren wir, dass sich das Bordello quasi auf dem Grenzstreifen zwischen dem afroamerikanischen, dem vietnamesischen und dem mexikanischen Hood befindet. NĂ€chtliche SpaziergĂ€nge sind hier alles andere als empfehlenswert. Das hĂ€tte man uns ja auch mal frĂŒher sagen können â€Š
Es lebe das Leben!

200 Meter entfernt von hier wurde es in der Nacht brenzlig â€Š

200 Meter weiter wurde es in der Nacht brenzlig â€Š

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