Tag 25: Ein neuer Freund & The Hazel Room

Serendipity – Teil 1

Sonya & Katie – The Hazel Room

Dienstag, 4. Dezember 2012
Portland

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Ich verlasse Anesa und Ben am Morgen. Ben sehe ich nicht mehr, da er bereits in der Uni oder auf Arbeit ist. Anesa sitzt am Computer respektive Telefon und verabschiedet mich. Ich soll mich melden, wenn ich abends Lust auf Party habe. Wir könnten beispielsweise zu dritt in den veganen Stripclub gehen. Klingt lustig.
Portland hat seine Downtown und zwei Straßen, die das kulturelle Zentrum darstellen, haben Anesa und Ben mir gestern erklĂ€rt. Eine dieser beiden coolen Straßen ist die NE Alberta Street. Die andere ist der SE Hawthorne Boulevard, der nur unweit vom Haus der beiden beginnt und sich bis zum Willamette River zieht. Downtown beginnt direkt auf der anderen Seite des Flusses. Dort gibt es dann auch die fĂŒr Amerika typischen HochhĂ€user, die man östlich des Flusses nirgends vorfindet.
Da das östliche Ende des Hawthorne Boulevard höher gelegen ist als Downtown, kann man von hier aus bereits die HochhĂ€user des gut sechs Kilometer entfernten Zentrums ausmachen. Den schönsten Blick ĂŒber Portland soll man vom Gipfel des Mount Tabor aus haben: ein erloschener Vulkan, der eine grĂŒne Parkanlage ist, die sich bei Joggern und SpaziergĂ€ngern gleichermaßen großer Beliebtheit erfreut und auf dem sich die Wasserreservoirs der Stadt befinden.
Ich spaziere den Hawthorne Boulevard hinunter. Es regnet ordentlich und nach kurzer Zeit bin ich vollkommen durchnĂ€sst. Im gemĂŒtlichen Common Grounds Coffeehouse wĂ€rme ich mich mit einem Kaffee auf und gehe mal wieder ins Internet, schließlich brauche ich eine neue Übernachtungsmöglichkeit. Ich schreibe nicht zum ersten Mal alle möglichen Couchsurfer Portlands mit meinem Standardtext an. Neben dem Standardtext muss man noch mit mindestens 100 Zeichen erklĂ€ren, weshalb man ausgerechnet bei der angeschriebenen Person unterkommen möchte. Was ein Quatsch. Oftmals muss man sich â€“ aufgrund mangelnder Informationen auf der Profilseite der einzelnen Surfer â€“ irgendeinen Bullshit aus den Fingern saugen: »I’m sure we will have great conversations and a good time together, because â€Š uhm â€Š because you also like traveling.«
Das wird natĂŒrlich knackiger formuliert. Mir geht’s gehörig auf den Sack. Ich kenne die Leute nicht, die Leute kennen mich nicht: Wenn du gerade Zeit und Lust auf Besuch hast, dann lass uns halt einfach treffen und schauen, ob es funktioniert.

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Der Regen lĂ€sst nicht nach und es sieht auch nicht so aus, als hĂ€tte er in naher Zukunft vor damit aufzuhören Portland zu ertrĂ€nken. Trotz des miesen Regens freue ich mich, wieder Neues zu entdecken. Der Hawthorne Boulevard bietet zudem einiges an Schauwert: Die Straße ist voll von Shops und Restaurants. Alles hier ist irgendwie alternativ, vegetarisch, vegan, grĂŒn, indisch oder buddhistisch.
Ich gehe in den Blue Butterfly, einem Laden, der von tibetischen Gebetsfahnen ĂŒber Bambuswindspiele und TraumfĂ€nger bis hin zu indischer Himalajamode alles verkauft, was das Buddhisten-, Hippie- oder Globetrotterherz höher schlagen lĂ€sst. Der VerkĂ€ufer hat zwar nicht die besten ZĂ€hne, dafĂŒr aber ein offenes Ohr und freundliche Worte fĂŒr den deutschen Touristen mit dem großen Rucksack.
Direkt zwischen dem Blue Butterfly und dem Nachbarhaus, welches ein »center for holistic health« beherbergt â€“ was auch immer das ist â€“, befindet sich ein kleiner Bauwagen mit zwei Schornsteinen. Hier verkauft der »Cultured Caveman« street food. FĂŒr einen einfachen Straßenimbiss klingt das MenĂŒ aber viel zu gourmetlastig: Grass Fed All Meat Chili, Ginger Carrot Kale Salad, Bacon Egg Frittata Muffin, Beet and Walnut Salad, Rainbow Rosemary Fries, Bacon Almond Dates, Paleo Popsicle und Paleo Chicken Tenders.
Ich möchte wieder dem Regen entfliehen und gehe in den New Seasons Market, einem großen Supermarkt, bei dem es so lustig exotische Dinge wie »natural« Tacos gibt. Sind das BlĂ€tter? Ich bestaune die Packung eine Zeit lang und werde nicht wirklich schlauer. Das sind doch BlĂ€tter mit GewĂŒrzen drauf! Die Auswahl im New Seasons ist riesig. Das meiste wurde biologisch und im Pazifischen Nordwesten, also lokal angebaut, vieles ist vegetarisch oder gar vegan und einen Deli mit frisch zubereitetem Essen gibt es auch noch.

<center>Ein bisschen Geografie am Beispiel einer Supermarktkette</center>
Die 1999 von drei Familien und 50 ihrer Freunde gegrĂŒndeten New Seasons SupermĂ€rkte gibt es nur in der Metropolregion Portlands. Da Portland im Norden vom Columbia River begrenzt wird und sich auf der anderen Seite direkt die erste Stadt des Bundesstaates Washington befindet, operieren die New Seasons SupermĂ€rkte aber in zwei US-Staaten. Die Stadt auf der anderen Seite des Flusses heißt ĂŒbrigens Vancouver, hat 160.000 Einwohner und ist wie gesagt eine Stadt in Washington, USA, und nicht in Kanada.
Der angesprochene Columbia River ist mit knapp 2000 Kilometern LĂ€nge der grĂ¶ĂŸte und wasserreichste Fluss im westlichen Nordamerika. Der gut 386 Kilometer lange Willamette River, der quer durch die Stadt fließt, mĂŒndet in den Columbia River. Der Ursprung des Willamette River liegt circa 180 Kilometer sĂŒdlich von Portland in Springfield. Springfield ist wiederum ein NachbarstĂ€dtchen von Oregons zweitgrĂ¶ĂŸter Stadt Eugene. Oregons grĂ¶ĂŸte Stadt ist mit ungefĂ€hr 590.000 Einwohnern jene Stadt, in der es laut einem Etikett im New Seasons Market 366 Tage im Jahr regnet: Portland. Juchhe. Das heißt dann wohl, dass ich mich besser an den Regen gewöhne.

Ich habe Hunger, stelle aber fest, dass eine warme Mahlzeit im Supermarkt nicht wirklich preiswerter ist als ein Restaurantbesuch. Im Internet habe ich mich ĂŒber veganerfreundliche Restaurants schlaugemacht und das Vege Thai auf dem Hawthorne Boulevard entdeckt. Ein rein veganes Thai-Restaurant, in dem man also nicht: »Ohne Fischsoße etc.«, sagen muss. Klingt super. Das Essen ist gut, haut mich aber nicht vom Hocker. Am Nachbartisch sitzt ein Postbote, der offensichtlich zur Stammkundschaft gehört. Ich unterhalte mich mit der Kellnerin, die vermutlich auch die Chefin ist und frage sie nach kurzem GeplĂ€nkel, aus welcher Stadt Thailands sie stammt. Da ich Thailand 2010 nahezu komplett bereist habe, gehe ich davon aus, dass ich ihre Heimatstadt kennen dĂŒrfte und kurz mit ihr darĂŒber quatschen kann. â€“ Ich habe von ihrem Heimatort noch nie etwas gehört â€Š DafĂŒr erzĂ€hlt sie mir ein wenig vom Postboten, der beinahe jeden Tag zum Mittagessen vorbei kommt â€“ und das, obwohl er noch nicht einmal Vegetarier ist. Er mag eben einfach das Essen. Oder am Ende sogar die Chefin?
Als ich das Restaurant verlasse, möchte ich einen Verdauungskaffee trinken und mich mit Einheimischen unterhalten. Auf der anderen Straßenseite erspĂ€he ich die Terrasse eines sehr gemĂŒtlich aussehenden CafĂ©s: The Hazel Room. Auf der Veranda sitzt ein Kerl mit langem, braunem Vollbart und nackenlangem Haar. Er raucht eine Kippe und sieht wie ein ziemlich entspannter Typ aus. Na, den quatsche ich an, beschließe ich und steuere auf die Stufen des CafĂ©s zu. Ich betrete den Vorbau, lĂ€chle den Fremden freundlich an und gehe auf ihn zu. Als er mich sieht, lĂ€chelt er nicht zurĂŒck, sondern zieht seine Augenbrauen zusammen. Er scheint nachzudenken. Sein Zeigefinger streckt sich langsam und deutet auf mich. Ah, er glaubt mich zu kennen.
»You don’t know me. I’m from Europe and just arrived â€ŠÂ«
»You’re Dennis from Germany. You’re a filmmaker!«
»HĂ€?!«, kommt es lauter als erhofft aus mir heraus. Was zum â€Š? Man kennt mich in Portland? Ich muss mich setzen und schaue ihn genauer an. Kenne ich ihn auch? Nein. Auf keinen Fall. Woher denn auch?
»How do you know my name and where I’m coming from and â€Š?«
»You sent me a couch request like two weeks ago.«
Ach so, das erklĂ€rt einiges. In meinem Vorstellungstext auf couchsurfing.org schreibe ich, dass ich Filmemacher aus Deutschland bin. Das klingt interessanter als: »I’m a nice guy from Germany.« Schließlich muss man bei potenziellen Gastgebern ja auch eine gewisse Neugierde wecken, um die Chancen einer Einladung zu erhöhen. Er selbst hat weder ein Profilbild noch irgendetwas auf seinem Profil ausgefĂŒllt, erklĂ€rt mir der BĂ€rtige. Deswegen ist es auch fĂŒr mich unmöglich, ihn wiederzuerkennen. Die meisten Leute schreiben User wie ihn nicht an, da sie keinerlei Informationen ĂŒber sich preisgeben und somit »gruselig« sein könnten. Ich hingegen schreibe auch Hosts wie den Kollegen neben mir an und denke mir dabei, dass sie wohl nicht gruseliger als andere sein werden. Und wenn mir der Gastgeber nicht gefĂ€llt, haue ich eben wieder ab.
»Did you answer my request?«, frage ich ihn.
»Yes, I told you that you can stay on my couch«, antwortet er. Komisch, daran erinnere ich mich gar nicht. Ich erzÀhle ihm, dass mich ein paar Tree Hugger, die mir einen Ride geben wollten, einfach nie abgeholt haben und ich deswegen erst gestern, eine Woche spÀter hier angekommen bin.
Die Unterhaltung mit ihm ist angenehm und ich mag seine freundlichen, dunkelbraunen Augen.
»So, is your couch available?«, frage ich ihn einfach mal direkt.
»Sure! Yes!«
Er springt schon fast von seinem Stuhl auf, mit solch einer Inbrunst lĂ€dt er mich ein. Lustiger Vogel. Ich frage ihn, was er so macht. Er sucht gerade »seinen Weg«, sagt er und weiß noch nicht so recht, was er beispielsweise heute machen soll. Er will den Tag aber mit Leben fĂŒllen.
»Let’s do it together!«, schlage ich vor, »What’s your name?«
»I’m Brian. Let’s get inside and drink something.«
Rock und Roll.

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<center>The Hazel Room</center>
Der Hazel Room hĂ€lt nicht nur, was die Terrasse verspricht. Nein, innen ist es sogar noch gemĂŒtlicher als ich es von außen erwartet hatte. Betritt man das HĂ€uschen, steht man zunĂ€chst einmal vor zwei TĂŒren. Die rechte TĂŒr fĂŒhrt ins ModegeschĂ€ft Mag-Big und die linke in den Hazel Room â€“ der ĂŒbrigens eine Tea Lounge und kein Coffeeshop ist. Im Hazel Room fĂŒhlt es sich ein bisschen so an, als wĂ€re man in einem Kaffeehaus in Wien. Das Mobiliar aus dunklem Holz steht auf einem Parkettboden. Die Tapete ist wie bei Oma und neben dem Kamin aus rotem Backstein steht eine Sitzbank, die nach 19. Jahrhundert aussieht. Passend platzierter Kitsch aus Keramik steht dezent auf dem Sims des Kamins und mich wĂŒrde es nicht wundern, wenn die Deckenbeleuchtung tatsĂ€chlich noch mit Gas betrieben wĂŒrde. In einer Kuchentheke mit Glasfront wird das Flaschenbier diverserer Mikrobrauereien gekĂŒhlt. Die Bar aus dunklem Holz mit einer BordĂŒre aus platinfarbenen Aluminiumkacheln nimmt den hinteren Teil der Lounge ein. Teedosen, die ĂŒblichen Spirituosen und eine Kaffeemaschine sind vor einer schwarzen Tafelwand aufgereiht, auf der die angebotenen Speisen und GetrĂ€nke aufgelistet sind. Auf einem Schild am Tresen wird das Tagesspezial, Mustard Tofu »Egg« Salad, angeboten. Davor steht eine Porzellantasse samt Untertasse, in der ein Löffelchen steckt, das von kleinen Bonbons umringt ist. Auf einem Schildchen neben der Tasse steht: »Coffee breath? Have a ginger mint!!! Ăą™Â„« Eine stilsichere SchĂŒssel mit Glashaube bietet niedliche KuchenstĂŒckchen an: die Portland Rainbow Cookies, die tatsĂ€chlich mit knalligen Regenbogenfarben unter der Schokoladenkruste aufwarten.

Brian und ich setzen uns an den Tresen. Dahinter bereitet die hĂŒbsche Bedienung gerade etwas zu. Mein neuer Kumpel spricht sie an: »Hey, this is my new friend Dennis from Germany. He just arrived in Portland and he’s a filmmaker!«
Sie schaut zu uns auf und lĂ€chelt mich an: »Welcome to Portland, Dennis! I’m Katie.«
Sofort beginnt eine richtig nette Unterhaltung zwischen Brian, Katie und mir. ZunĂ€chst mĂŒssen wir ihr erzĂ€hlen, auf welch lustige Art und Weise Brian und ich uns soeben auf ihrer Terrasse kennengelernt haben. Katie ist gemeinsam mit ihrem Verlobten Christopher die Besitzerin des Hazel Room, welchen sie 2011 eröffnet und nach Katies Uroma benannt haben, die wĂ€hrend der Prohibition ein Teehaus beziehungsweise Speakeasy, also eine illegale Kneipe fĂŒhrte. Katies Schwester Sonya arbeitet ebenfalls hier. Ich frage die beiden, ob sie so richtig original aus Portland stammen. Portland ist extrem hip und teilt das Schicksal, das beispielsweise auch Berlin hat: Kaum ein Mensch, der dort lebt, kommt auch ursprĂŒnglich von dort. Es gibt sogar eine Fernsehserie namens »Portlandia«, die sich humoristisch mit dem Hipstertum in Portland auseinandersetzt. Viele Menschen in Portland reden von dieser Serie.
»No, Oakland«, lautet ĂŒbrigens die Antwort der Schwestern.
»I got shot at in Oakland!«, prahle ich ironisch und deppenhaft grinsend.
»East Oakland?«, fragt mich Sonya.
Faszinierend.
Noch faszinierender ist allerdings Katies Reaktion, die â€“ leicht angestachelt durch ihre Schwester â€“ kurz mit Mimik und Gestik einen auf Gangster macht und dann unerwarteterweise mit beiden HĂ€nden ihre Unterlippe nach unten klappt. Äh, was wird das, wenn’s fertig â€Š? Ui! Uiuiui! Haha! Das ist ja sagenhaft! Unglaublich! Ich schmeiße mich weg: Auf der Innenseite von Engel Katies Unterlippe ist doch tatsĂ€chlich in schwarzer Schrift »OAKLAND« tĂ€towiert. Wer hĂ€tte in dieser Person solch eine GangsterattitĂŒde erwartet. Ich bin hin und weg.

The Hazel Room: Though the location has taken many forms, soon to be married proprietors Katie & Christopher have returned the building to its former majesty and created their own unique, tea house inspired atmosphere that mixes the Victorian old-world aesthetic with local modern art and music. Named in honor of Katie’s Great Grandmother who ran a tea house/speakeasy during the prohibition, The Hazel Room offers a unique Tea & Coffee Cocktail menu, Wine, Beer & Absinthe, along with gourmet sandwiches, in-house baked goods and a weekend boutique brunch all in the warmth of a cozy classic space.<span class="su-quote-cite"><a href="https://www.thehazelroom.com/" target="_blank">The Hazel Room</a></span>

Da ich ihr Unterlippeninnenseitentattoo nun kenne, traue ich mich, Katie auf den Sinn der TĂ€towierung auf ihrem linken Unterarm anzusprechen: ein Fahrrad.
»It’s a tandem«, antwortet Katie. »I’m a twin.«
»No way, my sisters are also twins!«
»Identical?«, fragt sie.
»Yep.«
»We are not identical.«
»Maybe better that way.«
Sorry Twins, schlechter Scherz. Sonya ist ĂŒbrigens nicht die Zwillingsschwester. Die beiden haben viele, sehr viele Geschwister.
Katie fragt, was wir trinken möchten. Brian ordert harten Alkohol. Dann wird aus meinem Verdauungskaffee wohl ein Verdauungsbierchen.
»What beer?«
»What beer do you have?«
Katie geht zum BierkĂŒhlschrank und stellt mir die einzelnen Sorten vor. Da ich noch immer nicht so recht weiß, welches amerikanische Bier mir schmeckt, lasse ich mir von ihr ein Bier empfehlen. Sie mag ein Bier, an dessen Entstehung Fische beteiligt sind. Bitte, was? Ist das noch vegan? Werden die dafĂŒr anstĂ€ndig behandelt und bezahlt? Ich nehme lieber ein White IPA.
Als Katie kurz in der KĂŒche verschwindet, fragt mich Brian, ob ich nicht auch denke, dass sie wie Natalie Portman aussieht. Hm, tatsĂ€chlich. Irgendwie kam mir ihr Gesicht bekannt vor und Natalie Portman trifft es wirklich ganz gut.

An den WĂ€nden hĂ€ngen GemĂ€lde. Ich frage Katie, ob dies die Werke von lokalen KĂŒnstlern sind. Sie bestĂ€tigt meine Vermutung, ergĂ€nzt, dass man sie kaufen kann und dass sie generell die Kunstszene Portlands im Hazel Room unterstĂŒtzen. So finden auch kleine Konzerte in der Tea Lounge statt. Das stelle ich mir sehr gemĂŒtlich vor: ein Feuer im Kamin, in der Ecke ein Singer-Songwriter mit Akustikklampfe und auf dem Boden und den StĂŒhlen davor die Kaffee, Tee und Bier trinkenden Zuhörer.
Ich frage, wo die Toilette ist. Die ist im ModegeschÀft nebenan. Direkt neben der Theke des Hazel Room gibt es einen offenen Durchgang ins Mag-Big. Der kleine Laden ist niedlich. In ihm werden die Mode und der Schmuck lokaler Designer verkauft. In Portland scheint man viel Wert auf Lokalkolorit zu legen.

Mag-Big is a retail shop for local artists and designers. Our goal is to foster Portland small production in an ever-expanding array of apparel, jewelry, housewares, body care, visual art, and craft design. In addition to consigning products from hundreds of local designers, we have a curated wall space for visual artists, and will feature monthly art openings for public viewing.<span class="su-quote-cite">Mag-Big</span>

Brian ist wieder auf der Terrasse, raucht eine Kippe und unterhĂ€lt sich mit einem langhaarigen Blonden. Der Kollege heißt Logan und ist ebenfalls ein Couchsurfer. Er erzĂ€hlt uns, dass heute Abend eine Couchsurfing-Party in einer Kneipe steigen soll. Er ist sich allerdings nicht sicher wann genau und wo. Das lĂ€sst sich aber einfach online recherchieren. Ist auf jeden Fall mal eine Überlegung wert.
Als wir wieder reingehen, werden wir von einem Mann angesprochen, dessen Alter ich unmöglich einschĂ€tzen kann. Er kleidet sich wie ein Opa, trĂ€gt einen Hut und einen Schal. Auch seine Gestik erinnert eher an Ă€ltere Menschen. Irgendwie hat all das aber wiederum einen Ă€ußerst speziellen Style, der auf seltsame Weise erschreckend cool ist. Außerdem erinnert er mich an einen 20 Jahre jĂŒngeren Tom Waits. Auf jeden Fall quatscht er uns nicht nur an, sondern auch zu. Sein Name ist Hogan â€“ und das ist kein schlechter Scherz: ein Logan und ein Hogan innerhalb von zwei Minuten. Hackeldiewutz! Er forscht in Motoren und erzĂ€hlt Brian und mir von seinen Forschungen, die er mit einem Volvo gemacht hat. Es klingt revolutionĂ€r und vermutlich wird er irgendwann die Welt retten. Mich interessieren aber trotz der Verfolgungsjagd in Oakland Autos immer noch nicht. Brian scheint dafĂŒr umso interessierter zu sein. Er streichelt seinen Bart unterhalb des Kinns â€“ eine Bewegung, die ich hiermit zu seinem Markenzeichen erklĂ€ren möchte â€“ und hört dem schrulligen jungen/alten Tom Waits, der irgendwo zwischen 37 und 66 pendelt, angeregt zu.
Eine Beobachtung, die ich heute gemacht habe, ist die, dass die Leute in Portland auf der Straße nicht so offensiv freundlich oder kommunikativ zu sein scheinen wie in San Francisco. Sie sagen nicht zu jedem: »Hi! How are you?«, dafĂŒr hören sie nicht mehr auf zu erzĂ€hlen, wenn sie erst einmal anfangen. Hogan ist bislang der ungeschlagene Meister in dieser Disziplin.
Brian ist mit Freunden zum Abendessen beim Vietnamesen verabredet. Wir verlassen also den wunderbaren Hazel Room, Katie und Sonya und fahren mit Brians Auto zum Restaurant. Eines sei bereits jetzt verraten: In den Hazel Room werde ich mich noch öfter verirren. Außerdem wĂŒrde ich ihn als einen meiner absoluten Lieblingsorte in Portland bezeichnen. Ein wirklich großartiger Ort mit tollen Menschen!
Brians Freunde â€“ zwei Typen und ein MĂ€del â€“ sitzen bereits am Tisch, als wir kommen. Das MĂ€del redet nicht wirklich viel und wirkt etwas skurril. Der eine Kumpel hat einige Zeit lang in Chiang Mai gelebt, meiner Lieblingsstadt in Thailand. Das ist natĂŒrlich direkt mal GesprĂ€chsstoff. Der Dritte im Bunde, Michael, ist einer von Brians Buddhistenfreunden. Das ĂŒberrascht mich: Brian ist praktizierender Buddhist?
»Ah«, wiegelt Brian ab, »I’m a bad buddhist.«
Das Essen ist gut und Brians Freunde sehr angenehme Zeitgenossen. Nach dem Essen lÀdt Michael uns zu sich nach Hause ein. Da Brian auch beim Vietnamesen davon erzÀhlt, wie wir uns kennengelernt haben und dass ich Filme mache, wollen die beiden nun »Erinnerungen« sehen.
In Michaels spartanisch eingerichteter Wohnung hĂ€ngt ein Bild des Dalai Lama. Auf dem Wohnzimmertisch stehen und liegen einige GlĂŒckwunschkarten. Ich frage Michael, ob er kĂŒrzlich Geburtstag hatte.
»Yes, the dinner was actually my birthday dinner.«
Bei Brian geht die Kinnlade nach unten: »That was your birthday dinner tonight?«
Ein weiterer Freund kĂŒndigt telefonisch an, samt Mutter ebenfalls vorbeizukommen. Die FilmvorfĂŒhrung wird also noch etwas hinausgezögert, sodass auch Ulric und seine Mutter Mariza den Streifen zu sehen bekommen.
Als Ulric und Mariza wenige Minuten spĂ€ter die Wohnung betreten, freut es mich zu sehen, dass Ulric offensichtlich dem Punkrock nahesteht. Das könnte also meine Begleitung zu einem Pogotanzabend in Portland sein. Ulric ist ein mir sofort sympathischer homosexueller Anarcho-Punk, der zu je 50 % Brasilianer und Franzose ist. Mutter Mariza ist fĂŒr die 50 % Brasilien verantwortlich. Ulric redet viel von Politik, was er erstaunlicherweise auch sehr gut auf Deutsch kann. Mutter Mariza ist zuckersĂŒĂŸ und spĂŒrbar stolz auf ihren Sohn.
Ich platziere mein Publikum auf der einzigen Couch der Zwei-Mann-WG und schalte mein Notebook ein. Zum zweiten Mal innerhalb von 24 Stunden wird mein Film in Portland bei einem Wohnzimmerscreening vorgefĂŒhrt. Als der Film eine viertel Stunde spĂ€ter vorbei ist, kann ich mich vor Lob kaum retten.
»You’re the first filmmaker I met who actually made a real film. That’s an awesome movie!«, lobt Michael.
Ulric, Mariza, Brian und ich verabschieden uns von Michael und fahren zu Ulrics Wohnung. Er verspricht Gras und Bier, um den Abend ausklingen zu lassen. Das Gras haben Mama Mariza und er bereits zu Hause, das Bier muss erst noch gekauft werden. Also geht’s erst einmal in einen Convenience Store. Portland scheint eine wahre Bierstadt zu sein: Die Auswahl ist groß und die farbenfrohen Etiketten lustig. Das Bier schmeckt in Amerika zwar nicht halb so gut wie bei uns, dafĂŒr schlagen uns die Amis mit der KreativitĂ€t ihrer Biernamen und -etiketten: Da hĂ€tten wir beispielsweise das Newcastle Werewolf Beer oder das Shock Top, dessen Etikett ein OrangenstĂŒck mit Gesicht, Sonnenbrille und Irokesenschnitt ziert. Das grĂŒne Etikett des Sierra Nevada Pale Ale kommt mit einem eigentlich kitschigen Landschaftsbildchen daher, ĂŒberzeugt dann doch aber auch wiederum mit einer gewissen Old-School-Coolness. Das Anchor Steam Beer sieht aus, als wĂ€re es noch von Piraten persönlich gebraut worden, die dann auch noch einen Fetzen ihrer Schatzkarte aufs FlĂ€schchen geklebt haben. Apropos FlĂ€schchen: Die Sixpacks kommen in einem lustigen Tragekarton daher, der unsere deutschen Sixpacks ganz schön alt aussehen lĂ€sst. Wir kaufen ein IPA und damit ist genug vom Bier berichtet.
Ulric wohnt in einer WG mit der rothaarigen Melody, die eigentlich fĂŒr die Schule lernen muss. FĂŒr ein schnelles Bierchen und das kurze Kennenlernen neuer Menschen ist aber immer Zeit. Also gesellt sie sich zu uns und kann sich weder von uns noch vom Bier so recht trennen. Es wird zwei Uhr, bis sie ins Bett kommt.
Wie bereits erwĂ€hnt, ist Mama Mariza Brasilianerin. Sie kifft gerne und viel. Ulric kann ihre Holzpfeife allerdings nicht ausstehen. Die Dame ist wahnsinnig lustig, was sie ĂŒbrigens auch schon war, bevor sie ihr Pfeifchen geraucht hat. Die Frau mit den rotbraunen Haaren und Brille lebt mal in Porto Alegre, mal in Portland und auch Paris. Sie will sich nicht auf einen Ort festlegen und beschrĂ€nken. Sie ist stolz auf ihren Ulric und steht anscheinend voll hinter seinen anarchistischen Ansichten. Zudem akzeptiert sie offensichtlich zu 100 % seine HomosexualitĂ€t und wirkt wie ein Kumpel ihres Sohnes. Ich glaube, die beiden lieben sich sehr.
Je spÀter, betrunkener und bekiffter der Abend wird, desto ulkiger wird Brian. Er stellt sich im Wohnzimmer auf und hÀlt plötzlich eine herzergreifende Rede, in der er mich und meinen Film zum Thema macht.
»I admire that you showed us your movie and that you came with us tonight and want to stay with me«, beendet er seinen Monolog. So nette Worte von einem Menschen, den ich erst vor wenigen Stunden kennengelernt habe, sind rĂŒhrend. SpĂ€testens jetzt fĂŒhle ich mich aufs Allerherzlichste willkommen.
»Serendipity«, kommt es mir wieder in den Sinn. »Die Gabe, zufĂ€llig glĂŒckliche und unerwartete Entdeckungen zu machen.« Ich habe offensichtlich einen Lauf. Hoch die Tassen! Portland und seine Menschen gefallen mir jetzt schon verdammt gut! Und Ulric packt sein Akkordeon aus. Let’s party!
WĂŒrden Brian und ich nicht noch um drei Uhr nachts in den »coolest coffee shop in town« weiterziehen, wĂ€re dies mein wunderbarer Abschlusssatz fĂŒr den heutigen Tag. Da es aber andernorts weitergeht, kommt noch ein Absatz:
Es ist also drei Uhr nachts und der Laden in der SE Powell Street, Ecke SE 13th Place ist voll. Der laut Brian coolste Coffeeshop Portlands heißt Southeast Grind und ist rund um die Uhr geöffnet. Die Leute sitzen entweder mit ihren Laptops an den Tischen oder unterhalten sich, wĂ€hrend sie sich mit Kaffee wach halten, bevor ihre Partynacht zu Ende geht. Es gibt StĂŒhle, Sessel und Sofas. Brian und ich sitzen am Tresen und unterhalten uns mit dem Kaffeemann. Brian erzĂ€hlt ihm gerade, wie wir uns getroffen haben, als die zwei neben uns sich in die Unterhaltung einmischen. Sie fragen interessiert, woher ich komme und was ich hier mache. Also erzĂ€hle ich ein wenig von meinem bisherigen Trip und sie sind fasziniert. Ich auch. Es macht einfach Spaß und die Erlebnisse sind fĂŒr dreieinhalb Wochen wirklich schon reichlich.
Feierabend: Brian fĂ€hrt uns zu seiner Wohnung. Er lebt mit einem Mitbewohner im Obergeschoss eines kleinen HĂ€uschens. Als Brian die TĂŒr öffnet, sehe ich als Erstes eine schmale Treppe, die sich ins obere Stockwerk zieht. Es ist jedoch nicht so einfach die Treppe hinaufzusteigen, da ein LĂ€ufer, der in keiner Weise mit den Stufen verknĂŒpft ist, sich die Stufen hinaufwellt. Manch eine Stufe kann man deswegen erst gar nicht benutzen; zu groß ist die Welle, die der Teppich schlĂ€gt. Der Rest der Wohnung ĂŒberzeugt ebenfalls mit purem Chaos. Ja, wenn am 21.12. der Meteorit einschlĂ€gt, kann er hier nicht mehr allzu viel verwĂŒsten.
Brian informiert noch schnell den sich schon lĂ€ngst im Traumland befindlichen Mitbewohner ĂŒber den unerwarteten Besuch aus Deutschland. Der Hausgenosse bleibt benommen cool und antwortet aus der Dunkelheit seines Zimmers heraus: »Huh? Yes. Cool. Good night.«
Good night.

Quellen
Informationen ĂŒber Portland, den New Seasons Market, den Willamette und den Columbus River: Wikipedia

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