Tag 29: Das Crafty Wonderland, ein amerikanischer Volkssport und die jüdisch-lesbische Anarchohochzeit

Serendipity – Teil 1

2012 12 08 Beitragsbild

Samstag, 8. Dezember 2012
Portland

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Als Cari und ich aus unserem großen gemütlichen Bett und dem etwas modrig riechenden Hostelzimmer auschecken, wundern sich die Rezeptionistinnen darüber, dass wir kein Gepäck haben. Eine dritte Rezeptionistin, die gerade mit etwas anderem beschäftigt ist und die bei Weitem älteste des Trios ist, bekommt dies mit und sprintet mit hochrotem Kopf zu ihren unerfahreneren Kolleginnen. Ich glaube, dass wir gestern Abend auch bei ihr eingecheckt haben. Sie bringt die beiden zum Schweigen und lächelt uns verlegen an: »Everything okay. You can leave.«
Kaum haben wir das Hostel verlassen, lachen Cari und ich lauthals los und stellen uns vor, was die Rezeptionistin ihren beiden Kolleginnen jetzt wohl gerade erzählt: »Those two guys just came to … you know …«
In der Aufregung vergessen die Damen sogar, sich von uns die Keycards zurückgeben zu lassen. Wir denken ebenfalls nicht daran und bemerken erst wesentlich später, dass wir die Schlüssel noch immer bei uns haben.
Wir wollen frühstücken und Kaffee trinken. Also geht’s in Richtung Downtown. Das Hostel befindet sich in dem Teil der Stadt, der sich westlich der Interstate 405 erstreckt. Wie es der Willamette River im Osten tut, scheint die Schnellstraße die Downtown im Westen zu begrenzen.
In der SW Morrison Street kommen wir am Jeld-Wen Field vorbei, dem Fußball- und Footballstadion der Stadt, in dem die Major-League-Kicker der Portland Timbers und die Vikings, das Footballteam der Portland State University, zu Hause sind. Gut sechs Meter hohe Plakate von männlichen und weiblichen Models, die mit Äxten posieren, hängen über den Eingängen des Stadions und sollen dem Gegner vermutlich … ähm … Angst machen. Schließlich hätte das Fußballteam im Deutschen einen so ehrfürchtig harten Namen wie Portland Balken … oder Portland Schnitthölzer … oder Portland Nutzhölzer oder … ach ja: der Amerikaner und die Benennung seiner Sportmannschaften. Im grünen Portland dürfte der Name aber immerhin einen gewissen Sinn ergeben. Es gab hier auch mal ein Lacrosse-Team, das sich LumberJax nannte, höhö. Ich frage mich aber beispielsweise auch schon ab und an mal, was Utah mit Jazz und das alles wiederum mit Basketball zu tun hat. Als ich später im Internet nach den blödesten Namen für Sportmannschaften recherchiere, wird meine Frage bezüglich des Basketballteams aus Utah beantwortet: Die Mannschaft stammt ursprünglich aus New Orleans. Das ergibt dann schon wesentlich mehr Sinn, wobei sich dadurch für mich gleich wieder die nächste Frage stellt: Wie kann man Fan einer Mannschaft bleiben, die mal eben von einer Stadt in eine 3000 Kilometer entfernte Stadt umzieht? Steigt in solchen Städten die Selbstmordrate bei Sportfans, wenn diese nicht mehr in die Arena gehen können, weil da plötzlich niemand mehr spielt? Fast noch schlimmer muss es sein, wenn ein Team nicht so weit wegzieht. Da fallen mir die Oakland Raiders ein, deren cooles Logo ich in Oakland und sogar in der 49ers-Stadt San Francisco sehr häufig auf Mützen, T-Shirts und Pullis gesehen habe. Die sind von 1982 bis 1994 mal eben schnell nach Los Angeles umgezogen! Hallo? Das sind – für amerikanische Verhältnisse – ja fast schon Nachbarstädte. Derbygegner! Erzfeinde! Selbst 49er-Fans dürften darüber traurig gewesen sein: Der scheiß Nachbar, der gerade mal eine Brücke weiter wohnt, auf dessen Zerlegung man sich beim Derby so freut, existiert plötzlich nicht mehr! Man stelle sich mal vor: Ab nächster Saison gibt’s die schwarz-gelbe Borussia Gelsenkirchen und – was für mich als Rheinhesse eine Horrorvision wäre – der 1. FSV Wiesbaden 05. Kotz, würg, pfui. Schnell an was anderes denken. Singen! Das hilft: »Auf ihr Brüder in die Pfalz, wo de Vadder mit de Inzucht uff de Betze fährt! Auf ihr Brüder in die Pfalz, wo de Vadder uff de Sex mit de Dochter steht!«
Ach, schon besser – und Cari gefällt’s auch.
Die armen Amerikaner. Ob die den einzigen »Hass«, der uns Europäern Spaß und Freude bringt, auch nur im Ansatz nachvollziehen können? Sobald ich in Seattle bin, muss ich Leo fragen. Wie ich Facebook entnehmen kann, ist der nämlich dem Fußball treu geblieben und Fan der Seattle Sounders. Schon wieder so ein komischer Name. Machen die Krach, oder was?
Raus aus den Gedanken und zurück auf die Straße: Dadurch, dass dem Jeld-Wen Field eine Haupttribüne zu fehlen scheint und sich der Rasen unter dem Straßenniveau befindet, sieht das halbrunde Stadion in meinem Augen recht ulkig aus. Ich vermute, dass es eigentlich für Baseball konzipiert wurde. Portlands unterklassiges Baseballteam, die Beavers, spielen allerdings nicht mehr im Jeld-Wen Field. Ach ja, Jeld-Wen Field: schon wieder ein seltsamer Name. Wie es tragischerweise so üblich ist – diesseits und jenseits des großen Teichs –, wurde der ursprüngliche Name des kleinen Stadions an eine Firma verkauft. Es ist auch die bereits zweite kapitalismusgeprägte Namensänderung in der Geschichte des Stadions. Was bin ich froh, dass mein FC St. Pauli bei dieser Kacke nicht mitmacht – äh, ja: Bei mir regieren St. Pauli und Mainz. Ursprünglich hatte man das Stadion nach den Multnomahs benannt, den Ureinwohnern der Gegend.

<center>Die Multnomahs</center>
Die Multnomahs kultivierten und ernährten sich von Wappato, einer Uferpflanze, die in Deutschland wohl eher als die Teichzierpflanze Breitblättriges Pfeilkraut und beim Otto Normalamerikaner als duck potato bekannt ist. Neben dem Konsum von Wappato stand auch Elchfleisch und das, was der Willamette River hergab, auf der Speisekarte der Multnomahs: Lachse, Aale, Störe und Wasservögel. Der weiße Mann benannte den Fluss auch zunächst nach dem überschaubaren Stamm, der 1830 vermutlich durch Malaria nahezu ausgerottet wurde.

Melissa meldet sich bei Cari und fragt, ob wir mit ihr und einem Kumpel ins »Crafty Wonderland« gehen möchten.
Höhö, wohin?
»It’s Portland’s biggest arts and crafts exhibition«, klärt Cari mich auf.
Ja, geil, da sind wir dabei!

<center>Die Multnomahs</center>
Das Crafty Wonderland ist eine zweimal jährlich stattfindende, riesige Kunsthandwerksmesse im Oregon Convention Center. Die Geschichte des Crafty Wonderland begann im April 2006 als monatliches Kleinevent in einer Lounge in Portland. Das Konzept kam sowohl bei den Besuchern als auch bei den Händlern gut an und wurde über Portlands Grenzen hinaus bekannt. Im Herbst 2009 musste die Idee allerdings aufgrund der Popularität und des Arbeitsaufwands der Veranstalter überarbeitet werden. Man entschied sich dazu, das Crafty Wonderland nur noch alle sechs Monate, dafür aber wesentlich größer stattfinden zu lassen.

Wir fahren mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zum Kongresszentrum im NE Martin Luther King Jr. Boulevard – oder im NE MLK Blvd, wie man es hier abkürzen würde. Selbst auf einigen Straßenschildern ist anstelle des kompletten Straßennamens nur die Abkürzung zu lesen. Das weiße Gebäude ist von außen sehr flach. Zwei gläserne Türme wachsen aus dem überirdisch nur einstöckigem Gebäude, das eine Fläche von gut zwölf Blocks einnimmt. Dort, wo wir die Straßenbahn verlassen, steht eine Statue vom Namensgeber der Straße. Die Inschrift am Fuße der bronzenen oder kupfernen Plastik ist ein Exzerpt aus Kings »I Have a Dream«-Rede vom 28. August 1963.
Wir treffen auf Melissa und deren Kumpel Duncan, der trotz niedriger Temperaturen und dem chronischen Regen nur eine kurze rote Jeans trägt, die auch schon fast als Hotpants durchgehen könnten. Duncan verdient sein Geld auf unterschiedlichste kreative Weise, zum Beispiel mit der Anfertigung von Schokoladenskulpturen. Melissa trägt heute eine hipstermäßige Hornbrille. Portland, Baby! Ich habe zuvor noch Ulric Bescheid gegeben, der sofort zusagte und auf dem Weg ist. Also warten wir noch kurz auf ihn, bevor wir die Messehalle und somit das Crafty Wonderland betreten.

With a rotating line up of talented vendors, Crafty Wonderland is the place to go to find the best handmade goods in the NW, as well as affordable work from talented visual artists. It’s an event meant to bring together crafty people with those who appreciate cool handmade items, to support artists, and to spread the joy of craft throughout our community. The show even offers a kids’ area where budding young artists can set up and sell their work! Each Crafty Wonderland features a free DIY area where local artists share their talent and teach visitors how to make a craft of their own to take home.<span class="su-quote-cite"><a href="https://craftywonderland.com/" target="_blank">Crafty Wonderland</a></span>

Es ist schön im Wonderland. Indie und DIY – Do It Yourself – werden hier nicht nur groß geschrieben, es sind die einzigen Arbeitsweisen, die man vorfindet. Das ist mir äußerst sympathisch. Natürlich ist nicht jeder Stand superinteressant, aber es ist auf jeden Fall für jeden etwas dabei. Mir bleiben beispielsweise Trixie & Milo in Erinnerung, bei denen man sehr stylishe Flachmänner kaufen kann. Ich stehe sogar einen Moment vor den bunten Behältern und überlege, ob ich nicht ab und an mal gerne mit einem Schnaps herumlaufen möchte. Ich möchte nicht. Zu schade, dass ich auch kein Alkoholproblem habe, denn die Teile sind echt fett. Die Motive reichen von klassischen Whiskeyetiketten über Frida-Kahlo-Reminiszenzen bis hin zu psychedelisch grinsenden Katzen. Ein Fläschchen mit einem Templerkreuz und der Aufschrift »Holy Water« steht neben einer Pulle, die anstelle von Weihwasser »Zombie Juice« enthält und auf der ein rotäugiger Voodoototenkopf mit Zylinder abgebildet ist.

Am Stand vom Rebicyclist Julien Jaborska werden kaputte Fahrradreifen zu coolen Gürteln umfunktioniert, und als ich vor den Bildern von Monster Kat stehe, fühle ich mich an meine beiden Lieblingsmaler Johan Potma und Mateo Dineen erinnert. Die Portlander Ausgabe eines Monstermalers erreicht zwar nicht die Klasse der beiden in Berlin ansässigen Künstler der Zozoville Gallery, gefällt mir aber trotzdem. Wie Potma und Mateo malt auch Monster Kat auf alle erdenklichen Hintergründe, ist in dieser Disziplin sogar noch extravaganter. Da werden Monster in Schallplattencover integriert und Buchseiten mit den Tierchen aufgepeppt. Tabletts und andere Holzgegenstände bekommen niedliche oder fies kindliche Monster verpasst. Es gibt Badges, Printabzüge und sogar selbst genähte Monstermützen. Da es diesen Winter in Amerika trendy zu sein scheint, sich selbst als Erwachsener lustige Tiermützen mit langen Ohrwärmern aufzusetzen, könnte ich mir vorstellen, dass Monster Kat mit diesen Kopfbedeckungen Erfolg haben wird. Animal hats sieht man wirklich ständig und überall.

Nach zwei, drei Stunden haben wir uns die komplette Messe angesehen. Melissa erzählt, dass sie gestern Nacht mit Brendan nach Hause gegangen ist, was nicht wirklich eingeplant war. Da wir schon beim Thema sind, erkundigt sich der polygame Ulric, der Weihnachten mit einer seiner Beziehungen und dessen Frau verbringen wird – sie weiß Bescheid und mag Ulric –, ob er Chancen bei Duncan haben könnte. Das muss an den Hosen liegen. Duncan ist aber nicht homo- oder bisexuell, sondern steht wohl auf Melissa. Pech gehabt – sowohl Ulric als auch Duncan, wie’s scheint.


Crafty Wonderland

Sämtliche Künstler und Händler sind auf craftywonderland.com verlinkt. Viel Spaß beim Entdecken!


Portland - Crafty Wonderland - 2012-12-08

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Ulric lädt mich ein, mit ihm auf eine Party seiner »radikalen Freunde«, wie er sie selbst nennt, zu gehen. Bei Ulric dreht sich wirklich viel um Politik. Da wir auch politisch auf einer Wellenlänge sind, will er auch viel mit mir über die linke Szene in Deutschland reden. Ich soll Pamphlete, Essays oder am besten gleich ganze Bücher der anarchistischen Literatur ins Englische übersetzen. Er selbst will dasselbe mit englischen Schriften machen, damit ein globaler Austausch der Anarchisten leichter vonstattengehen kann.
Cari und Melissa haben heute Abend leider keine Zeit, ich aber schon. Also bleibe ich mit Ulric zusammen. Der blonde Brillenträger mit dem Seitenscheitel teilt mir mit, dass seine Mutter Mariza Brian und mich am 14. zu einer vorgezogenen Weihnachtsparty einlädt. Das ist süß und ich würde liebend gerne zusagen, bezweifle aber, dass ich noch eine weitere Woche in Portland bleiben werde. Aber wer weiß das schon …
Heute ist auf jeden Fall mal radikale Punkrockparty angesagt. Hell, yeah! Die Party steigt unweit von Ulrics Wohnung. Als wir eintrudeln, wird gerade gekocht. Ich bin allerdings noch maßlos von den beiden Burritos überfressen, die ich mir im Deli des New Seasons reingezogen habe. Ulric hat mich nämlich in die Welt der Supermarkt-Delis eingeführt. Man schnappt sich Essen, das man auch in der Mikrowelle zubereiten kann, bezahlt und setzt sich damit in den Deli. Hier gibt es eine große Auswahl an kostenlosen Soßen und eben auch eine Mikrowelle. Die Burritos, die ich mir geschnappt habe, sahen eher klein aus, wurden in der Mikro allerdings nicht unwesentlich größer und liegen mir nun schwer im Magen. Das mit dem Essen in Delis werde ich mir aber merken und fortan öfter mal machen.
Das Haus, in dem gefeiert wird, ist eine WG, in der wohl auch politisch Gleichgesinnte temporär unterkommen können. So ganz habe ich das nicht kapiert, aber in der Küche hängen zudem Hausregeln, wie man sie normalerweise in Hostels findet. Die Radikalen sehen gar nicht radikal aus, was mich jetzt aber auch nicht groß verwundert. Nicht jeder Linke hat klischeehafterweise einen Iro oder lange Haare. Ich wundere mich allerdings trotzdem über die Musikauswahl. Da laufen keine Arbeiterlieder, kein Punk, Hardcore, politischer Hip-Hop oder was sonst noch szenetypisch ist. Nein, hier dröhnt R. Kelly aus den Boxen. Brr …
Bevor die Party richtig losgeht, beschließen Ulric und ich, Bier kaufen zu gehen. Als wir den Convenience Store wieder verlassen, hören wir auf einmal zwei Schreie einer Frau – dann ist wieder Ruhe. Ulric und ich schauen einander fragend an.
»Those screams were pretty intense«, merke ich an.
Wir bewegen uns in die Richtung, aus der die Schreie kamen und versuchen vergeblich, die Person, die zweimal aufschrie, zu entdecken. Stille. Wir drehen wieder um. Ich fühle mich dabei äußerst unwohl. Ich kann auch Ulric ansehen, dass er skeptisch ist. Sollten wir wirklich einfach gehen, ohne nachzusehen, ob etwas passiert ist? Plötzlich sind erneut markerschütternde Schreie zu hören. Ulric und ich müssen es erst gar nicht aussprechen: Sofort machen wir kehrt und marschieren schnellen Schrittes in die Richtung, aus der die Schreie kommen. Scheiße, wird da jemand vergewaltigt? Und was machen wir, wenn der Drecksack bewaffnet ist? Das ist im Moment aber erst einmal egal. Vielleicht können wir den Vergewaltiger ja alleine durch unsere Präsenz verscheuchen. Wir überqueren die stark befahrene Straße. Auf der anderen Seite ist eine dunkle, bewaldete Parkanlage. Unsere Schritte werden schneller. Es geht leicht bergauf. Wieder Schreie. Ich sehe Personen. Drei Stück. Sie liegen auf dem Boden. Ich sehe nackte Beine. Ich fange an zu rennen. Dem trete ich so was von in die Fresse. Ich komme näher. Zehn Meter. Sind das sechs Frauenbeine? Ich bremse etwas ab. Aus dem Nichts taucht ein Typ neben mir auf, der mir wohl ansieht, was ich vorhabe.
»What do you want?«, fragt er mich seltsam.
»What’s going on here?«, frage ich zurück.
Er erklärt mir, dass Ulric und ich uns auf dem Gelände einer privaten Psychiatrie befinden und dass das Mädel im kurzen Schlafanzug, das von den anderen beiden jungen Frauen im Schwitzkasten gehalten wird, einen Anfall hat und Hilfe benötigt. Aha? Ich bin immer noch voller Adrenalin und will mich erst einmal davon überzeugen, dass der Typ mir keinen Schwachsinn erzählt. Ich schaue also genauer hin. Als ich die Gesichter der drei Frauen am Boden sehe, beginne ich, ihm zu glauben. Das ist sicherlich keine Gruppenvergewaltigung.
»We feared that somebody is getting raped up here«, beantworte ich seine Frage.
Eine der Psychiatrieschwestern schaut angestrengt hoch. Auf dem Boden wird noch immer heftig gerungen.
»Can you make them go away!«, meckert sie hochgradig genervt ihren männlichen Kollegen an, der bislang keinen Finger rührt. Nun rührt er sogar beide Arme und macht eine, im wahrsten Sinne des Wortes, ausladende Bewegung.
»Nichts für ungut«, denke ich mir und trete mit Ulric den Rückzug an. Als ich das Schild des Krankenhauses im Dunkeln stehen sehe, bekommen wir dann doch noch ein: »Thank you!«, hintergerufen. Und in meinen Gedanken sehe ich Ford auf einer Bank sitzen, der uns applaudiert und wissen lässt, dass wir vollkommen richtig reagiert haben. Dass wir Helden sind und unser gutes Herz bewahren sollen. Diese zwei Minuten waren eine wahrlich seltsame Mischung aus Serendipity und Déjà-vu.
Im Partyhaus ist die Musik nicht wesentlich besser geworden. Dafür sind neue Leute hinzugekommen und es werden die notwendigen Vorbereitungen getroffen, um Beer Pong zu spielen. Was, um alles in der Welt, ist Beer Pong? Ich lasse es mir von Ulric erklären: Beer Pong ist ein amerikanischer Volkssport. An zwei Enden eines Tisches werden in Dreiecksformation – also wie Billardkugeln – Plastikbecher aufgestellt, die zur Hälfte mit Bier gefüllt sind. Die Regeln sind sehr lose und können variiert werden. Hier spielen wir in Teams, bestehend aus zwei Personen. Ziel ist es, einen Tischtennisball in den gegenüberliegenden Bechern zu versenken. Dabei kann der Ball entweder wie eine Bogenlampe, wie ein Schmetterball oder auch durch einen Aufsetzer versenkt werden. Schafft man es, den Ball zu versenken, muss der getroffene Becher von einem Mitglied des Gegnerteams ausgetrunken werden. Solange der Becher nicht geleert ist, darf dieser Spieler nicht aktiv am Spiel teilnehmen. Gelingt einem ein Treffer durch einen Aufsetzer, müssen gleich zwei Becher entfernt und ausgetrunken werden. Beim Aufsetzer – und nur beim Aufsetzer – darf auch versucht werden, den Ball abzuwehren. Da gut die Hälfte aller Bälle vom Tisch springt und über den Boden rollt, wird aus leicht pseudohaften Hygienegründen auch ein mit Wasser gefüllter Becher bereitgestellt, in dem man den Ball eintaucht, bevor man ihn wieder zurückwirft.

<center>Demokratie, Philosophie und Beer Pong</center>
Wie es sich für eine wertvolle Sportart gehört, hat auch das Beer Pong eine lange und glorreiche Geschichte: Die Griechen waren es, die den Kultsport vor Tausenden von Jahren erfanden. Seinerzeit nannte man es noch Kattabos und spielte es mit Wein. Die Widersacher tranken ein Weinglas aus und versuchten mit dem im Glas verbliebenen Spuckrest eine Bronzescheibe in der Mitte des Tisches zum Fallen zu bringen. Gelang dies nicht, wurde der Wein wieder aufgefüllt, ausgesoffen und erneut in Richtung Scheibe geschleudert. Das klingt spaßig. Kein Mensch weiß, was in den folgenden Jahrhunderten geschah und weshalb der Sport nicht olympisch wurde. Die moderne Variante wurde schließlich irgendwann in den 1950er oder 1960er Jahren im postprohibitionären amerikanischen Dartmouth College entwickelt. Ob der Name der Schule Inspirationsquelle war, ist meines Wissens nach nicht überliefert. Dafür weiß man, dass – es ist naheliegend – Tischtennis der Auslöser für die Neuerfindung war. So spielte man Beer Pong zunächst mit Schlägern und Netz. Die schläger- und netzlose Variante entstand angeblich durch einen Studenten der Delta-Upsilon-Bruderschaft, der seine Schläger verloren hatte, aber trotzdem spielen wollte. Also wurden einfach die nackten Hände verwendet und das Spiel höchst kreativ in Throw Ball umbenannt. Aus Throw Ball wurde Beer Pong und aus einem blöden Spaß besoffener Studenten wurde Ernst: Beer Pong ist ein weltweit praktizierter Wettkampfsport, zu dem es in Amerika eine World Series gibt, die alljährlich in Las Vegas ausgetragen wird und mit 50.000 Dollar Preisgeld winkt. Sagenhaft.

Ich schaue mir das Treiben zunächst an, bevor ich mich, mit Ulric als Teampartner, der Herausforderung stelle. Tja, und was soll ich sagen? Ulric und ich zerstören unsere Gegner. Weinende Menschen schlagen am anderen Ende des Tisches ihre Köpfe auf die Platte, weitere Selbstverstümmelungen können gerade noch verhindert werden und die Kollegen von der Psychiatrie um die Ecke sind alarmiert. Ein glorreicher Sieg! Als sich alle wieder beruhigt haben, Ulric und ich von den Schultern unserer Fans geklettert sind und die Solidargemeinschaft sämtliches Bier – inklusive dem, welches Ulric und ich mitgebracht haben – als von nun an kostenpflichtig erklärt, damit eine Reise zum action workshop bei den Genossen in Boom Boom Oakland finanziert werden kann, folgt das Highlight des Abends: die jüdisch-lesbische Anarchohochzeit!
Jawohl, ich feiere nicht nur mit Menschen, die von der sogenannten Mitte unserer Gesellschaft als Extremisten bezeichnet werden würden, weil sie sich für humane Zwecke einsetzen, nein, ich feiere auch mit Minderheiten. Und die wollen jetzt heiraten!
Da man sich nicht lumpen lassen will und zwei unterschiedliche Ethnien aufeinandertreffen – die Atheistin und die Jüdin –, gibt es gleich zwei Priester, die die Trauung vornehmen werden. Als Bibelersatz dienen die Thora und die Worte des Vorsitzenden Mao Tsetung, kurz: die Mao-Bibel. Ich vermute, dass Anarchisten wie Bakunin oder Kropotkin entweder nie solch knackige Worte niedergeschrieben haben wie der chinesische Kommunistenführer oder es sind schlicht und ergreifend Kommunisten anwesend. Ja, auch die gibt es offensichtlich in Amerika. Der rote Stern auf meiner Jacke wurde bisher auch nur wohlwollend von der amerikanischen Bevölkerung aufgenommen – bei meiner Einreise habe ich meinen Mantel noch extra über meinen Arm gelegt, damit die Damen und Herren vom Zoll mich deswegen nicht rausziehen. Von einem Erbe McCarthys oder gar einer »Dritten Roten Angst« ist rein gar nichts zu spüren. Und wie ich hier und in einigen Gesprächen über die Occupy-Bewegung feststellen kann, gibt es reichlich junge, linksgerichtete Amerikaner.
Zurück zur Hochzeit. Der Rabbiner und der Kommunistenpriester liefern sich gospelartige und friedfertig feierliche Wortgefechte. Wir Hochzeitsgäste und das Brautpaar sind schwer amüsiert. Es wird mit viel Gestik und Mimik gearbeitet und die Texte aus der Thora und dem kleinen Roten Buch voller Inbrunst vorgetragen: »A revolution is not a dinner party«, informiert uns der Kommunist, »or writing an essay, or painting a picture, or doing embroidery; it cannot be so refined, so leisurely and gentle, so temperate, kind, courteous, restrained and magnanimous. A revolution is an insurrection, an act of violence by which one class overthrows another.«
Es folgt der Hochzeitsschwur, der an Romantik nicht zu überbieten ist. Die kommunistische Braut teilt uns die Worte ihres Vaters mit, die er aussprach, als er zum ersten Mal die jetzige Braut seiner Tochter sah: Sie soll sich öfter mal duschen. Die Jüdin »bedankt« sich im Gegenzug dafür, dass ihre Braut sie zum Miteinanderwohnen gezwungen hat und sie so früh noch überhaupt keinen Bock dazu hatte. Es werden die Ringe getauscht, die mit einer Kette verbunden sind. Zum krönenden Abschluss blicken die frisch Vermählten in die Runde und sagen: »See you later, motherfuckers!«
Und schon verschwinden die beiden Turteltäubchen in der Honeymoon-Suite … die sie allerdings fünf Minuten später schon wieder verlassen. Da ging wohl nichts. Steht da bereits die erste Krise an? Wollen sie den Sex aufschieben, um weiter mit den anderen zu feiern? Reichten die fünf Minuten vielleicht sogar einfach aus? Oder ist die komplette Hochzeit am Ende nur ein Fake?
Es kommen neue Gäste, die neues Bier mitbringen, das glücklicherweise noch nicht in der Spendenecke gelandet ist – schließlich habe ich durch den Kauf des Bieres meinen Spendenbeitrag bereits geleistet und will nicht doppelt dafür zahlen. Als ich eines der Flaschenbiere mit meinem Feuerzeug öffne, ernte ich von den Zeugen dieser Wahnsinnstat große Bewunderung. Erst denke ich, dass die Jungs und Mädels mich verarschen wollen. Dem ist aber nicht so. Nein, für die Amis ist das Öffnen einer Flasche mit einem Feuerzeug tatsächlich ein nur aus Sagen und Legenden bekanntes Kunststück, was mir neben der großen Bewunderung auch tiefsten Respekt einbringt. Faszinierend.
Kurz nach meinen neuen Fans taucht auch Brian noch auf, sodass ich am Ende der Partynacht bei ihm und meinem Kram übernachten kann und nicht – wie eigentlich mittlerweile geplant – bei Ulric penne. Ich zücke mein Feuerzeug und öffne darauf noch eine Runde Bierflaschen. Ah! Oh! Applaus und prost!

Anmerkung
Sämtliche Bilder des heutigen Berichts stammen nicht von mir, sondern wurden von den Webseiten der Künstler und Händler entnommen:
Monstertrocity – The Art of Monster Kat
Trixie & Milo – Stylish Flasks & Accessories

 
 
 
 
 
 
 

Quellen
Informationen zu den Multnomahs, dem Jeld-Wen Field und der Geschichte des Beer Pongs: Wikipedia
Die Worte des Kommunistenpriesters entstammen 1:1 dem Buche »Worte des Vorsitzenden Mao Tsetung«

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