Tag 31: Von Entfesselungskünstlern, Vulkanen und Einkaufsabenteuern mit Brian

Serendipity – Teil 1

Mr. T

Montag, 10. Dezember 2012
Portland

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Cari und ich laufen am Morgen zum Frühstücken zu den fünfzig Meter vom Haus entfernten Einstein Bros. Bagels auf dem Hawthorne Boulevard. Einstein Bros. Bagels ist eine Bagel- und Coffeeshopkette in den USA. Die Auswahl an Bagels und Toppings ist groß. Wie bei Subways oder Starbucks muss man – sofern man erstmals in einem solchen Coffeeshop ist – die Menütafel erst einmal studieren und verstehen. Da gibt’s zum Beispiel die Classic Bagels: Plain, 100 % Whole Wheat with Honey, Everything und Pumpernickel. Oder wie wäre es mit einem Signature Bagel?: Asiago Cheese, Blueberry, Chocolate Chip, Cinnamon Raisin, Cinnamon Sugar, Cranberry, Garlic, 9-Grain, Onion, Poppy Seed – ich mag das Wort –, Potato und Sesame Seed. Gourmet Topped Bagels gibt es auch noch: Dutch Apple, Green Chile, Power Protein, Six Cheese, Spinach Florentine und Challah.
Hat man sich durch diese Auswahl erst einmal durchgekämpft, geht es mit den Aufstrichen und Belegen weiter. Mamma mia. Vom Cream Cheese Shmear – ein seltsames Wort – über Thunfisch bis hin zu Erdnussbutter wird so ziemlich alles Mögliche und Unmögliche angeboten. Ein Glück ist meine Auswahl als Veganer beschränkt. In veganen Restaurants, in denen ich die volle Auswahl habe, bin ich oftmals überfordert und brauche erst einmal eine Zeit lang, um zu akzeptieren, dass ich die komplette Speisekarte studieren kann – oder muss.
Ich glaube, ich habe mir neben einem Kaffee einen Potato Bagel mit Erdnussbutter bestellt. Aber wer weiß das schon: pure Reizüberflutung.
Die Dame hinterm Tresen möchte wissen, wie ich heiße. Flirtet sie mit mir? Nein, erklärt mir Cari. Der Kassierer muss nur meinen Namen rufen können, wenn die Bagels fertig sind. Ach so. Als Joshua einmal nach seinem Namen gefragt wurde, antwortete er: »Freedom!«
Seither wird er morgens bei Einsteins mit einem freudigen: »Freedom!«, begrüßt. Joshua ist durchaus ein Freak. Allerdings bin ich mir noch nicht so sicher, wie sehr oder ob ich ihn überhaupt leiden kann. Er wirkt manchmal falsch und dreht seine Laune von jetzt auf gleich um 180°. Mal drückt er mir eine Kassette und mal ignoriert er mich. Ich werde da noch nicht so recht schlau draus.
Als ich Cari erzähle, dass wir in Deutschland keine große Bagelkultur haben, schaut sie mich fassungslos an. Ein Überleben ohne Bagels? Wie soll das funktionieren? Also erzähle ich ihr vom Schwarzbrot und den Brötchen.
Am Tisch hinter uns machen es sich zwei junge Obdachlose mit ihrer angeleinten schwarzen Katze gemütlich. Wobei sie es nicht so wirklich gemütlich hinbekommen. Zum einen verhält sich die Katze nicht so, wie sie soll, und zum anderen sind die beiden für diese Tageszeit schon ordentlich stoned. Als die Angestellten der Einstein Bros. mitbekommen, dass sich eine Katze in ihrem Etablissement befindet, rückt einer der Herrschaften vorsichtig an. Auf sehr freundliche und respektvolle Weise und sich dabei mehrfach entschuldigend, wirft der Mann die beiden – Pardon: die drei – aus dem Laden: »This is a restaurant. I’m sorry, but we can’t let you eat here with a cat.«
Sie rückt daraufhin recht schnell ab. Er hat jedoch immense Probleme, die Katze, die ihre Leine mehrfach um das Stuhlbein geschnürt hat, wieder loszubekommen. Er geht in die Hocke, nimmt die Katze und wickelt sie um das Stuhlbein. Von einer Hand drückt er die Katze in seine andere, stets das Tier um das Stuhlbein drehend. Dabei macht er aber irgendwo einen Fehler und verheddert sich noch mehr. Angestrengt studiert er den unfreiwilligen Seemannsknoten, den er fabriziert hat. Cari und ich – eben noch inmitten einer Unterhaltung – beobachten das Ganze gebannt.
»Was macht der Depp da?«, frage ich mich. Cari denkt identisch, steht auf und hebt den Stuhl an. Die Leine rutscht zu Boden, die Katze ist befreit und der junge Spacko fasziniert. Ein leise und langsam ausgesprochenes: »Oh«, entfleucht dem Helden. Ich beiße mir derweil mit voller Kraft auf die Unterlippe, um dem armen Kerl die Situation nicht noch peinlicher werden zu lassen.
»I couldn’t watch this anymore«, verdreht Cari ihre Augen, als sie wieder zurückkommt. Der Kollege hat den Laden mittlerweile verlassen und ich darf losbrüllen.
Cari möchte Gutes tun und kauft für Joshua Frühstück. Zuvor hat sie sich bei ihm erkundigt, welchen Bagel er denn besonders mag. Er bekommt den mit Thunfisch.
Als wir die Einsteins Bros. verlassen, amüsieren wir uns noch lauthals über den Katzen-Houdini. Auf einmal bemerken wir, dass das Pärchen schräg hinter uns in einer Haustür sitzt und sicherlich unsere komplette Lästerei mitbekommen hat. Erstaunlich, wie schnell man sich plötzlich wie ein Arschloch vorkommen kann. Sekunden später darf sich wenigstens Cari wieder wie ein guter Mensch fühlen, als sie ihrem Landlord sein Frühstück überreicht und ihn zum Strahlen bringt.
Melissa, die noch nicht in der Hawthorne Rose übernachtet hat, kommt mit dem Wagen ihrer Eltern vorgefahren. Cari und sie müssen sich um ihren Umzug kümmern. Mit dem Wagen, den die beiden aus Arizona mit nach Portland nehmen durften, werden die nächsten Möbelstücke angekarrt. Melissa, deren Zimmer sich im Obergeschoss befindet, hat einen zu großen Bettkasten für die schmale Treppe. Es gibt im oberen Stockwerk auch kein Fenster, das groß genug ist, um ihr Bett auf alternativem Wege in ihr Zimmer zu befördern. Für Melissa läuft’s derzeit einfach ein bisschen doof.
Joshua ist ebenfalls fleißig und steht mit der Kettensäge vor dem Haus. Der Vorgarten ist mit Büschen und kleinen Bäumen zugewuchert. Diese werden nun weggehauen, damit mehr Licht auf die kleine überdachte Veranda vor der Eingangstür fällt.
Nachdem die erste Ladung von Caris und Melissas Möbeln mehr oder weniger erfolgreich ins Haus getragen wurde, werde ich meiner Aufgaben entbunden. Ich soll gefälligst Portland entdecken, heißt es, und auf den Mount Tabor steigen, bevor die Sonne untergeht, die sich wie gewohnt hinter dicken dunklen Wolken versteckt.

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Ich laufe zum mir bereits bekannten Wasserreservoir am östlichen Ende des Hawthorne Boulevard. Auf ein Schild, das Autofahrer normalerweise dazu auffordert, für Fußgänger zu halten, hat jemand das Gesicht von Mr. T geklebt. Ich stoppe kurz, obwohl Mr. T weit und breit nicht zu sehen ist. Sicher ist sicher.

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Rund um das Wasserreservoir wird fleißig gejoggt. Ich spaziere ganz gemütlich daran vorbei und beginne mit dem Aufstieg auf den grün bewachsenen Vulkan, der übrigens überhaupt nicht mehr nach Vulkan aussieht. Die Bäume, deren Äste mit grünem Moos bewachsen sind und im fahlen Licht der Sonne saftig zu leuchten scheinen, sind neben der Tatsache, dass die Bäume mitten im Dezember noch herbstbunte Blätter tragen, das Spektakulärste auf meinem Weg nach oben.
Ich erreiche einen Parkplatz, auf dem eine Karte des Vulkans aufgestellt ist. Es gibt ein Amphitheater hier oben! Laut Plan ist es nur wenige Meter hinter mir, auf der anderen Seite des Parkplatzes. Als ich es eine halbe Minute später erreiche, muss ich kurz auflachen. Ja, weder die Römer noch die Griechen waren hier. Das »Amphitheater« ist eine nette Wiese, die von Bäumen und der Mauer des fünf Meter höher gelegenen Parkplatzes umrahmt ist. Es gibt eine kleine Bühne und Parkbänke. Da kann das Kolosseum einpacken.
Ich habe den Gipfel bereits fast erreicht. Die letzten Meter sind nur über Pfade zu meistern. Wenige Meter neben mir erklimmt ein alter Mann den Vulkan. Die Knie machen wohl nicht mehr mit, weswegen er rückwärts und in Gänseschritten läuft. Ich beobachte ihn, damit ich helfen kann, falls er über einen Zweig oder Stein stolpern sollte.

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Oben angekommen sehe ich eine Wiese mit Bäumen, die von einem Rundkurs umschlossen ist, der abermals von sportlichen Menschen genutzt wird. Viele sind nicht hier oben, aber für das schlechte Wetter durchaus genug. Andererseits sind die Menschen dieser Stadt das feuchte Klima ja gewohnt. Zwei Athleten, die mit ihrem Hund unterwegs sind, geben einer Frau mit Kamera und Mikrofon ein Interview, machen Liegestütze und Hock-Streck-Sprünge für die Kamera.
Wesentlich eindrucksvoller ist der Blick nach Westen, der Blick über den Hawthorne District bis rüber nach Downtown. Die Aussicht wird durch hochgewachsene Nadelbäume etwas verstellt und ist bei Weitem nicht so dramatisch wie die Aussichten, die man in San Francisco genießen kann. Sie hat aber dennoch ihren Reiz. In der Ferne türmen sich westlich des Willamette River die Hochhäuser von Portlands Downtown in den Himmel, während auf der Ostseite des Flusses mehr Bäume als Häuser zu sehen sind. Ich habe ja bereits erwähnt, dass quasi jede Straße Ost-Portlands eine Allee ist; oftmals mit erstaunlich mächtigen Bäumen für eine Stadtstraße. Dass das Grün jedoch so dominant ist, dass man tatsächlich eher das Gefühl hat, auf einen Wald denn auf eine Stadt mit über einer halben Million Einwohnern niederzublicken, ist beeindruckend. Das erinnert mich schon fast an Kubas erste Hauptstadt Baracoa, in der der Wald die Stadt und nicht die Stadt den Wald einzunehmen scheint. Ich mag solche Städte.

An der Südseite des Gipfelplateaus steht eine Statue von Harvey W. Scott, der nach Osten blickend mit seinem rechten Zeigefinger gen Westen deutet. Jemand hat ihm ein türkisfarbenes Armband umgewickelt. »Pioneer, Editor, Publisher – Molder of opinion in Oregon and the nation«, ist auf dem Sockel eingraviert.

<center>Harvey W. Scott</center>
Scott lebte von 1838 bis 1910. Er wurde auf einer Farm in Illinois geboren. Mit 14 Jahren siedelte er mit seiner Familie ins heutige Oregon über. Zu diesem Zeitpunkt war Oregon noch kein Staat, sondern lediglich das Oregon Territory, ein inkorporiertes Gebiet der Vereinigten Staaten, welches 1846 durch die Teilung des Oregon Country zwischen den USA und Britisch-Nordamerika, dem heutigen Kanada, entstand. Bereits 1843 etablierten die weißen Siedler eine autonome Regierung. Doch erst am 14. Februar 1859 wurde aus Teilen des Oregon Territory der neuntgrößte und 33. Staat der USA. Der Rest des Territoriums wurde bereits 1853 abgetrennt und ging in das neu organisierte Washington Territory über. Dies umfasste Land, welches sich in seiner größten Ausdehnung über die heutigen Bundesstaaten Washington, Idaho, Montana und Wyoming erstreckte. Diese erhielten ihren Status als Bundesstaaten erst 1889 (Montana und Washington) beziehungsweise 1890 (Idaho und Wyoming). In der Rangliste der Einwohnerzahl belegt Oregon, trotz seiner 255.000 km² mit unter vier Millionen Menschen nur Platz 27. Zum Vergleich: In Deutschland leben auf 357.000 km² knapp 82 Millionen Personen. Portland, obwohl größte Stadt des Staates, ist nicht die Hauptstadt Oregons. Diesen Titel hat Salem, das nur etwas mehr als 150.000 Einwohner zählt und eine knappe Autostunde südlich von Portland liegt.
Etwas näher und westlich von Portland liegt Forest Grove. Hier besuchte Harvey W. Scott die 1849 gegründete Pacific University, bei der allerdings noch kein einziger Student einen Abschluss absolviert hatte. Harvey gelang dies 1863 – als erstem Studenten dort. Seinen starken Willen bewies er bereits, als er 1857 zu Fuß von seinem Zuhause nahe Olympia, Washington, bis nach Forest Grove wanderte. Eine Strecke von gut 250 Kilometern. Im Jahr vor dieser Wanderung kämpfte er im Puget-Sound-Krieg, einem der Indianerkriege. Nach seinem Abschluss widmete er sich dem Zeitungswesen. Er arbeitete sechs Jahre lang als Redakteur der Zeitung The Oregonian, bevor er dort gefeuert wurde, weil er den falschen Mann unterstützte. Dieser falsche Mann hatte ebenfalls eine Zeitung, den Bulletin, bei dem Scott mit offenen Armen empfangen wurde. Zwei Jahre später war dieser Spaß allerdings aufgrund des Bankrotts der Zeitung schon wieder vorbei. Bis 1877 verdiente unser Protagonist sein Geld als Zolleintreiber im Hafen der Stadt. Das brachte anscheinend genug Asche, um sich beim The Oregonian wieder einzukaufen – diesmal sogar als Chefredakteur. Die Zeitung gibt es im Übrigen heute noch, was sie zur ältesten, durchgehend erscheinenden Zeitung der US-Westküste macht. Sie ist die wichtigste Tageszeitung Portlands.
Der Hase im Kapitalismus läuft manchmal seltsame Wege und dass Geld den Charakter eines Menschen beeinflussen kann, ist kein Geheimnis. Und so tönte der Freimaurer Scott um 1880 lauthals, dass die Menschen für ihre Schulbildung gefälligst zu zahlen hätten. Die Diskussion um Studiengebühren ist also bereits ein alter Hut, wie man sieht. Lustigerweise wurden postum ein Hügel und ausgerechnet eine öffentliche Grundschule nach dem alten Haudegen benannt. Der Ausschlag für diese noblen Gesten dürfte die 1890 veröffentlichte erste Historie Portlands sein. Darüber hinaus stellte Harvey gemeinsam mit seinem Sohn Leslie die sechs Bände umfassende »History of the Oregon Country« zusammen. Dieses Lebenswerk wurde allerdings erst nach Scotts Ableben vom Sohnemann veröffentlicht.
Fast noch lustiger als die Schulbenennung ist die Tatsache, dass die Statue, vor der ich gerade stehe, nicht etwa aus Eigenantrieb der City of Portland, sondern vom Geld und Willen der Witwe Scott errichtet wurde. Doch Ehre, wem Ehre gebührt: Natürlich kamen zur Einweihung der Statue im Jahre 1933 – 23 Jahre nach Harvey Scotts Tod – neben rund 3000 Bürgerinnen und Bürgern auch der Gouverneur von Oregon vorbei. Habe die Ehre, Mr. Scott. Ich ziehe weiter …

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Auf meinem Weg bergab treffe ich einmal mehr auf Portlands häufigste Tierart – die Eichhörnchen – und auf Celine. Ich grüße sie freundlich und grundlos – die positive Amerikanisierung nimmt ihren Lauf – und schon kommen wir ins Gespräch. Wie so viele in Portland ist auch sie eine Zugezogene. Sie liebt den Mount Tabor, die Aussicht und das Grün. Sie ist glücklich, in einer Stadt zu leben, die so eins mit der Natur ist. Da stört das bisschen Regen auch nicht weiter. Von mir möchte sie wissen, wie es mir in Amerika gefällt und – das fragt mich wirklich jeder – was ich von den Amerikanern denn so halte. Wie immer erzähle ich ihr, dass ich meine Reise liebe und ausschließlich tolle Menschen kennenlernen durfte: »Americans are so hostile!«, schmachte ich dahin. Sie hingegen stockt kurz und schaut mich schwer irritiert an: »What … what do you mean?«
Mir dämmert, dass ich zwei Worte verwechselt habe, die man besser nicht verwechseln sollte: »Hostile« bedeutet feindselig, wohingegen ich natürlich von »hospitable«, der Gastfreundlichkeit schwärmen wollte. Ups. Wieder rufe ich: »Dschihad!«, male mein Gesicht grün an und fliege auf meinem Besen und meinen anrückenden fliegenden Affen davon. Nein, das Missverständnis kann natürlich sofort geklärt werden und die Unterhaltung wieder entspannt weitergehen. Als wir ihr Auto erreichen, merkt sie an, dass sie mir derzeit leider keine Couch anbieten könne.
»No problem«, erwidere ich. An Übernachtungsplätzen mangelt es mir in Portland nun wirklich nicht.
Mittagessen gibt’s bei Ofelia’s Mexican Food, einem Trailerimbiss, der sich direkt neben der ¿Por Qué No? Taqueria, die als sehr hip und lecker gilt und von einem amerikanischen Backpacker, der durch Mexiko reiste, gegründet wurde. Ich esse aber wie gesagt nicht in der bunt und sympathisch aussehenden Taqueria, sondern beim silbernen Wagen nebenan.

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Ich bestelle den Soy Chorzio Burrito für 4,75 Dollar. Lecker, Soy Chorizo. Ich mache es mir auf einem der Stühle vor dem Trailer bequem und warte auf mein Essen. Ein Kollege meines Alters kommt daher. Er trägt ein Shirt der schwedischen Hardcore-Götter Refused. Hm, dann weiß er vielleicht auch, wo und wann ein anständiges Konzert mit nettem Moshpit stattfindet, denke ich mir.
»I like your shirt«, starte ich die Unterhaltung.
»Yeah, they’re awesome.«
»I saw them live last April«, gebe ich mal direkt großkotzig an.
»Nice!«, freut er sich mit mir.
Ich komme zum Punkt und frage ihn, ob er von irgendwelchen Konzerten weiß. Fehlanzeige. Er empfiehlt mir aber den kostenlosen Portland Mercury, den ich mir aus jedem Zeitungskasten nehmen kann. Darin sind die Konzerte und andere Veranstaltungen aufgelistet. Guter Tipp. Schönen Dank auch.
Die Köchin kommt aus dem Imbiss heraus auf mich zu und teilt mir mit gequältem Lächeln mit, dass sie kein Soy Chorizo vorrätig hat. Och, nö. Dann gibt’s eben den Vegan Burrito. Klingt ja auch gut. Den gemeinen Fleischburrito gibt’s übrigens ebenfalls in verschiedenen Variationen. In Portland wird aber eben überall auch eine vegetarisch/vegane Alternative angeboten. Das ist Akzeptanz und das ist Fortschritt, Leute.
Ich laufe den Hawthorne Boulevard entlang und komme am Nomad Crossing vorbei, das mit »phat glass, local art & gifts« wirbt. Das klingt doch gut. Als ich den Laden betrete, finde ich ein etwas anderes Geschäft vor als erwartet. Das fette Glas nimmt hier den Hauptbestandteil des Raumes ein, gut und gerne 95 %. Wer jetzt Vasen oder Ähnliches erwartet, sieht sich getäuscht oder ist naiv, denn Bongs und Pfeifen stehen in den Vitrinen. Es ist ein Kiffer- … äh: Raucherwarenladen. Die freundliche Verkäuferin fragt mich, ob sie mir helfen kann. Ich lasse sie wissen, dass ich mich nur einmal umschauen möchte. Kurz darauf kommt der nächste sympathische Angestellte auf mich zu. Sein Name ist Derrick. Er erklärt mir, dass alle Pfeifen und Bongs von lokalen Künstlern gefertigt wurden. In der Tat können sich die Werke durchaus sehen lassen und überzeugen mit Detailverliebtheit, bunten Farben und verrückten Formen. Wer sein Gras schon immer einmal durch ein gläsernes Alien, durch Drachen, Totenköpfe, Bongs mit Seesternverzierung, um fünf Ecken oder durch einen aus Keramik gefertigten Bill Clinton samt … ähm blasender Monica Lewinsky rauchen wollte, wird im Nomad Crossing sicherlich fündig. Wir unterhalten uns noch ein wenig über meine Reise, das Leben an sich, Friede, Freude und Eierkuchen, bevor Derrick mich mit einem: »Peace!«, verabschiedet.
Ich komme am 1984 eröffneten Portland Hostel Hawthorne District vorbei und denke mir, dass dies wohl der optimale Ort für Hosteltouristen sein dürfte, die neu nach Portland kommen. Denn es hat den Anschein, als würde man hier direkt einiges vorfinden, wofür diese Stadt steht: Umweltfreundlichkeit und Nachhaltigkeit. Im Garten wächst Gemüse im Eigenanbau, das Dach ist ein eco-roof, also ein Dach mit Begrünung, und die Mauer, die den Garten von der Straße trennt, ist eine permeable Wand, die das Regenwasser in einer Mulde sammelt, sodass es im Hostel genutzt werden kann. Das Hostel hat noch mehr Ökoprojekte am Laufen und bietet sogar eine kostenlose Tour durch die Anlage an, in der all das, was das Hostel leistet, erklärt wird.
Ich verabrede mich mit Brian im Bagdad. Ich sitze bereits vor meinem ersten wie immer mehr oder weniger genießbaren Bier, als er mit seinem langen schwarzen Mantel an der großen Panoramascheibe der Bar vorbeiläuft. Ähm, ja … also er läuft tatsächlich daran vorbei. Hat er die Orientierung verloren, oder was? Er hat beim Passieren sogar hineingeschaut, allerdings nicht zu mir. Wo zum Henker ist der denn jetzt hin? Nach zehn Minuten packe ich mein Handy aus. Ich will ihm gerade eine SMS schicken, als er plötzlich wieder auftaucht – mit neuer Jacke unter seinem Mantel und Sonnenbrille. Es ist dunkel.
Er betritt den Pub des Kinos und setzt sich zu mir an die Bar.
»Hi beauty«, begrüße ich ihn.
»Yeah, it’s nice, right? Do you like it? I arrived and saw the shop next door. So, I thought I could need a new jacket and some glasses.«

Brian bestellt sich ein Bier und erzählt mir, dass er schon seit einiger Zeit überlegt, sich einen Fernseher zuzulegen. Aha. Er trinkt sein Bier erschreckend schnell aus, knallt das Glas auf den Tresen und sagt: »Let’s go shopping.«
Na, da ist heute wohl jemand in Einkaufslaune.
Wir gehen in einen kleinen Elektrofachhandel auf dem Hawthorne Boulevard. Brian marschiert ein, als gäbe es kein Morgen mehr. Hektisch begrüßt er die Angestellten und kommt direkt zur Sache: »I need a good television. What do you have?«
»Uhm …«
Der Mann, der hinter dem Schreibtisch sitzt, ist sichtlich überrumpelt, obwohl die Frage ja eigentlich naheliegend ist. Allerdings legt Brian gerade ein Tempo vor, das mich amüsiert und den Fachmann eben überrumpelt. Brian lässt ihn aber auch erst gar nicht groß zu Wort kommen, sondern stürmt direkt in den nächsten Raum.
»How’s this one?«, ruft er in den Raum zurück, in dem der Elektrofachhändler und ich noch stehen.
»Uhm …«, lautet die Antwort. Ich kann mir das Grinsen nicht länger verkneifen, will aber auch nicht, dass sich der gute Mann verarscht vorkommt und deswegen am Ende Brian keine anständige Beratung bekommt. Also renne ich Brian hinterher.
»What do you think?«, fragt mich Brian kurz angebunden und bestimmt – eben wie immer in solchen Situationen.
»Uhm …«
»They know me«, flüstert er mir zu. »I come to this shop for more than a year now. I always asked for advices, but never bought anything. – But today is the day.«
Ich kann kaum noch an mich halten. Nun kommt auch der Mann mit Schlips in den kleinen Raum, in dem nur etwa fünf Geräte stehen.
»We actually don’t have the biggest variety of televisions«, legt er zögerlich los.
»Aha«, nickt Brian übertrieben stark mit seinem Kopf, während er wie immer an seinen Kinnbart zupft – diesmal allerdings etwas zügiger als normal.
»Well …«
Was kommt jetzt?
»I would recommend that you go to another shop – like Video Only. They have a much bigger variety to choose from.«
Sagenhaft, wir werden rausgebeten. Ich kann langsam nicht mehr. Ich platze gleich vor Lachen! Da will sich Brian tatsächlich heute einen Fernseher kaufen – zumindest kaufe ich es ihm momentan noch ab – und dann reißt dem Kollegen hier nach über einem Jahr der Penetranz ausgerechnet heute der Geduldsfaden. Das ist pure Komödie. Ich bin schon wieder – nein, immer noch – in einem Film. Dieser ganze Trip, wo ich auch hinkomme, was auch passiert: Ich kenne es entweder bereits aus Filmen oder es eskaliert alles in eine dermaßen übertriebene Aktion, dass es eigentlich nur einem Film entsprungen sein kann. Und Brian – in keiner Weise irritiert oder gar verärgert – setzt dem Ganzen noch die Krone auf: »Oh, that’s a good tip. Thank you, Sir.«
Wir verlassen den Laden und meine Hose ist nass – bildlich gesprochen. Aber das Beste ist: Die Show geht weiter! Auf zu Video Only!
Als wir ankommen, betritt Brian zunächst etwas relaxter den Laden. Kaum sind wir drin, pumpt das Blut aber schon wieder heftiger durch die Venen und Brian rennt von Gerät zu Gerät. Als Filmemacher müsste ich doch wissen, welcher Fernseher der beste für ihn ist, vermutet er und fragt mich nach meiner Meinung – als Filmemacher eben. Ich schaue mir die Bildschirme an und teile ihm mit, bei welchen mir persönlich das Bild am meisten gefällt. Mein Röhren-TV ist vor über einem Jahr verreckt. Seither lebe ich fernsehlos. Ich habe also herzlich wenig Ahnung von Flachbildschirmen und Fernsehtechnik.
Verkäufer Kent kommt zu uns und bietet uns seine Beratung an. Das lässt sich Brian nicht zweimal sagen und bombardiert den Armen mit Fragen. Kent bleibt cool und beantwortet mit einer Engelsgeduld die Fragen, die Brian ihm … nächste Frage! Ähm, wieder beantwortet Kent die … nächste Frage! Okay, also Kent nimmt sich die neue Frage vor und … nächste Frage, nächste Frage, nächste Frage! Brian lässt den guten Kent kein einziges Mal aussprechen. Es ist herrlich! Man muss Kent aber wirklich ein großes Lob aussprechen. Er grinst weder blöd noch nimmt er Brian und seine Masse an Fragen nicht ernst. Brians Fragen sind indes allesamt berechtigt. Er könnte dem Verkäufer nur etwas mehr Zeit mit der Beantwortung geben.
»Are you interested in good sound?«, leitet Kent sehr geschickt ein neues Verkaufsgespräch und eine fünfminütige Pause für sich selbst ein.
»Hell, yeah!«, antwortet Brian.
Kent führt uns zum anderen Ende des schlauchförmigen Flachbaus. Hier stehen die fetten Soundanlagen aufgereiht um einen riesigen Fernseher. Die Blu-ray ist bereits eingelegt und dramatisch verkündet Kent: »This is … the Soundbar.«
»Play«, und los geht die wilde Fahrt durch die Klangwelt. Von allen Seiten dröhnt der Sound von Christoper Nolans »The Dark Knight Rises« um unsere Ohren. Ich bin irritiert. Der Sound kommt von allen Seiten, Kent zeigte aber bei seiner erneut filmreifen Präsentation auf einen liegenden Stablautsprecher vor uns. Er muss meinen umherwandernden Blick sehen und übertönt die Explosionen um uns herum mit der Information, dass es tatsächlich nur diese eine Box vor uns ist, die den kompletten Raumklang abdeckt. Und: Egal wo man steht, man wird den optimalen Raumklang haben. Hä? Wie um alles in der Welt soll das denn möglich sein? Brian und ich laufen wie Kinder bei der Ostereiersuche im Raum umher und suchen nach versteckten Lautsprechern. Denn Kent erzählt keinen Scheiß: Der Raumklang funktioniert immer und überall. Wir schlucken den Fisch, klatschen unsere Flossen zusammen und bellen begeistert: »Uh, uh, uh!«
Wir kommen schließlich zum Eingemachten: Brians Wahl. Welchen Fernseher wird er mit nach Hause nehmen? Und wird er sich neben einem Fernseher auch eine Wandvorrichtung, einen Blu-ray-Player und die hammergeile Soundbar kaufen?
Ein fetter Plasmafernseher und ein Blu-ray-Player sind ausgewählt. Auf die Soundbar verzichtet er heute noch. Zusammen kommt er dennoch auf die stolze Summe von 1800 Dollar. Ich bin die komplette Zeit über leicht um meinen arbeitslosen Freund besorgt. Woher soll er die Kohle nehmen? Übernimmt er sich damit nicht und verschuldet sich unnötig für ein Luxusprodukt? Als Kent einmal nicht bei uns steht, frage ich ihn deshalb: »Can you afford that?«
Die darauf folgende Bewegung ist mittlerweile bekannt: Schultern und Brauen hoch, doch diesmal werden die Lippen nicht ganz so fest zusammengepresst, denn aus ihnen zischt es: »Pff, I can buy a house …«
Später erfahre ich, dass sein Vater ihm ein ordentliches Erbe hinterlassen hat. Neben offensichtlich genügend Geld gehört Brian auch ein Haus südlich von San Francisco. Finanzielle Sorgen hat er überhaupt gar keine. Rock und Roll!
Wir stehen am Verkaufstresen. Kent möchte Brian aufgrund schwankender Stromqualität in Oregon noch eine USV andrehen, die dafür sorgt, dass bei Störungen im Stromnetz die Geräte nicht abschmieren und kaputt gehen. Schnickschnack. Will er nicht. Als Nächstes fragt Kent, ob Video Only das Gerät kostenlos liefern soll.
»We can put it in the car.«
Äh? Das riesige Ding? Ich wage es zu bezweifeln. Kent auch: »It’s for free!«
»Including installation?«
»Yes.«
Der Plasmafernseher wird morgen Vormittag geliefert.
»Oh, uhm«, diesmal gerät Brian etwas aus der Fassung, »can you deliver in the afternoon?«
»I’m sorry. That’s not possible.«
Oje. Da muss sich der Langschläfer wohl ausnahmsweise mal einen Wecker stellen. Auf den Schock muss er sich erst einmal eine Zigarette drehen. Dabei macht er ordentlich Dreck auf dem Tresen, verteilt den Tabak überall. Er entschuldigt sich dafür, dreht aber unbeirrt weiter. Sekunden später bittet er kurz angebunden um einen Mülleimer. Er schmeißt den aufgesammelten Tabak hinein. Diesmal jedoch ohne ein Wort des Dankes. Brian ist mit seinen Gedanken offensichtlich wieder irgendwo anders. Er lässt Kent wissen, dass wir draußen auf ihn und die Rechnung warten. Haha! Der Chef hat gesprochen. Ich folge Brian, der so etwas in keiner Weise böse meint, sondern einfach nur rauchen will. Kent kommt mit der Rechnung raus und sieht sich darin bestätigt, dass das Gerät zu groß für Brians Wagen ist. Brian unterschreibt die Rechnung, bedankt sich schnell und kurz bei Kent, lässt sich noch seine Karte in die Hand drücken und haut mit mir ab. Ein großartiger Freak … der jetzt noch ein Date hat! Aha, seine Verehrerin, mit der er am Computerchip arbeiten möchte, vermute ich mal stark. Netterweise fährt Brian mich vor seinem Date noch zu Cari.
»How was your day?«, fragt sie mich. Also erzähle ich ihr die Geschichte von Brian, Dennis und ihren Abenteuern bei Video Only …

Quellen
Informationen über Oregon und Harvey W. Scott: Wikipedia

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