Tag 32: Alberta Street, oder: It burns my skin and hurts my eyes

Serendipity – Teil 1

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Dienstag, 11. Dezember 2012
Portland

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Heute schaue ich mir die Alberta Street an, die neben dem Hawthorne Boulevard das zweite Zentrum Portlander Lebenskultur sein soll. Ich nehme den Bus 75, der an der Ecke Hawthorne und Cesar E. Chavez Boulevard (ehemals 39th Avenue) abfährt.

<center>César E. Chávez</center>
César Estrada Chávez – Akzente braucht in Amerika kein Mensch – war ein Bürgerrechtsaktivist mexikanischer Herkunft, der die National Farm Workers Association mitbegründete, die später in die Gewerkschaft United Farm Workers (UFW) überging. Nach seinem Tod 1993 wurde der mit 66 Jahren Verstorbene zur Ikone der Latinogemeinde, Gewerkschaftler und diverser freiheitlicher Bewegungen. Seinen Slogan: »¡Sí, se puede!«, kenne ich spätestens seit der WM 2006, als ich mit Mexikanern die Argentinier zur Niederlage grölen wollte. Hat nicht geklappt, was sich im Nachhinein – aus Sicht eines Fans der deutschen Nationalmannschaft – als großes Glück erweisen sollte. Zettelmeister und Elfmeterkiller Jens Lehmann: Fußballgott für alle Ewigkeit.
Wenn’s für Señor Chávez gut läuft, bleibt auch sein Handeln für alle Ewigkeit in guter Erinnerung: In Kalifornien, Colorado und Texas wurde sein Geburtstag, der 31. März, zum staatlichen Feiertag ernannt. Für mich ist er zudem äußerst cool, da er tatsächlich aus ethischer Überzeugung und gesundheitlichen Gründen vegan lebte. Yes, we can … äh: ¡Sí, se puede!

Once social change begins, it cannot be reversed. You cannot uneducate the person who has learned to read. You cannot humiliate the person who feels pride. You cannot oppress the people who are not afraid anymore. We have seen the future, and the future is ours.

– César E. Chávez

An der Bushaltestelle sehe ich Ouga Bouga, den verrückte Nigerianer, den wir vor vier Tagen nach der Party im Convenience Store kennenlernen durften. Er erkennt mich aber anscheinend nicht, was mich nicht groß verwundert, war er in besagter Nacht doch ganz schön high.
In Amerika scheint es üblich zu sein, keine Fahrpläne auszuhängen. Das macht es für Ortsfremde etwas schwerer, herauszufinden, wo das öffentliche Verkehrsmittel überall hält, bevor es an seiner Endstation ankommt. Auch im Bus gibt es keine Haltestellenauskunft und nicht immer werden die Namen der Haltestellen von den Busfahrern angesagt. So ist es auch hier. Eine LED-Anzeige oder dergleichen gibt es auch eher selten, sodass man manchmal eigentlich keinen blassen Schimmer hat, wo man gerade ist – wenn man nicht irgendwen fragt. Ich drehe mich daher zu einem Musik hörenden Mädel neben mir. Ich deute mit meiner linken Hand und devot gespitzten Lippen an, dass sie doch bitte mal kurz den Stecker aus dem Ohr nehmen soll. Ich frage sie, wann ich aussteigen muss, um zur Alberta Street zu gelangen. Sie will mir Bescheid geben, wenn es soweit ist, verspricht sie. Sie hält das Versprechen auch, allerdings … Ich sehe ihr bereits an, dass sie selbst kurz die Orientierung verloren hat. Sie schaut aus dem Fenster: erst in Fahrtrichtung und dann in die Richtung, aus der wir gerade gekommen sind. Ich habe zudem auch das Straßenschild »Alberta Ct« gelesen. »Ct« steht für »Court«. Es ist also eine andere Straße, die aber logischerweise direkt neben der Alberta Street gelegen ist. Cari, Melissa und Joshua wohnen beispielsweise im 35th Place, welches die Straße direkt neben der 35th Avenue ist. Als ich Cari einmal fragte, was das zu bedeuten hat, zuckte sie mit den Schultern und meinte, dass die Damen und Herren Städteplaner sich damals bei der Namensvergabe der Straßen wohl verzählt haben müssen und daraufhin irgendeinen Quatsch als Lösung verwendet haben. Interessante Theorie. So – oder auch nicht – sind also die Straßennamen entstanden, die eben nicht Street, Avenue oder Boulevard, sondern Place, Way und Court heißen und die Zahlen sowie Namen der Nachbarstraßen wiederholen. Verrücktes Amerika.
Der Bus passiert also Alberta Court und ich stehe dabei auf dem Schlauch, weil ich nicht auf die Idee komme, dass es die nächste Straße zur Alberta Street sein muss. Gerade als meine Sitznachbarin verwirrt und ich grübelnd dreinschaue, lehnt sich eine andere junge Frau von hinten zu uns vor und fragt, ob ich nicht zur Alberta Street wollte. Ja, das ist der Plan. Dann soll ich mal besser aussteigen, meint sie, da wir sie vor gut einem Kilometer passiert haben. Hmpf, habe ich es doch geahnt. Meine Nachbarin entschuldigt sich herzlich und peinlich berührt. Kein Ding. Im Laufen bin ich mittlerweile richtig gut und kleine Distanzen von drei, vier Bushaltestellen machen mir gar nichts aus. – Andererseits fällt der Regen heute literweise vom Himmel …
Ich laufe also zurück zur Ecke Chavez und NE Alberta Street. Jawohl, Northeast Alberta Street. Die gut 20-minütige Busfahrt hat mich in den Bereich, nördlich der »Grenzstraße« Burnside Street verfrachtet. Die Ecke Chavez und Alberta ist leicht verwirrend. Die Alberta Street erstreckt sich ausschließlich in Richtung Westen. Im Osten, dort wo sie sich in Richtung Downtown weiterziehen müsste, steht ein Wellblechrestaurant samt Parkplatz. Hm? Der Blick in die westliche Alberta Street ist gleichwohl ziemlich mau. Da stehen nur Wohnhäuser, aber keine Geschäfte, Bars oder Restaurants. Um es kurz zu machen: Hier ist nichts, was interessant ist. Ich frage eine Kinderwagen schiebende Mutter, ob dies bereits die spannende Alberta Street ist oder ob sie woanders unterhaltsamer ist. Sie lässt mich wissen, dass ich gen Osten, bis zur 33rd Street laufen muss. So wie sie an dieser Ecke einfach aufhört, poppt sie dort wieder aus dem Nichts auf und geht runter bis zum Willamette River.
Ich laufe die zehn Blocks ostwärts und werde Zeuge amerikanischen Hausbaus. Vor mir steht ein aus Spanplatten zusammengezimmerter, doppelstöckiger Bau, an dem lediglich zwei Arbeiter herumfuhrwerken – zumindest sehe ich sonst niemand Weiteres auf der Baustelle. Einer der beiden turnt auf dem Dach des Vorbaus herum. Er ist mit einem Klettergurt abgesichert. Die Wände des Hauses können übrigens nicht dicker als 20 Zentimeter sein.

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In den alten Mauern – höhö – der Hawthorne Rose, die by the way bis 1918 illustre Zeiten als Puff erlebte, knarrt es bei jedem Schritt und Tritt. Hier und da spürt man somit auch die Vibration der – wenn sie nicht zwischendurch mal erneuert wurden – gut 100 Jahre alten Dielen. Heizungsrohre bekommt man wohl auch nicht so einfach ins dünne Holz gezimmert, weswegen in der Hawthorne Rose wie auch schon bei Kenny in San Francisco eine lustige Warmluftheizung eingebaut wurde; ein Heizsystem, das mir zuvor noch nie untergekommen ist: Im Keller, den mir Cari gezeigt hat, dessen Boden erdig ist und in dem man nicht aufrecht gehen und stehen kann, steht der Heizautomat und Luftverteiler. Diese Maschine erzeugt warme Luft, die durch Rohre in die einzelnen Zimmer geblasen wird. Deswegen sind im Erdgeschoss des Hauses auch mehrere, gut zehn mal 15 Zentimeter große, rechteckige Löcher mit Gitterschutz im Boden, durch die – manuell oder thermostatgesteuert – die warme Heizluft in den Raum strömt. Das ist toll zum Füße aufwärmen, aber scheiße, wenn einem mal Kleinteile aus der Hand fallen. Außerdem hört man die eher trockene Luft eintreten. Hm, da fällt mir auf, dass ich keine Ahnung habe, wie das Obergeschoss beheizt wird … Woran liegt es eigentlich, dass Amerikaner so gerne aus Holz und nicht aus Stein ihre Häuser errichten? Bauen die Amis aus Holz, weil sie häufiger umziehen und ein Holzhaus sicherlich weit weniger kostet als ein massives Haus? Oder ist es schlichtweg Tradition? Das Exemplar, von dem ich gerade Fotos mache und damit die Arbeiter zu verwunderten Blicken animiere, hat immerhin einen Keller und sogar eine Tiefgarage, wie es scheint. In Pacific Grove konnte ich vor einem knappen Monat schon beobachten, wie Häuslebauer einen »Keller« anlegten – oder renovierten. Ein Holzhaus, das auf knapp 150 Zentimeter hohen Stelzen aufgebaut war, bekam eine Bretterverkleidung. Die Luke ins Hochparterre gab es auch bereits. Der Boden war allerdings erdig und nicht zementiert. Mit anderen Worten: derselbe Aufbau wie bei der Hawthorne Rose.
Ich erreiche die 33rd Avenue und sehe rechts von mir die Alberta Street nach »zehnblockiger« Unterbrechung weitergehen. Mein erster Eindruck ist, dass ich verarscht wurde und in der Alberta Street rein gar nichts los ist. Drei Blocks weiter in Richtung Osten wird es dann aber doch bunter und ich beginne zu glauben, was man mir über die Alberta Street erzählt hat. Nämlich, dass sie ein Zentrum für Kunst und Kultur ist. Die Straße wirkt dennoch, verglichen mit dem Hawthorne Boulevard, nicht ganz so belebt. Das dürfte aber auch durchaus dem kack Wetter geschuldet sein. Ich sehe neben Cafés und Restaurants auch Galerien. An den sowieso schon nett anzusehenden Straßenlaternen hängen metallene Kunstverzierungen. Die Kunstwerke an den Modellleuchten könnten ein Verweis auf die monatlich stattfindenden Straßenfeste in der Alberta Street sein. Je nach Jahreszeit finden kunstgeprägte Veranstaltungen in den Galerien und Geschäften oder auf der Straße statt. Da diese Feste an jedem letzten Donnerstag im Monat stattfinden, laufen sie unter dem naheliegenden Namen »Last Thursday«. Sehr pragmatisch.
An die Seitenwand eines sehr nach Wild-West-Saloon aussehenden alten Hauses mit aquamarinfarbenen Holzplanken wurde ein Zitat von William S. Burroughs geschrieben. Mit künstlerischer Schrift macht der Künstler der O.Boy.Studios, Josh O’Renick, der auch im Crafty Wonderland vertreten war, zum einen Werbung in eigener Sache und zum anderen auf die auch in Portland und im Speziellen in der Gegend rund um die Alberta Street herrschenden Probleme der Gentrifizierung aufmerksam:

Artists to my mind are the real architects of change, and not the political legislators who implement change after the fact.

– William S. Burroughs

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Vor nicht ganz einem Jahr wurde der älteste Coffeeshop der Alberta Street, das Star-E Rose Cafe, nach 13 Jahren verkauft und geschlossen. Der alternative Coffeeshop befand sich im aquamarinfarbenen Haus, vor dem ich stehe und auf dessen Dach ein Skelett auf einer Trittleiter balanciert … oder stürzt es? Wie in Berlin drohen in Portlands Trendbezirken die Unangepassten ihr soziales Umfeld zu verlieren. Der Nachbar des charmanten Hauses, an dem noch immer die altmodische Werbetafel der ausgestorbenen Drogeriekette Rexall hängt, war eine wichtige Institution subkulturellen Lebens in Portland. Das Clown House, ein loses Kollektiv von Clowns und rebellischen Radfahrern, war mit- oder gar hauptverantwortlich für die Entstehung der karnevalsartigen Atmosphäre der Last Thursdays. Durch den Anstieg des Mietspiegels und seltsamen Beschwerden von vermutlich fingierten Nachbarn musste die Gruppe kürzlich das Haus verlassen.

Due to rents that have shot far beyond a clown’s wage, Dingo, Pinga, Chlorine, Will, and the rest of crew are looking for a new place to live. Ironically, they’ve been forced out of the neighborhood due to the gentrification that their presence helped hasten.

– Jonathan Maus

Artikel im Portland Mercury
Auch der Portland Mercury widmete der Angelegenheit einen lesenswerten Artikel:

The Gears of a Clown
– A Sad Face of Gentrification? –

Local bike activists and bloggers were in a bit of an uproar last week. The spark? Rumors that the city wanted to further sanitize a neighborhood already deep into the latter stages of gentrification. Specifically, city inspectors were demanding a cleanup of the well-known and widely beloved »Clown House« on NE Alberta.
For nearly two years, the Clown House has served as a free store, performance space, and home for a fluctuating number of, well, clowns. Part commune, part traveling circus, the house is the embodiment of those yellow »Keep Portland Weird« bumper stickers. But while that sentiment may remain plastered on vehicles around town, the reality of the city’s uniqueness has ebbed in recent years as outpost neighborhoods like Alberta and Mississippi have turned into quaint shopping centers and Martha Stewart-ized bungalows. Sadly, it seems like the »Clown House« is now threatened as part of that trend.
The main clowns in the house are a couple calling themselves »Dingo Dizmal« and »Caffeine Jones«, who are expecting a baby early next year. The house economy comes from assorted part-time jobs, the creation of »Dawg Snax« sold in local stores, and selling bikes made from used parts.
But reprising the notion that one man’s treasured bicycle is another’s idea of garbage, the sprawling bike workshop recently drew complaints to the house’s landlord from the city. At times, explained Dingo and Caffeine, the Clown House’s lawn is littered with unsolicited donations of »dead« bikes and »strange contraptions that no one else wants.« Apparently, this clutter drew an anonymous complaint about the house.
»Any time a complaint is filed, the city is required to look into it«, said Jesse Beason, Policy Advisor in Comissioner Sam Adam’s office. Beason noted that complaints are made with a cover of confidentiality. »I’m not that happy about it«, Beason told the Mercury. »You’d think people could just talk to their neighbors.«
Indeed, even a neighbor too shy to approach a house full of clowns would have a means; a sign in the front yard states, »Donate, Share Photos, or Complain to dawgsnax@xxxxxxx.fm.«
But Dingo has his suspicions that the complaints are not simply from some disgruntled resident.
»I don’t think this is really a neighbor, in terms of someone who lives nearby«, he lamented. »I think it’s someone who wants this property.« He added, »Across the street, [developers] asked to buy the house, and when [the owner] wouldn’t sell, she got a complaint that her bushes were too high. Complaints can lead to fines so you’ll be motivated to sell.«
Caffeine echoes those concerns: »There is a trend we are seeing where it’s clear that someone wants to buy property, and if they can’t, they attempt to frustrate the tenant to the point they can leverage them out.«
And, the clowns should know: A former incarnation of their commune was forced out of the Mississippi area.
Dingo and Caffeine hope to hold off this recent round of complaints. But, given the complaint’s vague wording, the clowns can only guess about what exactly needs to be done. They have already purged »the bone yard«, a collection of bike frames and other parts. But without a specific list of violations, the clowns worry they will be fined no matter what, noting that they have already lost considerable resources.
»Every time we clean up our yard, we get a bunch of bikes stolen!«
Caffeine laughs, surprisingly amused, »You clean it up, so all that’s left are the good bikes, so people know what to take!«
The official inspection will be the day after this month’s Last Thursday (October 27), which causes unique problems for the Clown House. Usually, the Clown House pulls out the stops for Last Thursday and receives a healthy dose of donations. This month, the clowns have decided to forego any sort of performance, in order to keep the yard clean.
Yet, despite the pending complaints and economic pinch, the clowns remain optimistic. Noting a history of encounters with government officials that has been less than favorable, Caffeine reflects, »This time around, [city officials] have been very nice to us, very understanding. I am so happy about that.«

– Rich Mackin

Ich bin mal wieder durchnässt und beschließe, etwas Warmes trinken zu gehen. Ich lande bei der Townshend’s Tea Company. Es gibt also Tee. Ich lasse den Mann hinterm Tresen wissen, dass ich eher selten Tee trinke und herzlich wenig Ahnung von den mannigfaltig angebotenen Sorten habe.
»What kind of tea do you like?«
Na, eben da bin ich mir ja nicht so sicher: »I like what you like.«
»Uhm …«
Schließlich bekomme ich einen gut schmeckenden Sonst-was-Tee. Man möge mich einen Banausen schimpfen.
Das voll besetzte Teehaus ist gemütlich. Ich sitze auf einem grünen Sofa direkt am Fenster und beobachte kein Treiben auf der Straße. Muss es denn den ganzen Tag über schütten?
Als ich wieder im Freien bin, kreuzt eine kleine mexikanische Oma meinen Weg. Ich bin ihr einige Minuten zuvor schon einmal begegnet. Sie zieht eine Kühltruhe auf Rädern hinter sich her, auf der »Tamales!« geschrieben steht.

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Für fünf Dollar gibt es sechs Stück. Ihre Auswahl erstreckt sich von Huhn über Schwein, Jalapeño und Käse bis hin zu veganen Tamales. Nicht schlecht. Ich hatte allerdings bereits vor einer dreiviertel Stunde keinen Hunger, woran sich leider herzlich wenig geändert hat. Außerdem schüttet es ja bekanntlich und auf Tamales im Regen habe ich dann auch keine Lust. Als sich zum nunmehr zweiten Male unsere Wege kreuzen, bietet sie mir aber auch gar nicht erst erneut ihre Speisen an, sondern verflucht nur auf Spanisch den Regen.
»Sí, y hace frío«, bestätige ich sie.

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<center>Keep Portland Weird!</center>
Seitdem ich in Oregons Norden bin, hatten wir eine Durchschnittstemperatur von 10 °C (50 °F). Es ist also tatsächlich ziemlich kühl. Speziell, wenn man durchnässt ist. Tja, Portland liegt nicht in Kalifornien – und heute sind’s nur 8 °C. Da wundert es mich auch nicht, dass ich noch keine nackten Radfahrer gesehen habe. Das mag jetzt ein wenig merkwürdig klingen und zu Recht kommt die Frage auf: »Ja, wo sieht man die schon?«
Wobei ich an dieser Stelle anmerken möchte, dass mir in Stockholm mal bei -20 °C ein Jogger in 80er-Jahren Fußballshorts und Schuhen entgegengesprintet ist. Also: Shorts, Schuhe … und sonst nichts! Bamm! Verrückt! Ich schweife ab …
»Wo sieht man die schon?«, lautete die Frage.
Die Geschichte der nackten Radfahrer erlangte 2008 öffentliche Aufmerksamkeit: Ein Gericht konnte einen nackten Radfahrer nicht verurteilen, weil dieser sich auf die »well-established tradition« des alljährlich in Portland stattfindenden World Naked Bike Ride berief. Diese »etablierte Tradition« startete (vermutlich) 1999 – mit ganzen sieben Teilnehmern. Damals nannte man den Spaß noch »Critical Ass«, eine Anspielung auf die Fahrraddemonstrationen der Critical-Mass-Bewegung, die es notabene auch in Deutschland gibt. Die »Critical Asses« hatten wohl primär die Provokation der Obrigkeit und Staatsgewalt im Sinn, als sie sich um Mitternacht auf ihre Räder schwangen und so lange nackt durch Portland radelten, bis die Polizei sie stoppte und unter Umständen gar verhaftete. Eine erfolgreiche Posse wurde daraus, als sich die Cops weigerten, die Nackten anzufassen, um sie zu verhaften. Durch den Freispruch des nackten Radlers erlangte die Bewegung eine Art gesetzliche Legitimation. Die Teilnehmerzahl stieg auf drei- bis fünftausend und 2010 gar auf 13.000! Portland scheint generell eine Stadt zu sein, in der es eine nicht zu verachtende Menge an Menschen mit politischem Bewusstsein zu geben scheint. Angestellte von George H. W. Bush nannten Portland deswegen gar »Little Beirut«. Dies lag daran, dass der ehemalige Präsident hier stets von massenhaft und lautstark auftretenden Demonstranten empfangen wurde. Im Volksmund ist »PDX«, das Flughafenkürzel, der wesentlicher gebräuchlichere Spitzname.
Die Nackedeis sind nicht das einzige Kuriosum, mit dem Portland bzw. Oregon aufwartet: Es gibt hier auch das eine oder andere äußerst interessante Gesetz. Da ist zum Beispiel eine bemerkenswerte Rechtsprechung zum Schutz der freien Meinungsäußerung. Ich habe keine Ahnung, ob diese auf die Biker zurückzuführen ist, doch zur freien Meinungsäußerung zählen in Oregon komplette Nacktheit und – Achtung, jetzt kommt’s: Lapdances! Folgerichtig sprossen Stripclubs und Erotikmassagestudios aus dem Boden, sodass es in »Little Beirut« irgendwann mehr Stripclubs pro Kopf gab als in San Francisco oder sogar Las Vegas. Aus Portland wurde »Pornland«. Passt das in unser Weltbild der amerikanischen Prüderie?
Ein weiteres merkwürdiges Gesetz betrifft die Autofahrer. So ist es beispielsweise Autofahrern verboten, an einer Tanke das eigene Auto selbst zu befüllen. Zuwiderhandlungen können mit einer Geldstrafe geahndet werden. Als ich diesen Quatsch zum ersten Mal gehört habe, dachte ich, dass Ford mich ein bisschen verarschen will. Vermutlich als Retourkutsche dafür, dass ich es einmal geschafft habe, Ford für zwei Sekunden zu einem erstaunten Schweigen zu bringen: Wir hatten es vom fernen und ach so anderen Deutschland, als ich trocken anmerkte, dass wir drüben übrigens auch zwei Monde haben. Stille. Pause. Peinliches Auflachen: »Hehe, you got two moons.«
Als ich mit Brian vor dem erst gestern getätigten, aber heute bereits legendären Fernseherkauf an einer Tankstelle haltmachte und er nicht aus dem Wagen stieg, sondern lediglich die Scheibe herunterkurbelte und dem herbeieilenden Tankwart den Schlüssel in die Hand drückte, wurde ich schließlich Zeuge der oregonschen Gesetzgebung. Ford hatte mich nicht belogen.
»Why?«, fragte ich Brian in einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Irritation.
»Less unemployment«, kam es kurz und bündig von Professor Pauch zurück.
Der Sinn anderer Gesetze, die angeblich noch immer in Oregons Gesetzbüchern stehen sollen, leuchtet mir indes weniger ein: In Portland ist das Tragen von Rollerskates auf der Toilette genauso untersagt wie das Pfeifen unter Wasser. Wenn man in Hood River jonglieren möchte, benötigt man eine Lizenz. In Willowdale dürfen Männer beim Sex nicht fluchen. In Yamhill ist es illegal, die Zukunft vorherzusagen und die Kellertür offen zu lassen. Im kleinen Myrtle Creek ist es verboten, mit Kängurus zu boxen und Geschirr darf in ganz Oregon nicht feucht, sondern muss trocken sein.
All diese Gesetze dürften amüsante Relikte vergangener Tage sein, die lediglich noch nicht aus den Gesetzbüchern gestrichen wurden. Weniger lustig und wahrscheinlich auch nie mit dem Gesetz zu vereinbaren, war eine Praxis, mit der man die größte Stadt Oregons in den Geschichtsbüchern in Verbindung bringen muss. Portland war an Amerikas Westküste der traurige Vorreiter einer Verbrechensform, die sich »Shanghaiing« nennt. Dieser Begriff hat es sogar bis ins Wörterbuch geschafft. Es bedeutet, dass Menschen, wider ihren Willen und oftmals unter Betäubung, auf Schiffe verschleppt und zu Kriegsdiensten gezwungen oder auf Handelsschiffen versklavt wurden. Es gab regelrechte Kopfgeldjäger, die »by the body« bezahlt wurden. Je mehr Menschen sie also entführten, desto höher war ihr Lohn. In Portland wurden hierfür sogar ganze Tunnelsysteme erschlossen, die in gewissen Bars, Bordellen und anderen einschlägigen Lokalitäten begannen und bis zum Hafen führten. Das Geschäft mit den Entführungen lief von 1850 bis – man mag es kaum glauben – 1941! Noch heute gibt es den einen oder anderen Tunnel aus diesem Kapitel der Geschichte. Ich sollte mich einmal nach Touren erkundigen …

Auf meinem Weg ostwärts komme ich an den Mimosa Studios vorbei. »Paint your own pots – Handmade Gift Gallery« steht auf dem Schild des Ladens. Drinnen sitzen erwachsene Männer und Frauen, die an Tischen, reich ausgestattet mit Pinseln und Farbe, ihre Keramik bemalen. Ich finde dieses Bild äußerst putzig. In zwei Wochen ist Weihnachten und ich frage mich, für wen der gut 60-jährige Mann mit dem karierten Hemd wohl seinen Teller bemalt.

Nur wenige Meter weiter, an der Kreuzung zur 17th Avenue, stoße ich auf zwei Wandmalereien. Links die bunte Außenwand des Community Cycling Center und gegenüber streckt Malcolm X mit ernstem Blick seinen Zeigefinger in die Höhe. Die Alberta Street war auch einst das Zentrum der afroamerikanischen Gemeinde, die, wie heute die Alternativkultur, der Gentrifizierung zum Opfer fiel. Die Gegend rund um die NE Alberta Street war einer der wenigen Bezirke Portlands, in denen in den 1940er Jahren Nichtweiße leben durften.

2012 12 11 14.41.04

Auf amerikanischen Straßen gibt es mehr Zeitungskästen als Mülleimer. Trotzdem geben erstaunlich viele Bürger ihr Bestes, möglichst sauber zu bleiben und keinen Dreck auf der Straße zu hinterlassen. Cari beispielsweise hebt sogar manchmal fremden Müll von der Straße auf und trägt ihn zur nächsten Tonne. Genauso verhält es sich mit Kippenstummeln. Die wirft kaum einer auf den Gehweg, sondern trägt ihn zur nächsten Tonne, die aber nach meinen Beobachtungen seltener vorkommen als in deutschen Straßenzügen. Auch eher selten sind – wie bereits angesprochen – Massivhäuser in Wohngegenden. Downtowns sind da anders, was daran liegt, dass sie primär aus Hochhäusern bestehen. In Wohngegenden ist kaum ein Haus höher als zwei Stockwerke. So auch in der Alberta Street. Umso überraschter bin ich, als ich an der Ecke zur NE 9th Avenue auf einmal vor einer architektonisch beeindruckenden, hellbraunen Kirche stehe. Die Saint Andrew Catholic Church könnte auch im »alten Europa« stehen. Ein edler, hoher und lang gezogener klassischer Backsteinbau mit Doppelturmfassade vor den Seitenschiffen und reich verzierten Zinnen. Die Kirche wurde 1929 eingeweiht und vom Erbauer Peter J. Pfeifer als sein persönliches Meisterwerk bezeichnet. Ich bin bereits vielen, sehr vielen Kirchen auf meiner Reise begegnet. In jeder Stadt gibt es unzählige unterschiedliche und unabhängig voneinander operierende Gemeinden. Würde jede dieser Glaubensgemeinschaften einen Bau wie diesen aus dem Boden stampfen … schlichtweg unmöglich. Diese kleinen Gemeinden halten in den meisten Fällen ihre Messen und sonstigen Angebote in, auf den ersten Blick, normalen Wohnhäusern ab. Nur vor oder direkt am Gebäude platzierte Schilder weisen darauf hin, dass hier die Church of Christ, die Circle of Life Church oder die sich wie auch immer bezeichnende Christenschar zu Hause ist. Die Katholiken sind aber bekanntlich nicht die ärmste und zahlenmäßig unterlegenste Vereinigung. Und so hat man also an diese Ecke eine Kirche im französisch-gotischen Baustil errichtet.
Ich nehme mir nicht die Zeit, mir die Kirche genauer anzusehen. Es liegt wohl auch daran, dass Brian mir eine äußerst merkwürdige SMS schickt: »It burns my skin and hurts my eyes.«
Bitte, was? Ich frage ihn, ob er okay ist oder Hilfe benötigt. Außerdem vergewissere ich mich, ob er von seinem neuen Fernseher redet und nicht von einem Alien, das sich im Datum geirrt hat und zehn Tage zu früh mit dem Spaß der Apokalypse loslegt. Es ist der Fernseher: »I’m OK. I was able to turn it off. I’m at Hazel Room now.«
Ich biege in den NE Martin Luther King Jr. Boulevard ab. Ich will einen Bus in Richtung Hawthorne Boulevard nehmen. Da die Straße wie üblich keine Kurve macht, kann ich ewig weit nach Norden schauen und sehe, dass sich kein Bus nähert. Also laufe ich noch einige Meter den MLK Boulevard entlang, bevor ich bei einer Haltestelle stehen bleibe und in den nächsten Bus einsteige. Mein für zwei Stunden gültiges Busticket, mit dem ich heute Mittag zur Alberta Street gekommen bin, ist mittlerweile natürlich abgelaufen. Der Busfahrer guckt allerdings nicht so genau beziehungsweise eigentlich gar nicht auf den Fahrschein, den ich ihm entgegenstrecke. Also werde ich kostenfrei transportiert. Yeah.

2012 12 11 15.46.09

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An der Hawthorne Bridge steige ich aus und laufe zum Hazel Room. Brian trägt wieder seine neue Sonnenbrille. Ist es wegen der Reizüberflutung? Mein lustiger Gefährte überlegt sich, ob er den frisch gekauften Fernseher wieder zurückgeben soll. Ich empfehle ihm, es noch ein bisschen länger zu probieren und sich vielleicht auch einfach mal weiter weg zu setzen. Nach seiner Beschreibung hat er den riesigen Fernseher nämlich auf den Tisch im Wohnzimmer platziert und sich auf einen Stuhl direkt davor gesetzt. Tja …
Mir fällt die sehr gute Musik auf, die Brian und mich während unserer bizarren Unterhaltung berieselt. The Stooges, Neutral Milk Hotel … Ich frage Sonya, die Schwester, die kein Zwilling ist und nicht wie Natalie Portman aussieht, dafür aber ein süßes Diastema zwischen den Schneidezähnen hat, ob wir einen verdammt guten Radiosender hören oder wo die Musik herkommt. Stolz erklärt sie mir, dass wir gegenwärtig Zeugen ihrer iTunes-Mediathek werden. Nicht schlecht! Sie bleibt bei uns am Tresen stehen und unterhält sich mit uns über Musik. Katie gesellt sich auch noch dazu und so verbringen wir ein weiteres Mal eine wahnsinnig gastfreundliche und gemütliche Zeit im Hazel Room.
Brian will sich den Food Court des Bulgaren aus dem Triple Nickel ansehen. Also schwingen wir uns in Brians Auto und düsen los. Der Food Court ist recht groß. In der Mitte des Platzes steht ein beheiztes Zelt und am Rand eine Reihe Chemietoiletten. Brian und ich haben keine Ahnung, wie der Trailer des Bulgaren getauft wurde. Wir wissen nur, dass er mexikanisches Essen verkauft. Auf diesem Food Court gibt es nur einen Mexikaner und der hat bereits geschlossen. Überhaupt hat nur noch ein Trailer geöffnet. Wir fragen den Verkäufer, welcher der Trailer zum Bulgaren gehört. Keiner. Brian hat sich den Namen und die Telefonnummer des Bulgaren notiert. Er ruft Stephen an und fragt ihn, wo sein Trailer steht. Oha, falscher Food Court. Weiter geht’s zur SE Division Street. Als wir ankommen, stelle ich überrascht fest, dass es sich hierbei um den allerersten Food Court handelt, den ich in Portland gesehen habe. Jener an der Ecke zur 48th Avenue, den mir Brian vor sechs Tagen zeigte, bevor er zur Massage und ich zu meiner ersten Downtownbesichtigung aufgebrochen bin. Serendipity?
Wir steuern auf den gelben Trailer mit dem Mexican Food zu. Ein Schild im Fenster weist bereits darauf hin, dass er zu haben ist. Daneben hängt ein Transparent: »Hippyman Land – Pizza«. Ein comichaft gemalter Hippie ist darauf abgebildet. Er trägt eine John-Lennon-Brille und ein gebatiktes T-Shirt, auf dem »Keep it weird« geschrieben steht. Wir gehen zur Rückseite des Wagens. Die große Flügeltür ist geöffnet. Im ziemlich düsteren Trailer finden wir den Kumpanen mit dem Fischerhut vor. Stephens Angestellter, der vor dem Triple Nickel den Kontakt zu seinem Boss hergestellt hatte, steht am Herd und kocht.
»Hey!«, ist er freudig überrascht, »You guys are checking out the trailer, aren’t ya?«
Er trägt wieder seinen Hut, außerdem kurze Hosen und weiße Tennissocken. Er brät sich gerade sein Abendessen. Es gibt Bacon. Sein Wagen ist der einzige, der auf dem D48 International Food Court noch geöffnet hat. Es ist 18 Uhr, stockdunkel und kein Kunde ist weit und breit zu sehen.

Die Armaturen im Trailer sind allesamt aus Edelstahl. Die Neonröhre über dem Gasherd ist vom Fett der … hm, vermutlich letzten Jahre verklebt. Überhaupt dürfte das Putzen der Anlagen nicht auf dem alltäglichen Arbeitsplan des Mannes mit dem Fischerhut stehen. Wir müssen ja aber nichts essen, sondern wollen den Trailer unter die Lupe nehmen. Der Meisterkoch ist obendrein nicht nur liebenswert, sondern auch sehr hilfsbereit und stellt sich all unseren Fragen: Der Wagen ist mobil! Ein Motor ist also vorhanden und zudem noch voll in Schuss. Die fest eingebauten Küchengeräte wie der Herd sind ebenso einwandfrei nutzbar. Alles in allem kann er Brian den Trailer ohne Gewissensbisse empfehlen. Und wie läuft das Geschäft? Mal so, mal so. Im Sommer läuft es sehr gut, aber im Winter weniger. Er wird von Stephen regelmäßig und zeitig bezahlt. Also muss es wohl irgendwie funktionieren, meint er.
Brian fühlt sich währenddessen sichtlich unwohl. Mir wird der exorbitante Speckgeruch auch langsam zu viel. Und dann schmeißt le chef de cuisine auch noch zwei … Was ist das? Was auch immer es ist: Die zwei fetten Brocken füllen den Specktopf nun bis zum Rand aus. Irgendwelche Beilagen sehe ich nicht. Das Fleisch alleine sollte aber auch schon für drei, vier Leute ausreichen. Für wen außer sich er das alles zubereitet, weiß er derweil noch nicht so recht – was es werden soll, wenn’s fertig ist, auch nicht so genau. Brian, der im vorderen Eck des Trailers steht, drängt an uns vorbei ins Freie. Ich folge ihm gerne.
»What do you think?«, frage ich ihn.
Er zündet sich eine Zigarette an: »It’s nothing for me«, sagt er nüchtern, aber leicht resigniert. »I get claustrophobia in there. I can’t stand upright. I’m too tall.«
Ich habe mit meinem 1,80 Meter noch problemlos hineingepasst, wobei nach oben auch nicht mehr viel Luft war. Brian jedoch dürfte die 1,85 Meter geknackt haben und stand tatsächlich immer mit eingezogener Rübe im Trailer.
Cari textet mir und fragt, was wir machen.
»We are at Division, quickly buying a food court trailer for 15 grants … Business as usual, you know«, schreibe ich lapidar ironisch zurück.
Caris Antwort kommt unverzüglich: »Holy shit!«
»No: food!«
In ihrer nächsten Nachricht schreibt sie, dass sie sich gerade im grocery store durch gebrülltes Lachen zum Deppen gemacht hat …
Stephen kommt. Er begrüßt uns freundlich und erzählt uns, dass ihm der komplette Food Court gehört. Er möchte wissen, was Brian vom gelben Trailer hält.
»I’m too tall.«
»Hm …«
Er eröffnet uns, dass er auch den nebendran stehenden, grünen Trailer loswerden möchte. Der hat sogar eine Dachterrasse.
»No way!«, ist Brian begeistert. Ich finde das auch äußerst cool und schon sprinten wir zur Rückseite des Wagens und klettern die dort angebrachte Leiter hinauf. Nice!
»Is this one bigger?«, fragt Brian.
»I don’t know.«
Fachmännisch versuchen Brian und ich anhand der Schweißnaht an der Außenseite des Trailers herauszufinden, wie hoch der Innenraum des Imbisses sein muss. Wir kommen zu dem Schluss, dass auch dieser Trailer für den gigantischen Brian zu klein sein dürfte. Außerdem habe ich sowieso das Gefühl, dass Brian nach der Pleite des ersten Trailers schon gar nicht mehr daran interessiert ist, ins Food-Court-Business einzusteigen. Dann doch lieber am Computerchip weiterbasteln …
»Where do you come from?«, fragt mich Stephen mit rollendem »R«.
»Germany«, gebe ich wahrheitsgemäß zu Protokoll.
»And your friend?«
Höhö … Da hätten wir’s mal wieder.

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Cari hat heute ihre lang ersehnten food stamps bekommen. Food Stamps bekommen Menschen, die ohne oder nur mit einem geringen Einkommen haushalten müssen. Da die erst frisch nach Portland gezogene Cari noch keinen Job hat, hat sie die Hilfe des Supplemental Nutrition Assistance Program beantragt. Sie ist damit berechtigt, anstelle von Geld mit den sogenannten Food Stamps in Supermärkten ihr Essen zu bezahlen. Restaurantbesuche und warmes Essen, wie es beispielsweise in einem Supermarktdeli angeboten wird, darf sie damit jedoch nicht vergüten.

<center>Supplemental Nutrition Assistance Program (SNAP)</center>
Bis 2008 hieß das SNAP noch Food Stamp Program. Der neue Name hat sich, nach meinen bisherigen Erkenntnissen, in keiner Weise durchgesetzt. Ein jeder spricht noch immer von »Food Stamps«. Die Einwohnerzahl der Vereinigten Staaten liegt bei rund 316 Millionen. Knapp 48 Millionen, also rund 15 % der Bevölkerung, sind auf die staatliche Lebensmittelunterstützung von durchschnittlich 135 Dollar pro Monat angewiesen.

Cari meldet sich wieder: »How about if you pick me up and I make you guys dinner?«
»We are coming!«
Cari hat im Grocery Store ordentlich zugelangt. Ich frage mich, wie sie all das nach Hause schleppen konnte. Sie fragt sich dasselbe. Cari mischt diverse Suppen und Soßen aus verschiedenen Tetra Paks, schnippelt Gemüse dazu und setzt Reis auf. Das Resultat ist ein genießbarer Topf, dessen Inhalt ich am ehesten noch als eine Art Sweet Thai Curry bezeichnen würde. Amüsanterweise steht Brian während des Kochens mit seinem bis an die Knie reichenden schwarzen Mantel und seinem neuesten Lieblingsutensil auf der Nase im dunkelsten Eck der Küche und versucht höchst konzentriert eine SMS zu schreiben. Es ist die vollkommene Vereinigung von gnadenlos bescheuertem Slapstick und der Coolness eines Gangsters. Bewegungslos, wie eingefroren … und somit optimal für ein Fotoshooting. Selbst als wir mit ihm als mafiakillermäßiger Backgroundfigur Bilder machen, bleibt sein Blick gebannt auf dem Display seines Smartphones kleben.

Joshua taucht nach dem Essen auf und wir beschließen, uns gemeinsam im Bagdad die Kante zu geben. Auf dem kurzen Weg in die Bar treffen wir Brendan auf der Straße. Einmal mehr beweist Portland, ein Dorf zu sein. Brendan kommt gerade aus einer anderen Bar und ist noch leicht durch den Wind. Er erzählt uns, dass er unschuldig und brav an seinem Tischchen saß, als eine knapp 40 Jahre alte Frau auf die Toilette ging und wenige Sekunden später ohne Klamotten wieder zurückkam. Ohne jegliche Klamotten wohlgemerkt. Sie tuen es also doch auch im Winter!
Zum (Un-)Glück gibt es Smartphones und schon macht das Beweisfoto die Runde. Brendan ist gut gelaunt und lacht sich noch immer über diese absurde Szene schlapp. Als Melissa wenig später auftaucht, verstummt er jedoch von einem auf den anderen Moment und kippt sich innerhalb kurzer Zeit drei Weingläser hinter die Binde – aus der Flasche, die Cari und ich übrigens bestellt und bezahlt haben. Doch was ist geschehen?
Nun, so mit das Blödeste, was einem wohl passieren kann: Er hat sich in sein One-Night-Stand verliebt und prompt eine Abfuhr erhalten. Dabei hat er ihr sogar angeboten, für sie künftig ein Deo zu benutzen. Nein, ich scherze nicht und Melissa ist von ihm und seinem Werben mittlerweile auch ziemlich genervt. Vielleicht erzählt sie uns auch deshalb von ihrem Date, von dem sie gerade zurückgekommen ist. Ein gewisser Noah hat es ihr angetan. Der ist aber noch in einer Beziehung, weswegen noch nichts läuft und sie erst mal nur Freunde bleiben wollen.
Brians skurrile Kumpeline, die ich am Tag, als ich Brian kennenlernte, abends beim Vietnamesen erstmals gesehen habe, taucht auch noch auf. Sie bleibt strange und entführt Brian irgendwann auf einmal. Auch der gut gelaunte Joshua macht sich früher auf den Heimweg. Wir Verbliebenen schaffen es indes problemlos, unser Vorhaben einzulösen und sind ordentlich knülle, als wir das Bagdad verlassen und nach wenigen Metern des fröhlichen Torkelns auf Ouga Bouga stoßen. Haha, der hat uns jetzt noch gefehlt!
»Ouga Bouga!«, rufe ich freudig erregt und mit zur Umarmung geöffneten Armen. Lustigerweise erkennt er mich, im Gegensatz zu heute Mittag, nun sofort wieder und lässt sich an meine Brust drücken. Vielleicht liegt es daran, dass er wieder breit ist. Es hat allerdings zugleich auch den Eindruck, als seien wir diesmal besser dabei als er. Ouga Bouga hält einen Joint in der Hand, den er zur Feier des Wiedersehens dann auch gleich mal im Kreis wandern lässt. Der Vogel ist urkomisch und plötzlich mag ich ihn total gerne. Ich drücke ihn sogar – aus mir im nüchternen Nachhinein betrachtet unerfindlichen Gründen – noch weitere Male an mich und streichle ihm zusätzlich noch locker dreimal über den Kopf. So wie es ein glücklicher Fußballtrainer nach dem Spiel mit seinem Torschützen macht. Hä? Was war denn da los?

Ich werde erneut in der Hawthorne Rose übernachten. Brendan, der eigentlich nur wenige Blocks weiter für monatlich 100 Dollar Badezimmermitnutzungsmiete in einer Hauseinfahrt in seinem Van lebt, tut es mir gleich. Mit dem Unterschied, dass er aus dem One-Night-Stand mit Melissa ein Two-Night-Stand macht. Ob das so schlau ist?
Als wir nach Hause kommen, steht Joshua vor dem Haus. Der 110-Kilo-Mann steht übrigens nicht auf das übliche weißgelbe Licht, das man sich zu Hause in die Fassungen schraubt. Deswegen hängen überall in der Hawthorne Rose bunte Lampen; Rotlicht im Bad beispielsweise. Die Küche kann sogar in kochfreundlichem Schwarzlicht erstrahlen. In Joshuas Gesicht ist momentan wiederum kein Strahlen festzustellen. Ganz andere Eigenschaften fördert er zur nächtlichen Stunde zutage, als wir ihm, mit leicht verwunderten Blicken, auf der Straße vor seinem Haus begegnen. Dass Josh modisch durchaus ähnlich fehlgeleitet wie Ford ist und gerne mal weiße Socken in Sandalen trägt, ist für mich keine Neuheit. Jetzt steht er aber frisch geduscht und nur mit einer kurzen Hose und einem zum Superheldencape umgehängten Hippieponcho bekleidet vor uns, was dann doch wieder in neue Dimensionen der modischen Ekstase führt. Er möchte mit Cari alleine reden, meint er schnippisch zu Melissa, Brendan und mir. Als ich zwei Minuten später Cari frage, was er wollte, versteht sie die Welt nicht mehr und lässt mich wissen, dass ich laut Joshua nur noch heute Nacht hier übernachten darf. »Landlord Freedom« meinte außerdem, dass es so nicht weitergeht und sie nicht ständig Freunde einladen darf. Hä? Ich bin genauso irritiert wie Cari. Eben war doch zwischen uns noch alles entspannt. Schizo …

2012 12 12 01.04.28
Landlord Freedom spricht Tacheles … und Cari nimmt es knülle zur Kenntnis.

Quellen
Informationen zu César E. Chávez und Oregons Rechtsprechung: Wikipedia
Informationen zum Clown House: clownhouse.org (mittlerweile offline), clownlink.com, bikeportland.org, portlandmercury.com
Informationen zu den Gesetzen Oregons: dumblaws.com & ebaumsworld.com
Informationen zur St. Andrew Church und der afroamerikanischen Geschichte der NE Alberta Street: standrewchurch.com
Informationen zum SNAP: SNAP Monthly Data

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