Tag 33: Hawthorne Boulevard, oder: Die Probleme des »Landlord Freedom«

Serendipity – Teil 1

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Mittwoch, 12. Dezember 2012
Portland

Joshua teilt Melissa mit, dass er sie und ihr Auto benötigt, um Dinge für das Haus zu kaufen. Da unter anderem eine Tür mit dem Auto transportiert werden soll, ist für Cari kein Platz darin. Sie leidet deswegen sehr und schlägt mir jubelnd vor, die Shoppingmöglichkeiten des Hawthorne Boulevard genauer unter die Lupe zu nehmen. Da bin ich dabei!
Nicht zuletzt aufgrund der merkwürdigen Aktion, die Joshua letzte Nacht gebracht hat, erzählt mir Cari, was sie über ihren Hausbesitzer und Mitbewohner alles weiß: Der 30-jährige Mann aus Alaska war in der Army. Laut eigener Aussage war er in der Panzertruppe und dort wohl ein recht hohes Tier mit 1000 Soldaten unter sich. Er diente im Irak oder in Afghanistan – so genau weiß Cari das nicht. Auf jeden Fall muss er wohl Dinge gesehen und erlebt haben, die dazu führten, dass er nun unter PTSD leidet. PTSD steht für posttraumatic stress disorder. Er ist also krank. Hm. Ich mache mir weitere Gedanken über Joshua: Ich werde noch immer nicht so recht schlau aus dem Kerl, weiß mittlerweile aber, dass er mir nicht wirklich sympathisch ist. An einem Tag will er mich rausschmeißen und schreibt seinen Mitbewohnerinnen vor, nicht mehr als zwei, später erhöht auf drei Tage in der Woche Gäste zu haben. Dies können weder Cari noch Melissa nachvollziehen. Schließlich hieß es von Anfang an: »Gleichberechtigung und Freiheit!«
Dann hat Joshua wieder Momente, in denen er zuckersüß zu mir ist, mich als seinen Freund bezeichnet und auch selbst zum Übernachten einlädt. Ich werde versuchen, sein Denken und Handeln ein wenig mehr zu ergründen und im Fall der Fälle Cari und Melissa mitteilen, dass sie besser wieder ausziehen sollten. Er wirkt auf mich nämlich durchaus nicht ganz ungefährlich …
Cari und ich gehen ins House of Vintage, einem riesigen Secondhandladen, der sich an der Ecke zur SE 33rd Avenue und somit direkt neben dem Hazel Room befindet.

House of Vintage
Das House of Vintage ist ein Kollektiv von mehr als 55 unabhängigen Händlern, die sich über 1200 m² Ladenfläche teilen. Damit ist es der größte Secondhandladen der Stadt, das darüber hinaus auch noch täglich geöffnet hat.
Sich durch den von außen nicht halb so mächtig wirkenden Laden zu kämpfen, ist ein großer Spaß. Das selbst ernannte »Vintage Wonderland« verkauft wirklich alles, was man sich in einem Secondhandladen wünscht: alte Schallplatten, Klamotten, Möbel, Actionfiguren, alte Zeitschriften, Lampen, Geschirr und sogar meinen alten Radiowecker und Kassettenrekorder von Panasonic, der mir gut 20 Jahre lang treue Dienste leistete, dieses Jahr aber leider das Zeitliche segnete. Ruhe in Frieden. Ob man also einen schicken Weihnachtspulli aus den 60er Jahren mit daran baumelnden Weihnachtsbaumkugeln, diese in den 90ern ziemlich nervigen Trollfiguren oder Schallplatten von Künstlern mit sagenhaften Frisuren sucht: Hier wird man fündig.

Wir starten unseren Rundgang durch das Trashparadies in einer größeren Halle. Verlässt man diese durch die Seitentür, gelangt man in den »Westflügel« des Wunderlandes, in dem man sich durch engere Gässchen geordneten Schnickschnacks quetschen darf. Ein paar Jungs bereiten sich offensichtlich auf eine Bad-Taste- oder Dress-to-Impress-Party vor. Zumindest sehen die vier ziemlich bescheuert aus – und scheinen es auch zu wissen. Das Gelächter während der Anprobe ist groß.

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Im niedlichen Hawthorne Street Cafe, das keine 100 Meter westlich vom House of Vintage entfernt ist, esse ich ich eine Linsensuppe. Cari bestellt sich außer einem kostenlosen Glas Wasser nichts, was uns beiden schon fast ein schlechtes Gewissen einbringt. Der Kellner, der vermutlich mexikanischer Herkunft ist und den wir auch als Besitzer des Cafés vermuten, ist überfreundlich und behandelt uns wie Könige. Letztlich lassen wir aber gerade einmal 3,95 Dollar bei ihm … plus Trinkgeld. Trotzdem verabschiedet er sich mit den Worten: »It’s been a great pleasure. Come back, please!«
Wir passieren gerade den Red Light Clothing Exchange – ein weiterer Vintageladen, der damit wirbt, über 100 hässliche Weihnachtspullis zu verkaufen –, als Cari plötzlich doch noch Hunger anmeldet. Wir überqueren die SE 36th Avenue und setzen uns ins schöne Bread and Ink Cafe. Ich trinke einen Kaffee, während Cari eine Specksuppe isst. Sie fragt mich, was ich für Weihnachten plane. Ich teile ihr mit, dass ich versuchen möchte, in San Francisco oder Los Angeles Essen an Obdachlose zu verteilen.
»Forget it«, antwortet sie, während sie mit ihren Händen eine abwiegelnde Bewegung macht. Ich schaue sie fragend an.
»So many people want do that. There’s a waiting list. You’ll never get a job there.«
Hm. Na, das ist ja mal interessant.
Ich erzähle ihr, dass Ford mich zu seiner Familie nach Chicago eingeladen hat. Der Flug ist allerdings zu teuer, weswegen das nicht in Frage kommt. Mit anderen Worten: Ich habe noch keine wirkliche Ahnung, möchte aber eigentlich ganz gerne wieder in San Francisco oder sogar in Los Angeles sein.
»What about you?«
»Hm«, sie verzieht leicht gequält ihr Gesicht, »looks like I’m gonna sit alone with Joshua under the Christmas tree.«
Oh.
»What about Melissa?«, frage ich sie.
»Is going to her parents.«
»Why don’t you go to Arizona, too?«
»Money? And I need to find a job here – as soon as possible.«
Melissa und Joshua kommen vom Einkauf zurück. Neben der angekündigten Tür befinden sich auch ein überdimensionaler Fernseher – so ein Teil wie Brians – und ein komplettes Kameraüberwachungssystem mit vier Kameras, aus denen noch acht werden sollen, im Auto. Ähm!?

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Melissa rollt ihre Augen, als sie sich an uns vorbei ins Haus drückt. Sie ist sichtlich entnervt und die Anschaffung der Überwachungskameras sorgt für zusätzliche Irritation. Cari glaubt den Grund zu kennen und erzählt mir eine weitere Geschichte von ihrem Landlord: Seitdem er das Haus gekauft und bezogen hat, ist angeblich bereits viermal eingebrochen worden.
»You’re kiddin’?«, frage ich sie.
Sie schüttelt den Kopf und führt weiter aus: Aus Motiven, die auch Cari nicht kennt, übernachtet Joshua seit einigen Nächten auf der kleinen Couch in der Küche, da er sein Zimmer Casey überlassen hat. Gestern hat er es dann wohl irgendwie geschafft, seine eigentlich derzeit homosexuelle Mitbewohnerin flachzulegen. Aus noch seltsameren Gründen ist diese daraufhin zu ihrem Exfreund zurückgegangen, der sich ihr aber – laut Richterbeschluss – nicht auf 100 Yards nähern darf. Joshua ist wegen Caseys Rückkehr, Flucht, Spinnerei – wie auch immer man es nennen und deuten mag – extrem angepisst und wird ihr beim nächsten Aufeinandertreffen mitteilen, dass sie ausziehen muss. Ich frage Cari, was Caseys Exfreund verbrochen hat. Sie weiß es nicht. Laut Joshua ist er es aber gewesen, der viermal hintereinander in die Hawthorne Rose eingestiegen ist und Joshuas Sachen geklaut hat. Und wieso rennt er dann noch frei herum? Cari kann sich ihr Grinsen kaum verkneifen, schüttelt den Kopf und zieht fragend ihre Schultern nach oben.
»You chose an interesting place to live in«, merke ich beeindruckt an.
»I hate boredom«, entgegnet sie süffisant.
Cari hat gestern auch eine Tofurkey Vegan Cheese Tiefkühlpizza gekauft, zu der sie Melissa und mich einlädt. Hier wird sich wirklich um einen gesorgt. Später meldet sich Brian und fragt, ob wir mit ihm ins Kino gehen wollen. Im Bagdad läuft »Looper« mit Bruce Willis und Joseph Gordon-Levitt. Und der Knüller ist, dass der Eintritt lächerliche drei Dollar beträgt. Ja, Wahnsinn! Cari und ich sagen zu, während Melissa andere Pläne hat. Joshua ist derweil mit seinen neuen Spielzeugen beschäftigt. Außerdem wollen wir ihn auch nicht mehr wirklich dabei haben.
Cari macht sich schick … und das dauert. Ich warte unruhig, während sie noch immer mit Schminken beschäftigt ist. Schließlich braucht sie so lange, dass wir den Filmstart verpassen. Sie entschuldigt sich und meint, dass dies aber kein Problem darstellt, da sie direkt ein Alternativprogramm vorschlagen kann: Freunde haben sich angekündigt und warten im Gold Dust Meridian, einer Cocktailbar, auf uns. Allerdings haben diese sich auch schon vor über 90 Minuten von dort gemeldet. Es kommt, wie es kommen muss, und wir verpassen auch Caris Freunde.
Die Bar ist ganz nett. Ein Typ mit einer Akustikklampfe sorgt für die Livemusik und die Bilder an der Wand, die allesamt irgendetwas mit dem Tod zu tun haben, sorgen neben dem sehr gedämmten Licht für eine interessante Atmosphäre. Ich stelle unterdessen fest, dass ich einfach kein Cocktailtrinker bin. Und wenn ich mir schon einmal einen bestelle, sollte es besser eine Bloody Mary sein.
Nachdem ich gestern also meinen »NE Alberta Street Day« hatte, war der heutige Tag wohl mein »SE Hawthorne Boulevard Day«, fällt mir auf. Woher kommt eigentlich der Name der hippen Straße?
Namensgeber war ein gewisser Dr. James C. Hawthorne, Mitbegründer von Oregons erster Nervenklinik, die 1862 in der damals noch U Street benannten Straße als »Oregon Hospital for the Insane« eröffnet wurde. Mit der Eröffnung hielten es irgendwelche seltsamen Mitbestimmer für eine gute Idee, die Straße in Asylum Avenue, also »Irrenanstalt Avenue«, umzubenennen. 1883 zog das irgendwann in Oregon State Hospital umbenannte Krankenhaus schließlich in die Hauptstadt Salem um, wo es 1975 als Drehort zum Klassiker »Einer flog über das Kuckucksnest« diente. Die Anwohner von Portlands »Irrenanstalt Avenue« protestierten nach dem Umzug erfolgreich bei Portlands Oberen und erwirkten eine Umbenennung der Straße. Im April 1888 erhielt sie schließlich den Namen des Herrn Doktor. In Salem wiederholte man übrigens den schlechten Scherz. Die dort betroffene Straße heißt heute Center Street.
Abermals zu erfolgreichen Protesten kam es, als sich McDonald’s vor einigen Jahren ein Haus auf dem wichtigen Hawthorne Boulevard aneignen wollte. Gegen den umstrittenen Giganten wehrten sich die ökologisch und ethisch bewusst lebenden Anwohner so sehr, dass es bis heute kein einziges Restaurant der üblich verdächtigen Fast-Food-Ketten auf dem Boulevard gibt. Sehr lobenswert!
Es ist kurz vor 23 Uhr als Cari und ich hungrig werden. Ihr Smartphone spuckt uns die Restaurants und Food Courts der näheren Umgebung aus, die um diese Zeit noch geöffnet haben. Wir entscheiden uns für das vietnamesisch-thailändische Restaurant Thanh Thao, was sich als eine sehr gute Wahl herausstellen soll. Nicht nur, dass man uns zu so später Stunde tatsächlich noch etwas zu Essen macht. Nein, es ist auch wirklich gut.

Nicht zuletzt aufgrund des nun vollen Magens sind wir nach dem Essen ziemlich müde. Wir schauen im Kino vorbei und fragen einen Angestellten, ob der Film bereits zu Ende ist. Ist er. Brian hat sich auch nicht mehr gemeldet, weswegen wir wieder zurück in die Hawthorne Rose gehen. Auf dem Weg dorthin sehen wir im Dorfe Portland Brendan in einer Bar sitzen. Wir sind aber zu müde und lassen ihn sitzen, wo er sitzt. Gute Nacht …

Quellen
Informationen zum House of Vintage: houseofvintage.net
Informationen zu James C. Hawthorne und dem Oregon State Hospital: Wikipedia

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