Tag 36: Eine Nadel mit Tannenbäumchen gegen Juri Gagarin und Konsorten
Serendipity – Teil 1

Samstag, 15. Dezember 2012
SeaTac – Des Moines – Seattle – SeaTac
»I’m sitting in one of those fucking cubicles«, erklärt er mir. Ich ahne schon, was es ist, bin mir aber bei der Vokabel nicht hundertprozentig sicher. Unsicher schaue ich ihn an.
»Like Neo in ›The Matrix‹.«
»Oh.«
Eine GroĂźraumbĂĽrozelle also. Das stelle ich mir auch nicht so geil vor.
Wir rauchen ein paar Pfeifchen und fahren nach Des Moines, das wie Federal Way nahezu unmerklich von SeaTac getrennt, einen neuen Ort mit 30.000 Einwohnern darstellt. Wir besuchen einen von Leos Freunden. Auch dieser Kumpel ist Asiate und hat einen großen Hund – scheint der Trend im Norden zu sein. Diesmal handelt es sich um einen Schäferhund. Leos dicker Freund lebt bei seiner Mutter, die sich ein hübsches und prächtiges Haus in die grüne Landschaft gestellt hat. Zunächst wird im geöffneten Garagentor geraucht, bevor wir dem gemütlichen Brillenträger in Mamas Spießerpalast folgen. Der weiße Läufer, der die Treppe hinaufführt, ist mit einer transparenten Plastikfolie überzogen. Entweder wird darauf ein Mord geplant oder der Teppich ist frisch geklebt worden. Der Weihnachtsbaum ist reich geschmückt und das Wohnzimmer samt Wohnküche zeugen von einem guten Gehalt der Mutter. Ich habe keine Ahnung, was sie arbeitet, aber es scheint sich zu lohnen. Leo schnappt sich den Whiskey und schenkt sich und mir ein Gläschen ein. Wie üblich wird der gute Tropfen lieblos geext. Ich bin zwar sicherlich kein Whiskeygourmet, aber dass man ihn sich einfach reinschüttet, erscheint selbst mir blasphemisch. Anscheinend ist aber genug da vom guten Trunk, denn schon wird mein Glas wieder neu aufgefüllt. Oje, dabei schmeckt’s mir doch gar nicht …

Es geht wieder runter vor die Garage. Der Hund springt freudig im Kreis oder rempelt uns an, während ein Pfeifchen gestopft wird. Auch beim Kiffen sind die Amis »Turbokonsumenten«. Da nimmt sich niemand mal die Zeit, ein Tütchen zu rollen. In die Pfeife, Feuer frei und ab dafür! Immerhin wird löblicherweise auf Tabak verzichtet. Die nächste Station ist der Fernsehraum im Keller. Eine britische Autoshow wird eingeschaltet, die mir – wie üblich, wenn es um Autos geht – herzlichst am Ärschlein vorbeigeht. Oha, Leo und ich haben einen Interessenkonflikt! Da ich der Show nicht folge, weiß ich nicht, ob es mein Desinteresse oder das Ende der Sendung ist, was Leo und mich zum Aufbruch bewegt. Ich bin auf jeden Fall recht froh darüber.
Die folgende Aktion ist da schon wesentlich cooler. Es geht in die Stadt: Seattle!
Leo fährt mit mir an der Space Needle vorbei, die 1962 für die Weltausstellung errichtet wurde, welche den Namen »Century 21 Exposition« trug.
Eine weitere nette Anekdote betrifft die für den Anstrich verwendeten Farben. Wir erinnern uns: Seattle ist 1962 ganz der Zukunft und als neue »Aerospace City« von Boeings Gnaden auch dem Weltraum zugewandt. Besondere Farben müssen also her, mit denen man dem neuen Turm Glanz und Gloria verleihen kann! Es darf nun über die Henne und das Ei diskutiert werden, denn ich habe keine Ahnung, ob es zunächst die Farben oder deren Namen gab. Aber ist es nicht köstlich zu wissen, dass die Space Needle mit Galaxy Gold, Orbital Oliv und Astronaut White gestrichen wurde? Das galaktische Gold, mit dem der Turmkorb, also das Restaurant, gestrichen wurde und welches eher ein ziemlich kräftiges Orange war, musste eben aufgrund seiner Dominanz 1968 schließlich noch mehr Astronautenweiß weichen. Zum diesjährigen 50. Geburtstag des Turms wurde der Turmkorb zunächst wieder im orange-goldenen Old-School-Look gestrichen und dann ein Designwettbewerb ausgerufen. Das Design mit den meisten Stimmen wird von Oktober 2012 bis April 2013 das Dach des Turmkorbs schmücken. Gewinnerin wurde die 29-jährige Nicole Commins, die … Tannenbäumchen einreichte. Im Vorbeifahren sehe ich das Dach natürlich nicht. Wenn ich es recht überlege, frage ich mich, ob man es überhaupt von irgendwo aus sehen kann. Auf alle Fälle will Miss Commins auf die wunderbare Natur des Staates Washington aufmerksam machen. Davon hat mir auch Leo bereits vorgeschwärmt. Ich hoffe, dass ich – nachdem ich in Portland schon nichts von Oregons Natur gesehen habe – in den kommenden Tagen von Washington mehr zu Gesicht bekommen werde.
Silvester 1999 wurde der »Skybeam« alias »The Legacy Light« auf dem Dach des Turmes eingeweiht. Hierbei handelt es sich um die ästhetisch sicherlich coole Idee, einen Lichtstrahl, der seinesgleichen sucht, in den Himmel zu jagen. Die Eingebung kam von einem Poster der Expo ’62, auf dem ein solcher Strahl zu sehen war – obwohl eine solche Lichtvorrichtung nie installiert wurde. Geplant war, den Strahl an 75 Nächten im Jahr in den Himmel zu jagen, womit wir zum unüberlegten Teil der Idee kommen: Solch ein Strahl sorgt natürlich auch für einiges an Lichtverschmutzung, weswegen man die Inbetriebnahme des Strahls auf maximal zwölf Nächte pro Jahr reduzierte. Nach den Anschlägen vom 11. September ließ man den Skybeam aber zusätzlich elf Tage am Stück eingeschaltet.
Um das Thema Space Needle abzuschlieĂźen: Was haben eine Lavalampe und Seattles Wahrzeichen gemeinsam?
Googie, Baby!
Hier und hier gibt es Googiefotos von Googiefans auf googy Flickr.
Wir bleiben übrigens nicht stehen, um uns die Space Needle genauer anzusehen. Leo lenkt den Wagen gute fünf Meilen weiter nordwärts in den University Way NE. Hier ist das Wayward Vegan Cafe, in dem ich ein Stück Lasagne verdrücke und Leo einen Tuna-Melt-Toast – oder so ähnlich. Die Lasagne ist gut, der Toast eher unspektakulär.
Weiter geht’s zu einer sehr privaten Tour, die erneut zeigt, wie einschneidend Lauras Selbstmord in Leos Leben war. Mein Freund zeigt mir die Gegenden, in denen Laura heimisch war. Sie ist mehrfach innerhalb von Seattle umgezogen. Mit dem Auto klappern wir nun eine Wohnung nach der nächsten ab und Leo erzählt von gemeinsamen Erlebnissen mit seiner Schwester. Durch ihren Job und die Tatsache, dass sie ihr Credo, das sie uns schon in Kindheitstagen prophezeite, in die Tat umgesetzt hatte, war sie gern gesehener Gast in diversen Bars und Clubs. Ihren kleinen Bruder schleppte sie gerne mit und öffnete ihm schon als Minderjährigem Pforten, die normalerweise erst ab 21 Jahren zugänglich waren. Ihre schönste Wohnung hatte sie wohl um die Ecke vom West Highland Drive im Queen Anne District. Hier befindet sich der Kerry Park. Es ist bereits halb zehn, die Sonne ist also schon längst untergegangen. Die Lichter der Stadt und natürlich allem voran die beleuchtete Space Needle sorgen dafür, dass man einen wahrlich epischen Blick auf Seattles Downtown und Skyline hat. Zusätzlich hängen die dichten Wolken nicht allzu hoch über der Stadt und bündeln das Licht in sich. Es ist dramatisch und wunderschön. Tannenbäumchen sehe ich keine. Aber das Dach der Space Needle leuchtet grün.
»Where do we go now?«, frage ich Leo.
»At home. Getting stoned and watch a movie.«
Na dann …
»Grandma’s Boy« heißt das Meisterwerk, das man sich wohl auch besser nicht nüchtern anschaut … glaube ich.
Du hast mich gerade hervorragend mit erstaunlichen Informationen ĂĽber Seattles Space Needle und die wunderbare Googie – Architektur unterhalten! Herzlichen Dank!