Tag 37: Krieg!

Serendipity – Teil 1

2012 12 16 Beitragsbild

Sonntag, 16. Dezember 2012
SeaTac – Kent – Des Moines – Federal Way – Des Moines – SeaTac

Achtung, Achtung, dramatische Wetterveränderung: Heute regnet es stärker als in den letzten Tagen. Hmpf.
Wir fahren zu Fred Meyer, einem Hypermarkt, in dem man kaum etwas nicht bekommen kann. Im King County scheint man alles mit dem Auto zu erledigen. Das ist aber auch durchaus nachvollziehbar. Stadtkerne, also Downtowns oder gar Fußgängerzonen gibt es offenbar nicht. Die in fließenden Grenzen ineinander übergehenden Kleinstädte zwischen Seattle und Tacoma, die mit zusammen rund 1,2 Millionen Menschen übrigens doppelt so viele Einwohner wie Seattle haben, scheinen nahezu ausschließlich aus Malls, Hypermärkten und Parkplätzen zu bestehen. Leo selbst lebt am International Boulevard, der auch Pacific Highway heißt, was aber nicht etwa eine klassische Autobahn, sondern schlichtweg die Hauptverkehrsstraße von SeaTac zu sein scheint. Parkplatz reiht sich an Parkplatz und Hypermarkt an Hypermarkt. Dementsprechend habe ich auch leichte Orientierungsprobleme. Das klingt seltsam, da es eigentlich immer in nur eine Richtung und geradeaus geht. Genau dadurch kann ich aber kein Gefühl für den Raum entwickeln. Alles sieht irgendwie gleich aus, wodurch ich beim besten Willen nicht sagen kann, ob Fred Meyer nun fünf Kreuzungen oder zehn Kreuzungen entfernt ist. Dass sich der Hypermarkt noch nicht einmal mehr in SeaTac, sondern bereits in der nächsten 90.000-Einwohner-Stadt Kent befindet, bekomme ich ebenso wenig mit. Leo hat mir bei einer unserer kleinen Autotouren einmal eine Küstenstraße gezeigt. Das müsste in Des Moines gewesen sein. Allzu viel gesehen habe ich nicht, da es dunkel war und es wie immer geschüttet hat. Rein theoretisch liegen SeaTac, Des Moines, Federal Way, Kent und wie die ganzen Orte der Metropolregion heißen, in einer sehr schönen Gegend, denn Seattle und das komplette Ballungsgebiet haben im Westen den Puget Sound als natürliche Grenze.

Puget Sound, Mount Rainier und die Kaskadenkette
»Sound« heißt Meerenge – was mir nun auch den Namen von Seattles Fußballteam, den Seattle Sounders, erklärt. Steht man am Ufer, blickt man also nicht aufs offene Meer hinaus, sondern hat vielmehr das Gefühl, an einem See zu stehen, da man im Westen wieder Land sieht. Die Meerenge ist ungefähr zwischen drei und zehn Kilometern breit. Insgesamt zieht sich der Sund gute 150 Kilometer durchs Land und verzweigt sich dabei sehr oft. Bei gutem Wetter kann man auch problemlos den 4392 Meter hohen Mount Rainier im Südosten sehen. Der Gipfel ist nur knappe 70 Kilometer Luftlinie von SeaTac und 90 Kilometer von Seattle entfernt. Leider haben wir kein gutes Wetter. Der Berg ist im gleichnamigen Nationalpark gelegen und ein Schichtvulkan. Gleichzeitig ist er auch der höchste Berg Washingtons und der kompletten Kaskadenkette, ein 1130 Kilometer langer Gebirgszug vulkanischen Ursprungs, der in Nordamerika parallel zur Westküste verläuft. Die Kaskadenkette beginnt in Kanada, im Süden von British Columbia, und geht in Nordkalifornien in die Sierra Nevada über.

Leo checkt bei Fred Meyer die Multimediaabteilung ab, ich die Toilette. Man scheint Leo in der DVD-, Blu-ray- und Videospielabteilung zu kennen. Als Nächstes geht’s zu einem Schalter, der Zigaretten und Geldtransfers anbietet. Aha. So ganz verstehe ich nicht, was genau am Holztresen der netten Dame abläuft, aber Leo bekommt einen Zettel, den er in manche Geldautomaten stecken kann und somit Geld auf ein anderes Konto überweist. Das verwundert mich: warum so umständlich?
Nachdem wir unseren Frühstückskaffee bei Cutters Point Coffee geschlürft haben – wo laut Leo übrigens die hübschesten Kaffeeverkäuferinnen weit und breit arbeiten –, geht’s zum 7-Eleven nach Des Moines. Leo will am hiesigen Geldautomaten seine Strom- und Gasrechnung mit dem merkwürdigen Transferschein bezahlen. Er will … aber er kann es nicht. Das liegt allerdings nicht an menschlichem Versagen durch Leo, sondern an der blöden Technik. »Century 21« und deine gescheiterte Vision der Zukunft, in der wir Menschen die Natur und die Technik dominieren: Verflucht seist Du!
Der bescheuerte Automat friert ein und Leos reingeschobene 80 Dollar sind … ja, wo sind die denn nun? Rein physisch nur wenige Zentimeter von seiner vor Wut zitternden Hand und seinem geschockten Gesicht mit dem offenen Mund entfernt. Transfer- und inkassotechnisch betrachtet, dürften sie aber im kabellosen Orbit der Ungewissheit sein. Leo steht vor dem Tal der Ungerechtigkeit oder dem Berg der Bürokratie und Telefonie. Wenn, ja, wenn der Mann vom 7-Eleven nicht aushilft.
»This fucking machine just froze and took my fucking money!«
Leo bleibt von Anfang an nicht die Ruhe selbst. Der 7-Eleven-Mann nickt verständnisvoll: »Yes, that already happened before.«
»What the fuck?«
Leo beruhigt sich … nicht. Der 7-Eleven-Mann unberuhigt sich hingegen ebenfalls nicht.
»So what the fuck are you going to fucking do now?«
Ich garantiere nicht dafür, dass Leo jedes »Fuck« auch tatsächlich an jeder der von mir platzierten Stellen tatsächlich anwendet. Es ist allerdings das dominierende Wort in dieser … ach, nennen wir es einfach »Unterhaltung«.
»Nothing.«
»Fuck! What the … Fuck!«
Leo schlägt auf die Maschine ein. Ich stehe derweil zwischen den Fronten, hebe meine beiden Zeigefinger und bewege sie, ebenso wie meine Augen zwischen dem 7-Eleven-Mann und Leo hin und her, während meine Lippen gespitzt sind. Ich bin bereit, etwas zu sagen. Ich weiß nur nicht was … und schweige daher. Ich sehe dabei aber sicherlich ziemlich diplomatisch und fachmännisch konzentriert aus.
»It’s your fucking machine and you have to get my fucking money out of there! Fuck!«
Hätte die Maschine eine Nase und Augen, sie würde nun bluten und wäre blau. Ich atme tief ein, bereit nach wie vor nichts zu sagen, und hebe meine Finger wichtig unwichtig etwas weiter in die Höhe. Ich habe keine Ahnung, was ich machen soll.
»It’s not my machine«, antwortet der böse, böse 7-Eleven-Mann, wodurch er Leo sichtlich … ach … noch weiter auf die Palme bringt: »Are you fucking kidding me? It’s in your fucking store! Who the fuck is fucking fixing this fuck when it’s fucking broken?«
»The company that owns the machine.«
»Who the fuck?«
Der Mann zeigt auf den Automaten, auf dem der Name einer Bank steht.
»Call them! Fuck!«
»The number is written on the machine.«
Leo wendet sich an mich und spricht alles andere als leise, als er mir mitteilt, dass ihm das schon einmal in diesem fucking Laden passiert ist und der andere Typ letztes Mal nicht so fucking ignorant war und ihm fucking geholfen hat. Dieser fucking Wichser ist aber offensichtlich einfach nur fucking scheiße und … und so weiter.
Die Nummer ist ins Handy getippt, die Verbindung hergestellt und irgendwer nimmt am anderen Ende der kabellosen Leitung den vermutlich kabellosen Hörer ab. Ich schnappe im Freien ein wenig Luft, während Leo dem Kollegen erklärt, was vorgefallen ist. Ein fetter Typ kommt angestapft und sieht mächtig böse aus. Es ist der Antichrist persönlich und er läuft quer durch eine tiefe Pfütze. Das lässt ihn kalt. Ich bin gespannt, ob die angespannte Situation durch einen kleinen Überfall aufgelockert wird. Nach den Ereignissen der letzten Tage scheinen die Amis ja derzeit auch durchaus schießwütig zu sein. Ich höre weder Schüsse noch sehe ich Leo oder den 7-Eleven-Mann sich auf den Boden schmeißen. Der 7-Eleven-Mann würde wahrscheinlich sowieso einfach nur sagen: »This is not my store«, und dem Dicken mit den nassen Socken die Kohlen freiwillig in die Hand drücken – was ja auch das Intelligenteste wäre. Oder er wäre doof und nicht kooperativ. Dann würde er sagen, dass er die Kasse nicht öffnen kann und der Räuber die Nummer anrufen muss, die auf der Kasse steht. Der potenzielle Ultrabrutale verlässt den 7-Eleven wieder. Er steuert auf mich zu. Mein Atem stockt. Passiert noch was? Tatsächlich: Er greift in seine Tasche und zieht das Unfassbare heraus … Er ist nur noch wenige Schritte von mir entfernt, als er entsichert … und den Labello vorsichtig aufträgt. Ja, der Winter. Da werden selbst die Lippen der Härtesten spröde.

Da ich keine Fotos gemacht habe und Leo zu faul zum Malen war (ist?), lege ich meine nicht vorhandenen Talente mit einer realistischen Darstellung der oben beschriebenen Szene offen. Dies darf auch zugleich als eine Hommage an Leos Zeichenkünste betrachtet werden. Bitte, mach’s besser, Leo! So wie damals …

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Leo kommt raus. Mittlerweile haben wir übrigens 90 Minuten im 7-Eleven verbracht. Ich frage natürlich nicht, was passiert ist und wie es weitergeht, denn ich sehe seinen Gesichtsausdruck. Schweigend steige ich hinab in sein tiefergelegtes Auto. Ächz. Wieso machen die Leute das nur? Der Asphalt massiert die Arschbacken und Leo muss seine Kopfschmerzen behandeln.
»Hi Dara! Hi ›High‹!«, leise lache ich in mich hinein, als wir das Plantagenhaus betreten.
Leo berichtet, was vorgefallen ist und ich davon, dass wir gestern »Grandmas’s Boy« gesehen haben.
»Oh, ›Grandma’s Boy‹ is awesome!«
Feldforschung erfolgreich und meiner Theorie entsprechend abgeschlossen: Nach »Cheech & Chong« und »Half Baked« kommt »Grandma’s Boy«. Leo entschuldigt sich übrigens mehrfach für seinen Ausraster. Schon okay, war doch ganz amüsant. Und wenn man in einer Stadt lebt, die einem 1962 schon die Bändigung der wilden Technik verspricht und dann kommt 50 Jahre später so was, ist es ja auch nachvollziehbar.
Während wir so bei Dara und »High« sitzen, telefoniert Leo ständig mit den Deppen, die für den Bankautomaten verantwortlich sind. Das scheint sich noch ein wenig hinzuziehen, da die wohl nicht sofort jemanden zum Automaten schicken wollen. Leo hingegen will keinen Stress mit seinem Gas- und Stromanbieter haben. Ein Teufelskreis.
Ein gewisser »C« ruft an. Er leidet unter heftigen Schmerzen und benötigt die Hilfe der Apotheke. Leo zwängt sich in den Lieferantenanzug, setzt sich ein Basecap auf und knipst sich sein Namensschildchen an die Brust. Der Lieferschein wird ausgedruckt und das Blaulicht auf den Wagen geschraubt. Im Namen der Schmerzlosigkeit: Wir haben eine Mission zu erfüllen! Ganz so UPS- und FedEx-mäßig läuft’s dann doch nicht ab, aber: Leo und ich liefern aus.
Der Schmerzpatient ist der Vater von Leos Ex und schaut sich mit seiner Frau und einem Kumpel gerade ein Footballspiel an, als wir klingeln. Weil ich Deutscher bin, bekomme ich ein Bier und Leo eine exschwiegerväterliche Umarmung. Das ist doch nett und wir sind froh, dem endlosen Leid ein Ende bereiten zu können. Auch Leos Leid scheint einem Happy End entgegenzusteuern. Die Bank zeigt sich kooperativ und Leos Geld kann gerettet werden. Das heißt allerdings, dass wir morgen erneut zu Fred Meyer müssen, Leo einen weiteren Zettel ausfüllen und dann wohl erneut einen Transferschein bekommen wird, den er dann woanders in einen Automaten … was bin ich froh, dass ich Online-Banking habe.
Am Abend zeigt mir Leo eine seiner Lieblingsbars. Wir parken den Wagen wie üblich im äußersten Eck des Parkplatzes und spazieren zur Eingangstür. Der Yardarm Pub in Des Moines sieht von außen schon etwas strange aus: ein ebenerdiges Holzhaus mit Rundfenstern neben der massiven Holztür. Ich schaue durch eines der großen Bullaugen ins Innere der Sportsbar. Leo lacht und erzählt mir, dass er das auch eine Zeit lang machte, bevor er hineinging. Bei ihm war die Neugierde jedoch anderer Natur: Er musste checken, ob seine Ex in der Bar ist.
Ich bestelle mir ein Bier, Leo einen Tequila. Ich verliere dreimal hintereinander beim Billard und trinke ein Frustbier – Leo einen Siegertequila. Ein komischer 23-jähriger Footballfan nähert sich uns, bleibt hinter uns stehen und belauscht unsere Unterhaltung. Dann lacht er und klärt uns breit grinsend darüber auf, dass er eigentlich gerade Stress mit uns anfangen und uns aufs Maul hauen wollte. Nachdem er uns aber ein wenig zugehört hat, findet er uns viel zu sympathisch, um uns die Fresse zu polieren. Wir jubeln, gratulieren ihm zu dieser weisen Entscheidung und bestellen die nächste Runde. Leo ist nach dem dritten, vierten oder fünften Tequila – wer zählt da schon mit – lustig drauf und vergisst den Stress mit dem Geld oder auch seiner Arbeit, über die er sich täglich in regelmäßigen Abständen aufregt. Wir lernen Andrew kennen. Er ist ein echter Seattleite. So werden tatsächlich die Bürger Seattles genannt. Da ist er schon wieder, dieser Bezug zum Weltall und der Zukunft. Wie dem auch sei, Andrew, der weder Andy noch Drew genannt werden möchte, erzählt mir, wie schlau Europäer und wie strunzdumm Amerikaner sind. Leo bestätigt dies freudig und merkt mehrfach an: »I’m European, too! Hicks! Eurotrash rules!«
Dann erzählt er die Geschichten von abgeschriebenen Hausaufgaben und Multiple-Choice-Tests, von eingefrorenen Bankautomaten, entfremdender Großraumbüroarbeit, der Weltpolizei und dem amerikanischen Imperialismus. Die Yankees um uns herum stimmen ihm überzeugt zu, heben ihre Fäuste und erklären Amerika den Krieg. Ich bin begeistert und irritiert zugleich von so viel Antiamerikanismus in Amerika und solidarisiere mich mit meinen neuen Genossen, indem ich freudig im Kreis springe und: »USA! USA!«, rufe.
»Weird«, höre ich sie flüstern und: »Could you stop it, please?«
In der Nacht zieht ein Sturm auf und Leos gelbes und rotes Holz- und Plastikmehrfamilienhaus, dessen Design direkt von IKEA stammen dürfte, bewegt sich sanft mit dem Wind hin und her. Ich schlafe wie ein Baby, während ich für Tequila-Leo hoffe, dass er seinen Anker gesetzt hat.

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Cari
Cari
11 Jahre zuvor

Sooo.. you are Satan in this picture? Putting on lipstick?

Mum
Mum
11 Jahre zuvor
Reply to  Cari

Hi Cari! Dennis is angel-like, you know it!!! Wee joke! Hearty laugh! Hahaha!

Inge Knickel
Inge Knickel
11 Jahre zuvor

Whow, ich entdecke bei Dir bisher ungeahnte künstlerische Talente, hahaha! ;o)

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