Tag 38: Weihnachtspläne und ein bisschen Seattle
Serendipity – Teil 1

Montag, 17. Dezember 2012
SeaTac – Kent – Seattle – SeaTac
»Did something happen?«, frage ich besorgt.
»Not really.«
»That means what exactly?«
Cari erzählt mir, dass Joshua wie immer zwischen äußerst seltsam und superfreundlich hin- und herschwankte. Dann fing er an, Cari anzubaggern, was sie sich von ihrem Landlord und Mitbewohner nicht erwünscht. Zunächst lud er sie zum Abendessen in das Vietnamrestaurant ein, in dem Cari und ich auch essen waren. Sie wusste nicht, dass er das Abendessen als ein Date ansah. Dem war aber so, weswegen er das Werben fortsetzte. Eines Abends klopfte er betrunken an ihre Tür. Sie öffnete und er versuchte sich an ihr vorbei ins Zimmer zu drücken. Sie konnte ihn aber ohne größere Probleme draußen halten. Trotzdem empfand sie diese Situation – vollkommen zu Recht – als sehr störend und vermutlich auch leicht beängstigend.
»Is it dangerous with Joshua?«, frage ich sie.
»No.«
»Sure?«
»Pretty sure.«
»Pretty sure?«
»No, I’m sure. He’s not going to harm me.«
Ich bin jedoch beunruhigt und bitte sie, mir jede Statusänderung sofort mitzuteilen und vielleicht doch besser sofort auszuziehen.
Cari kommt zum eigentlichen Grund ihres Anrufs: Sie erklärt, dass sie bei Noah – Melissas Freund, der erst mal nur Kumpel bleibt, solange er noch in einer Beziehung ist – oder auf irgendeiner Farm Weihnachten feiern könnte, dies aber nicht will. Zum einen kennt sie die Leute kaum oder gar nicht und zum anderen will sie jetzt viel lieber reisen. Also fragt sie mich, ob sie sich mir anschließen kann und wir gemeinsam Weihnachten in San Francisco feiern wollen. Ja, Rock und Roll! Nichts lieber als das!
Wir starten direkt mit der Planung. Allzu viel Zeit ist es ja nicht mehr bis Weihnachten und zu zweit sollte man schon ein paar Vorkehrungen treffen. Wir überlegen, wie wir überhaupt nach San Francisco kommen. Wir dürften das Auto von Melissas Eltern benutzen. Allerdings frisst das Unmengen an Sprit. Also fällt das schon mal flach. Cari schaut nach Zugtickets. Wie ich selbst bereits feststellen konnte, reisen die Amerikaner gerne und viel mit dem Zug. Die Abteile sind stets gut gefüllt und Cari äußert wenig Hoffnung, überhaupt noch Tickets zu bekommen. Ihre Befürchtung bewahrheitet sich: Sämtliche Züge und Busse sind komplett ausgebucht. Lediglich beim Greyhound wäre noch was frei … für 200 Dollar. Wow! Da bleibt uns wohl nur ein Mietwagen. Da Leo kein Internet hat, kann ich heute nicht nach Angeboten schauen. Ich bitte Cari, sich ein wenig umzusehen. Zur Weihnachtszeit einen Wagen zu mieten, sollte kein Problem darstellen, meint sie. Mir gefällt die Idee mit dem Mietwagen. Somit können wir auch zum Redwood National Park fahren, den ich auf meinem Weg nach Norden ja leider nicht mitgenommen habe. Auch Cari mag die Idee und will sich nach Couchsurfern in der Gegend umsehen. Wegen der Feiertage befürchte ich allerdings, dass wir keine Gastgeber finden werden. Deshalb muss auch für Alternativen gesorgt werden. Gibt es Hostels in den Redwoods? Wie teuer sind die? Sollten wir, falls vorhanden, in ein Bed & Breakfast? Im Auto schlafen? Zelten? Außerdem müssen wir dasselbe auch für San Francisco herausfinden. Zelten und im Auto schlafen können wir in San Francisco sicherlich vergessen. Vielleicht sollte ich Rain fragen, ob wir im Bordello unterkommen können – falls sie über Weihnachten überhaupt da ist. Ford ist dann ja bekanntlich in Chicago.
»When are we thinking of heading out? Do you have some kind of schedule?«, schreibt sie mir später.
»I'm actually thinking about it right now. Maybe 21st Portland? 24th or 25th arrival in SF? Not sure yet. Portland on 22nd is also possible.«
»Fuck that come on the 20th!«
Am frühen Nachmittag fahren Leo und ich wieder zu Fred Meyer, um den neuen Transferschein für Leos Rechnungen zu holen. Als wir auf den Parkplatz fahren, erspäht Leo überraschenderweise das Auto seiner Mutter. Er ruft sie schnell auf dem Handy an und teilt ihr mit, dass wir uns gleich zum Kaffee im Cutters Point treffen sollten. Als mich Leos Mama zum ersten Mal wiedersieht, strahlt sie übers ganze Gesicht und umarmt mich herzlich. Sie findet es so toll, dass ich ihren Leo nicht vergessen habe und nun sogar zu Besuch gekommen bin. Ivanka ist unglaublich lieb und süß. Wir erzählen viel, auch auf deutsch. Schließlich lädt sie mich dazu ein, über Weihnachten und Silvester bei ihnen zu bleiben – und wenn ich will noch länger. Ich bin gerührt.
Gegen 16 Uhr fahren Leo und ich nach Seattle. Westlich der Interstate 5 türmen sich die Wolkenkratzer der Innenstadt in die Höhe. Es sind sehr modern wirkende Hochhäuser mit größtenteils dunklen Gläsern und Fassaden. Wir passieren zwei Stadien, die direkt nebeneinanderliegen. Das südlichere ist das Baseballstadion der Seattle Mariners. Nur wenige Meter weiter nördlich befindet sich das CenturyLink Field, das sich das Footballteam der Seahawks mit den Fußballern der Sounders teilt.
Auf einem Schild steht »Vancouver BC«. Dorthin werde ich es leider nicht mehr schaffen. Es sind etwas mehr als 200 Kilometer bis zur kanadischen Stadt. Auf der einen Seite fehlt mir tatsächlich die Zeit, wenn ich mein sehr grob gefasstes Programm für meinen restlichen Trip umsetzen möchte und auf der anderen Seite wurde mir angeraten, Vancouver besser im Sommer zu besuchen. Da mir bereits von mehreren Menschen Vancouver als die vielleicht schönste Stadt der Welt angepriesen wurde, will ich mir den ersten Eindruck durch Nebel, tief liegende Wolken und Dauerregen nicht vermiesen lassen. Ich werde schon noch hinkommen, ein anderes Mal eben. Auf den Süden und somit regenfreies Wetter freue ich mich mittlerweile schon sehr, muss ich gestehen.
Die Interstate führt nun direkt an den Hochhäusern von Seattles Innenstadt vorbei. Das ist beeindruckend und hat etwas von Science-Fiction. Wir biegen in die Innenstadt ab. Den Vergleich mit San Francisco kann man durchaus anbringen: Die Straßen, die zur Meerenge hinabführen, sind sehr steil. Ich würde fast behaupten, noch steiler als in der kalifornischen Metropole, die übrigens ganze 1100 Kilometer Luftlinie von Seattle entfernt ist – um mal zu verdeutlichen, welche Strecke ich zurückgelegt habe. Das ist ziemlich genau dieselbe Strecke, die zwischen Berlin und Cannes liegt.
Auf einem der massiven Holzplankenstege steht ein Riesenrad: The Seattle Great Wheel. Die Attraktion gibt es erst seit wenigen Monaten, seit dem 29. Juni 2012 um genau zu sein. Mit etwas über 53 Metern Höhe ist es das höchste Riesenrad der West Coast. In 42 geschlossenen Gondeln finden bis zu 300 Menschen Platz. Das Teil fährt das gesamte Jahr hindurch und kostet 13 Dollar. Aha, dann darf es sich ohne uns weiterdrehen. Es scheinen zudem die Gäste zu fehlen. Hier steht und fährt niemand. Direkt nebenan befindet sich ein »Historical Point of Interest«. 1897 landete hier die S. S. Portland, die mit einer »Ton of Gold« den Goldrausch in Alaska einläutete.
Wir spazieren weiter die Landungsbrücken entlang und besteigen eine Fußgängerbrücke, die hinauf in die Downtown führt. Von hier aus hat man einen schönen Ausblick auf die Bucht, die Stadien und die Hochhäuser der Innenstadt. Selbst die Space Needle sieht man von hier. Es ist erst kurz nach fünf und doch schon stockdunkel. Die Lichter der Wolkenkratzer sind somit faszinierender als die dunkle See.
An der Ecke Virginia Street und 2nd Avenue kommen wir am Moore Theatre vorbei, Seattles ältestem noch aktiven Theater. 1971 wurde darin zum ersten Mal The Who’s »Tommy« als Bühnenstück aufgeführt. Bette Midler spielte die Acid Queen und Mrs. Walker. Wir passieren ein Dönerrestaurant mit dem interessanten Namen »The Berliner Döner Kebab«. Das »i« ist der Berliner Fernsehturm. Ulkig. Ich erzähle Leo daraufhin die Geschichte vom japanischen Touristen, der die deutsche Küche so toll fand und daraufhin in Japan eine Restaurantkette mit deutschem Essen eröffnete: Döner. So kann’s gehen. Für den Wahrheitsgehalt dieser Geschichte möchte ich indes nicht garantieren.
Wir parken den Wagen um: Der Highwayviadukt geht in den Battery Street Tunnel über, der 960 Meter lang unterhalb der Battery Street entlangführt und einen an der Kreuzung Denny Way und Aurora Avenue bei einem großen rosa Elefanten wieder ausspuckt. Der Plastikelefant mit den rosa Neonröhren macht Werbung für den Elephant Super Car Wash. Ob das wohl Googie ist?
Leo parkt den Wagen möglichst nahe der Space Needle, unserem nächsten Ziel. Überall sind die Bäume mit Lichtern geschmückt. Der sehr große, runde International Fountain, ein Brunnen, der so aussieht, als sei er für Skater gemacht worden, ist jahreszeitbedingt trockengelegt.
Direkt neben der Grünanlage mit dem Brunnen, über die übrigens gerade eine ziemlich schräg singende Frau mit Brautschleier torkelt – was ist da bloß passiert? –, befindet sich die KeyArena, in der die Seattle SuperSonics nicht mehr spielen. Für viele mag das ein alter Hut sein. Da mich Basketball aber herzlich wenig interessiert, ist es an mir vorbeigegangen, dass das einstige Team von Detlef Schrempf seit 2008 in Oklahoma beheimatet ist und sich nun City Thunder nennt. Da hätten wir es mal wieder: 3200 Kilometer zum nächsten Heimspiel … Wer kommt mit?
Vorbei an den hübsch beleuchteten Pavillons des Pacific Science Museum erreichen wir schließlich die Space Needle. Direkt neben dem Turm befindet sich das EMP, das Experience Music Project. Der Bau des Museums, dessen Themen Musik und Science-Fiction sind, ist hochspektakulär.
Herbert Muschamp, seines Zeichens Architekturkritiker der New York Times, beschrieb das EMP als etwas, das aus dem Meer gekrochen kam, sich einmal drehte und starb. Das Forbes Magazine ernannte es gar zu einem der zehn hässlichsten Gebäude der Welt. Wiederum andere nennen es auch gerne »The Hemorrhoids«. Höhö. Der Künstler selbst hatte indes kein sterbendes Wesen aus dem Meer im Sinn, als er das bunte Gebäude entwarf, sondern eine zerschlagene E-Gitarre. So viel sehe ich aufgrund der Dunkelheit vom Gebäude noch nicht. Da es aber an seinen Außenwänden mit einer Nirvana-Ausstellung wirbt und laut Leo ein absolutes must-see mit einer Dauerausstellung zu Jimi Hendrix ist, komme ich sicherlich in den kommenden Tagen wieder zurück.
Seattle und Musik: Das passt einfach. Aus dieser Stadt kommen nicht nur so grandiose Künstler wie Jimi. Ich meine: Verdammt, hier wurde der Grunge erfunden! Nirvana, Alice in Chains, Hole, Pearl Jam und Soundgarden. Sie alle kommen aus dieser Stadt – oder deren näheren Umgebung.
Zum Abschluss unseres Ausflugs essen wir im Deli des Metropolitan Market auf der Mercer Street zu Abend. Dann geht es wieder nach Hause. Als ich nachts aus dem Fenster schaue, sehe ich, dass es schneit. Hurra?
Mir gefällt das Museum "Experience Music Project" vom Architekten Frank Gehry sehr gut! Schräg - aber cool!
Ein Internet-Foto bei Sonnenschein:
http://www.paulserra.com/wp-content/uploads/2010/12/Experience-Music-Project-Frank-Gehry.jpg
Ja, mir gefällt’s auch.