Tag 39: Stadt der HochhÀuser

Serendipity – Teil 1

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Dienstag, 18. Dezember 2012
SeaTac – Seattle – Federal Way – SeaTac

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Der armen Cari, die nach nur einer knappen Woche ihr neues Zuhause bereits wieder aufgeben muss, wurde im Bus ihr Portemonnaie gestohlen. Sie hat den Verlust der Geldbörse allerdings erst bemerkt, als sie einen Anruf ihrer Bank bekam, die sie darauf hinwies, dass sich da offensichtlich jemand ihrer Kreditkarte bedient hat. GlĂŒcklicherweise konnten sĂ€mtliche InterneteinkĂ€ufe des Diebs direkt storniert werden. Somit belĂ€uft sich ihr Verlust »nur« auf ihre Food Stamps, Bargeld, Kreditkarte und ihren Ausweis. Schöne Scheiße.
Auch ich fahre heute mit dem Bus. Leo ist auf Arbeit und ich nehme den RapidRide, den Schnellbus, der alle zehn bis 15 Minuten direkt vor Leos HaustĂŒr in Richtung Seattle fĂ€hrt. In Tukwila wechsle ich den Bus. Ich glaube allerdings, dass ich es verrafft habe und bereits frĂŒher hĂ€tte aussteigen und den Bus wechseln mĂŒssen. Ich soll diesen kleinen Fehler, der mich zwar gut eine halbe Stunde kosten dĂŒrfte, aber nicht bereuen. Ich setze mich gerade auf einen der Sitze, als ein Afroamerikaner den Bus betritt und Geld in die Kasse neben der Fahrerin wirft. Er will gerade weitergehen, als ihn die Busfahrerin darauf aufmerksam macht, dass er nur 75 Cent bezahlt hat, das Ticket aber 2,25 Dollar kostet. Der Mann rastet sofort vollkommen aus und gibt eine gut und gerne fĂŒnfminĂŒtige Wutrede zum Besten. Wirkte er nicht so aggressiv, ich wĂŒrde ihn sofort filmen. Die BĂŒhne des Mannes ist der komplette Bus. Beginnend bei der armen Fahrerin, lĂ€sst er seinem Frust quer durch den Bus freien Lauf. Er setzt sich in den hinteren Teil des langen GefĂ€hrts und hört nicht auf. Seine Performance erinnert mich stark an Samuel L. Jacksons genialen Auftritt in »Pulp Fiction« â€“ die Szene, in der er (angeblich) aus der Bibel zitiert. Allerdings fehlt dem Kollegen hier im Bus der stylishe Afro und der schicke Anzug. Er ist mehr von der abgefuckten Sorte, weiß aber nichtsdestotrotz wunderbar zu unterhalten: »I paid my goddamn 2,25! She says I only paid 75 cents, but I know: I paid 2,25. She’s calling me a liar? I tell you who the liar is. I paid my 2,25! She doesn’t want to let me take the bus: I paid my 2,25! The path of the righteous man is beset on all sides by the inequities of the selfish and the tyranny of evil men. I paid my 2,25! Blessed is he who, in the name of charity and good will, shepherds the weak through the valley of darkness, for he is truly his brother's keeper and the finder of lost children. I paid my 2,25! And I will strike down upon thee with great vengeance and furious anger those who would attempt to poison and destroy my brothers. I paid my 2,25! And you will know my name is the Lord when I lay my vengeance upon thee: I PAID MY 2,25!«
Ich gebe es zu, ich zitiere ihn womöglich nicht hundertprozentig korrekt. But I believe: He paid his 2,25!
Wir fahren am Museum of Flight vorbei. Schon vor dem GebĂ€ude stehen alle möglichen Flugzeuge. Weiter geht’s auf den Airport Way South, der einen auf eine kleine Zeitreise mitzunehmen scheint. Rote BacksteinhĂ€user sĂ€umen den Straßenrand. Dies ist Georgetown, Seattles Ă€ltester Bezirk, der 1851 besiedelt wurde. Eines der BacksteinhĂ€user in diesem historischen Industriebezirk ist das Brew House. Einst die sechstgrĂ¶ĂŸte Brauerei der Welt, beherbergt das GebĂ€ude heute diverse kleine Unternehmen und KĂŒnstler. Mir gefĂ€llt dieser Teil des Airport Way South, der sich von der South Vale Street bis zur Corson Avenue South zieht.
Als der Bus Seattle Downtown erreicht, meldet sich Jules â€șEzekielâ€č Winnfield plötzlich wieder zu Wort: »I paid my 2,25!«
Er denkt sich wohl, dass er besser noch einmal alle Anwesenden darauf hinweist, dass er ein rechtschaffener Gestörter ist, bevor er den Bus verlĂ€sst. Dumm nur, dass die meisten Passagiere den Anfang seiner Geschichte ĂŒberhaupt nicht mitbekommen haben, da sie erst spĂ€ter, nach seiner Brandrede, zugestiegen sind. Dementsprechend dreht sich auch die HĂ€lfte des Busses irritiert zum wutschnaubenden Mann um: »You can go on liyng: I paid my 2,25!«
Es brĂŒllt und kocht hinter mir, wĂ€hrend ich leicht verstört feststelle, dass im Freien ein Mann mit Flip Flops und kurzer Hose die Straße ĂŒberquert. Es regnet heute zwar ausnahmsweise mal nicht, dafĂŒr befindet sich das Quecksilber nur knapp ĂŒber null. Es sind 37 Â°F, also knapp 3 Â°C. Brr â€Š
Ich verlasse den Bus in der Pine Street. An der Ecke 3rd und Pine werde ich direkt von den beeindruckenden HochhĂ€usern in den Bann gezogen und folge der ĂŒberwĂ€ltigenden Architektur der 3rd Avenue in Richtung SĂŒdosten bis zum Yesler Way.

Links von mir ist der City Hall Park, rechts der Prefontaine Place. An der Ecke Yesler Way und 2nd Avenue befindet sich der Smith Tower.

Smith Tower
Seattles Ă€ltester Wolkenkratzer wurde 1914 fertiggestellt und ist 149 Meter hoch. Bis 1962 war der Smith Tower das höchste Bauwerk der WestkĂŒste. Dann kamen die Weltausstellung und die Space Needle. Das hĂŒbsche weiße Hochhaus verfĂŒgt ĂŒber einen Turm, der ein pyramidenförmiges Dach hat und somit einem Glockenturm Ă€hnelt. Der Erbauer, Schusswaffen- und Schreibmaschinenmagnat Lyman Cornelius Smith, erlebt die Fertigstellung seines neoklassizistischen GebĂ€udes nicht mehr. UrsprĂŒnglich wollte er auch gar kein so gigantisches Bauwerk in Auftrag geben. Sein Sohn hingegen ĂŒberzeugte Daddy davon, es den Pennern aus der Nachbarstadt Tacoma zu zeigen und ihnen die Lorbeeren des höchsten GebĂ€udes westlich des Mississippi zu entreißen.

Im Dreieck Yesler Way, James Street und 2nd Avenue steht ein Parkhaus, das ein wenig wie ein sinkendes Schiff aussieht. Vorbei an einer sehr kĂŒnstlerischen Graffitifassade biege ich ab in Richtung Occidental Park. Auf dem gepflasterten Platz stehen sich zwei fĂŒnf Meter hohe Holzstatuen gegenĂŒber, die Tikis Ă€hneln, wie man sie von polynesischen Völkern kennt. Seattle wurde ĂŒbrigens nach Si’ahl, dem HĂ€uptling der Duwamish und Suquamish benannt. »Seattle« ist die Anglisierung seines Namens. Das heutige Seattle war mindestens 4000 Jahre lang von Amerikas Ureinwohnern bewohnt, bevor die weißen Siedler kamen.
Ich ĂŒberquere den mit roten BacksteinhĂ€usern umringten Occidental Park, auf dessen gegenĂŒberliegenden Seite die Stadt Seattle ein schon fast etwas bedrohlich wirkendes Denkmal fĂŒr ihre Feuerwehr errichtet hat. Weiter geht’s die South Main Street in Richtung Westen. Im kleinen Waterfall Garden Park kann man es sich auf einem der vielen StĂŒhle bequem machen und dem Rauschen des kĂŒnstlichen, vier bis fĂŒnf Meter hohen Wasserfalls lauschen. Ein Mann tut genau dies, wĂ€hrend er entspannt ein Buch liest. Eine niedliche, kleine Oase.

Ich kann ein Foto nach dem anderen schießen. Von nahezu jeder Ecke aus hat man einen neuen, formidablen Blick auf die gigantischen HochhĂ€user. Ich komme an einer weiteren Graffitiwand vorbei. Man merkt, dass dieser Bereich der Stadt der Bezirk der Kunstgalerien ist. An der 4th Avenue bewege ich mich wieder in Richtung Norden. An der Ecke 4th und James Street stehe ich vor einer lang gezogenen Treppe. Links neben der Treppe plĂ€tschert ein Wasserweg hinab. Ich steige die Stufen empor, um den Ursprung der kĂŒnstlichen Quelle auszumachen. Obendrein sieht das GebĂ€ude wie ein Kunstmuseum aus. Das Wasser kommt tatsĂ€chlich direkt aus dem Haus heraus. Ich betrete das GebĂ€ude, dem Wasser folgend. In der Lobby stelle ich fest, dass es sich nicht um ein Museum handelt, sondern um die Seattle City Hall. Ich frage den asiatischen Concierge, wo ich in Seattle lecker vegetarisch, am besten sogar asiatisch essen kann. Ich habe Hunger. Der freundliche Mann empfiehlt mir, in den International District, nach Chinatown zu gehen. Er schenkt mir eine Stadtkarte und beschreibt mir kurz, wie ich dort hinkomme. Ich muss eigentlich nur die 5th Avenue in Richtung SĂŒden laufen. Wunderbar. Wo das Wasser seinen Ursprung hat, kann ich nicht herausfinden, da sich der Strom tatsĂ€chlich quer durch die City Hall wieder hinaus auf die 5th Avenue zieht, dort unter der Straße entlanggeht und auf der anderen Seite wieder ins nĂ€chste GebĂ€ude fĂŒhrt.

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Als ich an der Ecke 5th Avenue und South Jackson Street ankomme, fĂ€llt mir wieder auf und ein, dass mich hier der BoltBus rausgeschmissen hatte. Ich schaue mir die Drachen, die sich die Straßenlaternen hinaufschlĂ€ngeln und das Chinatown Gate â€“ oder pai-lau, wie wir Chinesen zu sagen pflegen â€“ erstmals bei Tageslicht an. Seattle hatte seit 1860 bereits drei Chinatowns. Die bis in die Gegenwart aktuelle Chinatown gibt es seit den frĂŒhen 1900ern, das Pai-Lau erst seit 2008. Ich durchschreite das Tor und stapfe den HĂŒgel hinauf, vorbei am Hing Hay Park, auf dem ein hölzerner chinesischer Pavillon steht. Das Ziegeldach ist orange, die SĂ€ulen rot und die bemalten WandstĂŒcke tĂŒrkis. An die Fassade des â€“ zur Abwechslung mal ziemlich hĂ€sslichen â€“ GebĂ€udes auf der RĂŒckseite des kleinen Parks hat man einen riesigen Drachen gemalt.
Vegetarisches Essen zu finden, ist schwerer als erwartet. Portland hat mich unter UmstĂ€nden aber auch versaut. Ich kundschafte auch einen sehr interessanten chinesischen Minimarkt nach etwas Essbarem aus. Der kleine Laden wirkt eher wie eine Apotheke. Nun ja, ich glaube, der Herb & Grocery Store ist fĂŒr so manchen Chinesen sicherlich auch die Apotheke. Im Angebot sind Dinge, die den meisten westlichen Menschen eher den Appetit nehmen wĂŒrden, aber auch Dinge, bei denen man sich nur fragt, ob, und wenn ja, wie man das konsumieren soll â€“ Baumrinde beispielsweise.
Schließlich esse ich im Phnom Penh Noodle Soup House zu Mittag, schlendere noch ein wenig durch Chinatown und ziehe dann weiter in die benachbarte Japantown. Chinatown, Japantown und Little Saigon geben sich unmerklich als direkte Nachbarn die Klinke in die Hand.

Als ich die Maynard Avenue hinaufgehe, stoße ich auf der Main Street auf den Danny Woo International District Community Garden. Der Community Garden ist ein tolles Projekt, das 1975 ins Leben gerufen wurde. Mitten in der Stadt â€“ und direkt neben der Interstate 5 â€“ zieht sich ein circa zwei Blocks umfassender Gartenkomplex einen HĂŒgel hinauf. Nutzen darf den Garten, wer dies zunĂ€chst beantragt und folgende Kriterien erfĂŒllt: Die Antragsteller mĂŒssen ĂŒber 65 Jahre alte Anwohner des International District sein, die zudem ein Einkommen aufweisen können, das unter 30 % des Durchschnitts liegt. Der kurze Spaziergang durch die hĂŒbsch und gemĂŒtlich angelegte Gartenkolonie macht Spaß und die Aussicht auf das sĂŒdliche Seattle und die nahegelegenen Stadien ist hervorragend.

Ich verlasse den Garten wieder auf der Washington Street und spaziere wieder hinab zur 5th Avenue und zurĂŒck in Richtung Norden.

Ich gehe an der City Hall vorbei und lasse wie zuvor in der 3rd Avenue meinen Weg von der Architektur der GebĂ€ude lenken. Ich komme am King County Administration Building vorbei, welches 1971 erbaut und kurze Zeit spĂ€ter zum hĂ€sslichsten RegierungsgebĂ€ude des Landes gewĂ€hlt wurde. Die Seattle Times scherzte zudem, dass sich die Politiker des Landes und der Stadt Seattle wenigstens in einer Sache einig sind. Seattle Deputy Mayor Tim Ceis brachte diese Einigkeit schließlich auf den Punkt: »I think everybody acknowledges it may be the ugliest building in downtown Seattle.«
Trotz dieser »Himbeeren«, ĂŒbernimmt ein anderes Bauwerk den Part des hervorstechendsten GebĂ€udes der Downtown: das mit einer dunklen Glasfassade emporsteigende Columbia Center.

Columbia Center
Das Columbia Center ist mit 295 Metern auch tatsĂ€chlich das höchste GebĂ€ude der Stadt, nach dem U.S. Bank Tower in Los Angeles das zweithöchste der WestkĂŒste und die Nummer 20 der USA. Der 1985 fertiggestellte Skyscraper zĂ€hlt ganze 83 Etagen, wovon 76 ĂŒberirdisch und sieben unterirdisch sind. Sage und schreibe 46 AufzĂŒge regeln den Verkehr im GebĂ€ude.

Im Schatten des Wolkenkratzers steht die 1908 erbaute und an der höchsten Stelle gerade einmal 20 Meter hohe Daniels Recital Hall.

Daniels Recital Hall
Einst die First Methodist Episcopal Church, finden in dem rechteckigen KuppelgebĂ€ude heutzutage Konzerte statt. DemnĂ€chst wird aber mit der Mars Hill Church auch wieder eine Religionsgemeinschaft mit Gottesdiensten im GebĂ€ude vertreten sein â€“ die allerdings einen zweifelhaften Ruf genießt und bereits mit einer Sekte verglichen wurde. Das GebĂ€ude wurde im Stil der Beaux-Arts-Architektur erbaut, also im gleichen Stil wie das Bodemuseum in Berlin und die City Hall in San Francisco. Interessant an der Zuordnung in den Beaux-Arts-Stil ist die Tatsache, dass Kirchen aus jener Zeit und dieser Gegend gemeinhin dem gotischen Architekturstil zugehörig sind. Die jĂŒngere Geschichte der Daniels Recital Hall ist von großem Kampf geprĂ€gt: Das KirchengebĂ€ude wĂ€re fast dem Erdboden gleichgemacht worden, damit ein neuer Turm an dessen Stelle errichtet werden kann. Nach reichlich Einsatz von DenkmalschĂŒtzern und Kirchenoffiziellen konnte schließlich eine Einigung erzielt werden. Direkt neben der Kirche befindet sich nun eine Baustelle. Hier stand bis 2008 noch ein 1950 errichteter FlĂŒgel der Kirche, von dem sich sowohl die DenkmalschĂŒtzer als auch die Geistlichen trennen konnten. Ende gut, alles gut â€Š und ab 2014 noch mehr Schatten fĂŒr die Daniels Recital Hall.

Weiter geht’s zur Ecke 5th und Madison, wo die 2004 eröffnete Central Library steht.

Central Library
Das 56 Meter hohe und elf Stockwerke umfassende GebĂ€ude sieht sehr stylish aus. Die Fassade ist komplett aus Glas und wird scheinbar durch einen wabenförmigen Stahlkokon zusammengehalten. In der Bibliothek haben ungefĂ€hr 1,45 Millionen BĂŒcher ihren Platz gefunden. 2007 wurde das GebĂ€ude vom American Institute of Architects auf Rang 108 der 150 schönsten Bauwerke der USA gewĂ€hlt. Die Spitzenposition konnte sich ĂŒbrigens das Empire State Building in New York City sichern. Auf meiner bisherigen Reise durfte ich bereits eine ganze Reihe weiterer Vertreter dieser Hitliste bestaunen: In San Francisco findet sich beispielsweise auf Rang 5 die Golden Gate Bridge, auf 49 das Rathaus, auf 61 die Transamerica Pyramid und auf 89 das Fairmont Hotel, das in direkter Nachbarschaft zu Grace Cathedral steht. Die 104 hat sich der AT&T Park, das Stadion der San Francisco Giants, gesichert. Auf 109 folgt das MOMA, bevor auf der 144 â€“ aus fĂŒr mich unerfindlichen GrĂŒnden â€“ der hĂ€ssliche Klotz des Hyatt Regency Hotel gefĂŒhrt wird. Seattle hat mit seinem Baseballstation noch einen zweiten Vertreter in den Top 150: Das Safeco Field belegt Platz 135.
Die komplette Liste gibt es auf Wikipedia.

Als ich die University Street erreiche, biege ich links ab und komme am Rainier Tower vorbei.

Rainier Tower
Der Rainier Tower ist ziemlich schrĂ€g. Das heißt, zum GlĂŒck ist er nicht tatsĂ€chlich schrĂ€g. Das wĂ€re nĂ€mlich Ă€ußerst gefĂ€hrlich. Der Architekt des Turmes â€“ Minoru Yamasaki, der auch die TĂŒrme des World Trade Center in New York schuf â€“ hatte die Ă€ußerst spektakulĂ€re Idee, den Turm auf einem Sockel zu platzieren, der nur ein Viertel der eigentlichen FlĂ€che des Turmes groß ist. Fast schon wie auf einer umgedrehten Pyramide thront der ĂŒber 150 Meter hohe Turm. Sonderlich hĂŒbsch ist das Hochhaus zwar nicht, aufgrund des sensationellen Balanceakts wird es aber liebevoll »The Wine Glass« genannt.

Rainier Tower – »The Wine Glass«

Rainier Tower – »The Wine Glass«

Gute zweieinhalb Stunden nach meiner Ankunft in Seattle beschließe ich meinen knapp sechs Kilometer langen Spaziergang wieder in der Pine Street. An der Ecke 5th und Pine steht ein Weihnachtsbaum. Die Straße sieht stark nach Seattles belebtester Shoppingmeile aus.

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Ich will Jimi Hendrix sehen, der in Bronze gegossen auf dem Broadway steht. Blöderweise ist auf der kostenlosen Karte, die ich mir organisiert habe, kein Broadway eingezeichnet. Deswegen laufe ich die Pine Street in Richtung Osten, zum Puget Sound hinab, in der Hoffnung, dass die 1st Avenue auch gleichzeitig der Broadway ist. Als ich die 1st Avenue erreiche, sehe ich ein punkig aussehendes MĂ€del Unterschriften fĂŒr irgendetwas sammeln. Na, wenn die mich gleich nach meiner Unterschrift fragt, kann ich sie im Gegenzug auch direkt nach dem Weg und Konzerten fragen. Rachel heißt die Sammlerin. Sie sammelt Unterschriften fĂŒr den Child Fund und ist kein Punk. Schweinerei. Die Unterhaltung mit der aufgedrehten Rachel ist durchaus amĂŒsant. Ich habe keine Ahnung, wieso sie mir die Geschichte von der Erdnussbutter erzĂ€hlt, die sie auf ihrer Klobrille vorgefunden hat, aber sie erzĂ€hlt sie mir: Ein Besucher hat ihr Erdnussbutter ĂŒber die komplette Klobrille geschmiert. Da wollte wohl jemand witzig sein, vermutet sie. Ich vermute eine wesentlich ekligere Ursache und frage sie, ob sie sich sicher ist, dass es Erdnussbutter und kein â€Š Du weißt Bescheid â€Š war. Sie blickt mich mit einem irritierten Blick an. Ein Blick, der nach: »Wie kommt man denn auf so eine Idee?«, aussieht. Sie schĂŒttelt den Kopf und sagt ĂŒberzeugt, dass es ganz sicher Erdnussbutter war. Na, dann belassen wir es dabei. Ich zweifle im Stillen weiter. Vielleicht liegt es an den schrecklichen Ideen, die ich in ihrem unschuldigen Geiste hervorgerufen habe, aber plötzlich erzĂ€hlt sie mir, dass ich auf sie wie ein Hipster wirke. HĂ€?
»Yes, you look like a guy who’s earning lots of money in an office, but dresses up like a backpacker with a big beard, but at the same time carrying a phat camera.«
Jetzt bin ich irritiert: »Well, I am a backpacker. You recognized my accent!«
Sie erklĂ€rt mir, dass dies auch nur ihr erster Eindruck gewesen sei, als sie mich wegen ihrer Unterschriftensammelaktion angequatscht hat. Nun weiß sie sicher, dass ich kein Hipster bin und zudem den Coolnesstest bestanden habe. Yeah, Baby.
»Broadway is about ten blocks in the opposite direction«, schiebt sie noch hinterher. Ah, fuck. Bevor ich den Abflug mache, will Rachel mich aber unbedingt noch ihrer Kollegin vorstellen, die auf der anderen Straßenseite Unterschriften sammelt. Sie lockt sie mit dem verheißungsvollen Argument: »He’s a German!«, zu uns. Aha. Freudig springt die Kollegin ĂŒber die Straße und begrĂŒĂŸt mich mit den Worten: »Say â€șbrown bearâ€č in German.«
»Brown bear? Why?«
»Do it!«
»It’s the same.«
»Just say it â€Š please.«
Ich rÀuspere mich wichtigtuerisch, mache: »Mimimimimiii«, und: »Figaro, Figaro«, bevor ich episch: »BraunbÀr«, sage.
»Ah!«, brĂŒllt Rachels Kollegin orgastisch: »Awesome!«
Amerikanische Frauen, die auf die deutsche Sprache abfahren, sind seltsam. Ich warte darauf, dass ich gleich wieder einen Nonsens Ă  la: »Das Krankenhaus fĂŒr BraunbĂ€ren befindet sich direkt neben dem Flughafen fĂŒr Regenbogenforellen«, von mir geben soll. Dazu kommt es dann aber doch nicht. Stattdessen erklĂ€rt mir die Seltsame, dass sie einmal eine deutsche Mitbewohnerin hatte, die sie immer als »BraunbĂ€ren« bezeichnete. Das harte »R« und die Betonung machen sie ganz wuschig, weswegen sie sich von Deutschen immer einen »BraunbĂ€ren« aufbinden lĂ€sst. VerrĂŒckt.
Bevor ich die Pine Street wieder in die entgegengesetzte Richtung laufe, um meinen Freund Jimi zu besuchen, statte ich dem wÀhrend der Unterhaltung entdeckten Public Market Center einen Besuch ab.

Pike Place Market
Der farmers’ market ist besser bekannt unter dem Namen Pike Place Market. Den Markt gibt es bereits seit 1907, wodurch er zu den Ă€ltesten MĂ€rkten der USA gezĂ€hlt wird. Neben landwirtschaftlichen Erzeugnissen wird auch Kunst verkauft.

Ich betrete den Markt an dessen Haupteingang am Ende der Pike Street. Die Markthalle erstreckt sich ĂŒber knapp zwei Blocks bis zur Virginia Street. Auch vor der Halle, auf der mit rotem Backstein gepflasterten Straße namens Pike Place finden sich StĂ€nde und GeschĂ€fte. Hier befindet sich auch der allererste Starbucks der Welt, der am 30. MĂ€rz 1971 eröffnete.

Seattle: The Home of Starbucks
In Seattle reiht sich eine Filiale der Kaffeehauskette an die nĂ€chste. GefĂŒhlt alle 100 Meter lĂ€uft man an einem Starbucks vorbei. Auf 100.000 Einwohner kommen in Seattle ganze 23 Filialen der doppelschwĂ€nzigen Sirene, was bei knapp 620.000 Einwohnern ĂŒber 140 Coffeeshops bedeutet. Ob es an den vielen KaffeehĂ€usern liegt, dass Seattle bereits mehrfach zur »most livable city«, also zur lebenswertesten Stadt der Vereinigten Staaten gewĂ€hlt wurde?

Die schmale, aber lange Markthalle ist schön und die angebotenen Waren vielfĂ€ltig. Ich bleibe an einem kleinen Kunststand stehen und fange mit der bibbernden VerkĂ€uferin eine Unterhaltung an. Ich möchte wissen, ob sie auch die KĂŒnstlerin ist. Sie verneint und erklĂ€rt mir, dass sie lediglich die Werke ihres Chefs verkauft. Da sie wirklich zu frieren scheint, frage ich sie, wie viele Stunden am Tag sie hier herumsitzen muss und ob sie sich nicht einen HeizlĂŒfter hinstellen mag.
»No electrical outlets«, lÀchelt sie gequÀlt.
»Do you have coffee?«
Der ist ihr ausgegangen und von noch mehr Kaffee bekommt sie noch einen Herzinfarkt, fĂŒrchtet sie. Hm, ich sehe eine Mission, die mir Karmapunkte einbringen dĂŒrfte. Ich verabschiede mich von Kelly, gehe in den nĂ€chsten Coffeeshop und bestelle zwei Tees. Da ich noch immer keine Ahnung von Tee habe, frage ich die VerkĂ€uferin, welche Tees bei Frauen gut ankommen. Ich nehme die beiden, die sie mir zuerst nennt und gehe zurĂŒck zu Kelly: »You can choose between white tea and â€ŠÂ«, ich glaube, es ist Earl Grey. Sie ist begeistert, schenkt mir ihr schönstes LĂ€cheln und schnappt sich den weißen Tee. Gut ist nur, wer Gutes tut. Diesmal verabschiede ich mich endgĂŒltig von Kelly, genieße noch kurz die Aussicht, die man von der RĂŒckseite der Markthalle ĂŒber die Bucht hat und mache mich schließlich und endgĂŒltig auf den Weg zu Mr. Hendrix.

WĂ€hrend die Sonne untergeht, komme ich an einem MilitĂ€rshop vorbei, bei dem man sich ein lustiges Maschinengewehr fĂŒr den Vorgarten kaufen kann. Ich glaube, es ist eine Gatling Gun.

Nachdem ich die Interstate 5 ĂŒberquert habe, stoße ich auf ein sehr gemĂŒtlich und hip aussehendes CafĂ©, in dem man nicht nur zum Kaffeegenuss, sondern auch zum Lesen angestiftet wird. Da Leo bald Feierabend haben dĂŒrfte und ich Jimi noch immer nicht gefunden habe, reicht es nur fĂŒr ein paar Fotos vom Bauhaus Books & Coffee.

Die versprochenen zehn Blocks entpuppen sich als nahezu 20. Jimi soll genau an der Ecke Pine und Broadway stehen. Ich schaue mich um â€Š Wo steht er denn? Und wie groß ist er? Ich bin schon kurz davor, jemanden zu fragen, als ich glaube, ihn auf der schrĂ€g gegenĂŒberliegenden Straßenseite entdeckt zu haben. TatsĂ€chlich: Nicht etwa ĂŒberlebensgroß, sondern mit sehr realistischen Maßen, kniet der psychedelische Gitarrengott direkt neben der Straße. Seine Gitarre, die Fender Stratocaster, die Jimi unter anderem in Woodstock und Monterey spielte, hĂ€lt er in der rechten Hand. Was sofort auffĂ€llt, ist, dass Jimis Fender eine Gitarre fĂŒr RechtshĂ€nder ist, die der LinkshĂ€nder einfach umgedreht und »falsch herum« bespannt hat. Der Oberkörper ist zurĂŒckgelehnt und sein Gesichtsausdruck irgendwo zwischen sportlich angestrengt und sexuell erregt. Die coole Statue trĂ€gt den Titel »The Electric Lady Studio Guitar«, eine Anspielung auf das Album »Electric Ladyland«.

Leo ruft mich an und fragt, wo ich bin.
»I’m with my friend Jimi on Broadway.«
Es folgt ein Moment der Stille.
»Well, I just finished work and can pick you up.«
Ich beschreibe ihm, auf welcher Höhe des Broadway ich bin und kĂŒndige an, ihm entgegenzukommen. Auf dem Weg in Leos Richtung komme ich auch an einer kleinen Kirche vorbei, die potenzielle SchĂ€fchen mit »You are welcome here« begrĂŒĂŸt und dann noch den Coolnessfaktor hinterherschießt, den eine Kirche ausschließlich in der Heimat des Grunge bringen kann: »Come as you are.«
Ich ĂŒberlege kurz christlich zu werden, beschließe dann aber doch weiterzugehen.

Come As You Are

Ich halte nach Leos BMW Ausschau und bemerke dabei, dass ich noch immer nichts ĂŒber Autos dazugelernt habe. So winke ich einmal dem falschen Wagen zu. Der Fahrer schaut mich leicht verunsichert an und ich denke mir grinsend: »I’ve got to be more conscious, if I want to survive.«
Leo findet mich schließlich und sammelt mich ein. Gemeinsam geht’s zurĂŒck nach SeaTac. Leo erzĂ€hlt mir von einer Kollegin, deren Mutter kĂŒrzlich verstorben ist. Die Mutter arbeitete ebenfalls in Leos BĂŒro. Nun will er der Kollegin »Findet Nemo« auf DVD kaufen. Also fahren wir zu Walmart und danach zu Best Buy. Dort werden allerdings ziemlich horrende Preise fĂŒr den Film verlangt, weswegen der Kauf noch einmal verschoben wird. Wir statten aufs Neue Dara und »High« einen Besuch ab. Dara öffnet uns die TĂŒr, wĂ€hrend »High« high auf dem Sofa liegt. Wie immer lĂ€uft der Fernseher. Heute im Programm: »How It’s Made«, eine Dokuserie, in der erklĂ€rt wird, wie AlltagsgegenstĂ€nde hergestellt werden. Danach kommt wieder »Tosh.0«, die bescheuerte Internetvideoshow mit saublöden Kommentaren vom ĂŒbercoolen Moderator. Nach dem Kurzbesuch geht’s weiter zu Fred Meyer. Hier kostet die »Nemo«-DVD nicht zu viel. Wieder bei Leo zu Hause schalten wir »Matrix« ein und kacken gepflegt ab â€Š


Quellen
Die Wutrede habe ich teilweise schamlos abkopiert. Quelle: nicht die Bibel (Ezekiel 25,17), sondern Q. Tarantinos »Pulp Fiction«
Anzahl an Starbucks-Filialen: blogs.seattletimes.com (Stand: 6. Dezember 2012)
Informationen zu Seattle, dem Smith Tower, Chief Si’ahl, dem Danny Woo International District Community Garden, dem Columbia Center, der Daniels Recital Hall und dem Pike Place Market: Wikipedia
Informationen zum Rainier Tower: emporis.com

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