Tag 4: I’m Not Going to Give Him Crack!

Serendipity – Teil 1

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Dienstag, 13. November 2012
San Francisco

Ich habe einen ersten Kritikpunkt! Ich verschwende zu viel Zeit mit der Suche nach einem Übernachtungsplatz. Erst muss man massenhaft Leute über couchsurfing.org anschreiben, dann antwortet nur ein Bruchteil der Angeschriebenen und diese haben wiederum entweder keinen Platz oder sind selbst gerade unterwegs. Ich will zudem nicht jeden Tag eine oder sogar mehr Stunden im Internet verbringen. Da muss ich mir mal irgendwas Besseres einfallen lassen …
Kenny wollte mich ursprünglich nur für eine Nacht bei sich aufnehmen. Da wir uns gut verstanden haben und gut miteinander feiern konnten, war es kein Problem, länger zu bleiben. Jetzt will ich ihm aber mal wieder seine Privatsphäre zurückgeben und ihn in Ruhe lassen. Deswegen werde ich mich heute von ihm verabschieden und mich auf die Suche nach einer neuen Übernachtungsmöglichkeit machen. Da morgen das Monarch Film Festival in Pacific Grove beginnt, auf dem mein Kurzfilm »Erinnerungen« für einen Preis nominiert ist, benötige ich nur einen Pennplatz für eine Nacht. Sollte machbar sein.
Kenny muss in die Uni. Da diese in Downtown gelegen ist, führt Kenny mich dorthin, bevor sich unsere Wege trennen.
Betritt man die Grant Avenue an der Ecke Bush Street, passiert man ein schickes Steinportal und weiß sofort, wo man sich nun befindet: in Chinatown. Wir betreten die Grant Avenue, Chinatowns Hauptstraße, allerdings im Norden. Hier befindet sich kein Chinatown Gate. Trotzdem versteht man spätestens nach den ersten zehn Metern, dass man sich im asiatischen Teil der City befindet, da man urplötzlich so ziemlich der einzige Nicht-Asiate auf der Straße ist.

Die Grant Avenue besteht aus asiatischen Restaurants, Souvenirläden, Schnickschnackläden und Banken. Lustigerweise haben selbst die amerikanischen Banken hier im Viertel ihren Style Asien angepasst. So sieht die Bank of America aufgrund ihrer Architektur vielmehr wie die Bank of China aus.
Wir kreuzen die California Street, die laut Kenny sehr gerne von Hollywood verwendet wird. Diese Tatsache erklärt sich sehr schnell von selbst, denn hier sind die klassischen Wahrzeichen San Franciscos vertreten: Zunächst einmal ist die Straße sagenhaft steil. Sieht man die California Street hinauf, wirkt es, als höre hinter ihrem höchsten Punkt alles auf. Der Winkel dort oben ist so übertrieben spitz, dass man alles, was dahinter kommt, nicht mehr sehen kann. Fährt man hier mit Highspeed drüber … Jeder kennt Filmszenen aus San Francisco, in denen Autos krachend aufsetzen und Funken sprühen. Den meisten dürften auch die Kurven der Lombard Street ein Begriff sein. Als Kenny und ich vorgestern Nacht von der Schwulenbar zurück in sein Loft fuhren, kurvte er mit mir die Straße entlang, die nur drei Blocks von seinem Apartment entfernt ist. Die Kurven wurden beispielsweise durch Filme wie Peter Bogdanovichs »What’s Up, Doc?« berühmt. Noch näher an Kennys Apartment befindet sich übrigens die Lombard Street 900. Dieses Haus war das Zuhause von James Stewarts Charakter in Hitchcocks Meisterwerk »Vertigo«. Leider erfahre ich das erst zu spät und komme nicht dazu, es mir anzuschauen. Zurück zur California Street: Hier verkehrt natürlich auch die weltberühmte Kabelstraßenbahn. Einzig das Beobachten dieses Gefährts ist schon amüsant. Überquert man eine Straße, in der die Bahn operiert, kann man das Kabel im Boden rattern hören. Dieses durchaus laute Geräusch gibt aber keinen Aufschluss darüber, ob die Bahn jeden Moment um die Ecke gejagt kommt oder noch weit entfernt ist. Auf einem Verkehrsschild habe ich übrigens gelesen, dass man beim Überqueren der Straße aufpassen soll, da die cable cars nicht anhalten. Ei der Daus!
Nachdem Kenny und ich uns herzlich voneinander verabschiedet haben, spaziere ich in Richtung Union Square. Da ich zum einen meinen Rucksack wieder mit mir herumschleppe und zum anderen offensichtlich noch mittelschwer verkatert bin, setze ich mich dort erst einmal zum Verschnaufen auf eine Bank und beobachte: An der Westseite des rechteckigen Union Square befindet sich das Westin St. Francis Hotel, das auf mich jedoch eher wie ein Regierungssitz wirkt. Die Flaggen der USA und Kaliforniens wehen riesengroß im Wind. Hm, was ist eigentlich die Hauptstadt Kaliforniens? Also, wo hat Arnold regiert?
»I was elected to lead, not to read!«
Ich sinniere kurz: Der Regierungssitz des »Golden State«, der mit rund 37 Millionen Einwohnern auch den mit Abstand bevölkerungsreichsten Bundesstaat der USA darstellt, ist natürlich Sacramento. Ich Dummerchen. Ich lächle noch erleuchtet: »Ja, ja: Sacramento«, vor mich hin, als ich plötzlich Steckdosen aus der Grünfläche vor mir herausragen sehe! Was zum …? Da supportet die Stadt wohl die Computerarbeit im Freien. Geiler Scheiß. Direkt neben der Grünfläche bereitet ein Obdachloser gerade sein Junkiefrühstück vor. Ich bin mir nicht sicher, ob es Crack ist, was er da raucht, es sieht aber stark danach aus. Eine besorgte Mutter versucht währenddessen ihren Sohnemann, der an einem Geländer fünf Meter neben dem Obdachlosen herumklettert, schnellstens weit, weit wegzubringen. Auch das passt wieder zu meinem bisherigen Eindruck von San Francisco. Gegensätze: Der Union Square und seine Nachbarschaft wirkt mit all den Nobelboutiquen und Luxushotels sehr fein sowie hier und da fast schon steril. Gleichzeitig scheint sich hier aber auch die größte Ansammlung an Obdachlosen eingefunden zu haben. Reichtum trifft auf Armut. So deutlich wie hier habe ich das, glaube ich, noch nirgendwo gesehen.
Ich erkunde den Bereich rund um den Union Square und lande zwangsläufig mal wieder bei Starbucks: 1,95 Dollar für zwölf Unzen Americano und schon darf ich unbegrenzte Zeit kostenlos ins Internet, um eine Couch für die Nacht zu finden. Das funktioniert aber einmal mehr nicht so einfach wie erhofft. Hm. Außerdem muss ich mir noch ein Ticket für meine Reise zum Filmfestival kaufen. Ich habe die Wahl zwischen einem vierstündigen Zug- und Bustrip und dem teureren, aber schnelleren Monterey Airbus. Da ich laut Fahrplanauskunft gerade einmal zwei Minuten habe, um in San Jose vom Bus in den richtigen Zug zu steigen und danach erst einmal für x Stunden kein Alternativzug fährt, entscheide ich mich für den Airbus, der vom Flughafen aus fährt. Der Spaß kostet, online gekauft, 50 Dollar, plus BART-Ticket zum Flughafen. Gerade als ich buchen will, bekomme ich eine E-Mail von Rachael. Aha, wer ist denn das? Rachael antwortet auf mein Inserat »Ride needed: SF to Monterey«, das ich gestern oder vorgestern bei craigslist.org gepostet habe. Rock und Roll! Sie weiß noch nicht, ob sie bereits heute Abend oder erst morgen früh fahren soll, bevorzugt aber eindeutig morgen in der Frühe. Ich noch immer Obdachloser plädiere in meiner Antwortmail hingegen für heute Abend und beschließe, jetzt erst mal die Suche nach einem Bett sein zu lassen und mich stattdessen auf die Suche nach Essen zu machen. Kenny hat mir empfohlen, das King of Thai Noodle House am Union Square auszuprobieren. Na, ich wollte ja sowieso noch andere Currys von denen austesten. Also suche ich.
Man wird in San Francisco von so ziemlich jedem Obdachlosen angesprochen. Natürlich wollen sie alle einen viertel Dollar oder ein bisschen mehr. Einige sind zusätzlich noch wahnsinnig gesprächig – wie der Typ aus Jamaika, der plötzlich drei Blocks lang neben mir herhumpelt und mich zutextet. Weil er nicht mehr wirklich viele Zähne hat, verstehe ich ihn nicht allzu gut und oft. Er nervt aber auch nicht und ich bin mir sicher, dass ich ihn – sobald ich genug habe – auch problemlos wieder stehen lassen kann. Soweit kommt es aber erst gar nicht. Ein anderer Obdachloser übernimmt den Part und bremst den Mann mit den Dreadlocks und dem knallorangen Pulli eiskalt aus. Er kommt uns entgegen, breitet seine Arme aus, schaut abwechselnd den Kollegen und mich an und brüllt: »He’s not going to give you crack, man! He’s not going to give it to you! No! He has no crack for you!«
Der Jamaikaner humpelt ihm in die Arme und ich denke mir, dass dies ein guter Zeitpunkt ist, um überhaupt nicht zu reagieren und einfach weiterzugehen. Er hätte von mir auch kein Crack bekommen …
Der Yellow Curry im King of Thai Noodle House ist nicht ganz so genial wie der Panang Curry, aber auch sehr zu empfehlen. Ich muss noch einmal ins Internet, um zu sehen, ob mir mittlerweile jemand eine Couch anbietet und ob Rachael sich vielleicht doch dazu entschieden hat, noch heute Abend ins Monterey County zu fahren. Ich laufe wieder in Richtung Fisherman’s Wharf, finde aber erst einen Laden, in dem ich kostenlos ins Internet kann, als ich schon wieder bei Kenny um die Ecke bin. Wie gewohnt bekomme ich entweder keine Antworten auf meine Couchsurfing-Mails oder Absagen. Rachael hat sich nun endgültig dazu entschieden, morgen früh zu fahren und Kenny kann heute nicht, weil er mit einem Kumpel in Oakland Sachen für die Uni machen muss. Damn! Ich schaue, ob ich ein preiswertes B&B finde, muss Rachael aber auch mitteilen, wo sie mich morgen früh um sieben Uhr abholen kann. Ich gebe ihr Kennys Adresse und suche nach einem Hostel in der näheren Umgebung. Ford, der Filmemacher vom Beat Museum kommt mir dann mal wieder in den Sinn. Der Kollege schien mir äußerst unkompliziert und korrekt zu sein. Vielleicht kennt er ja einen Platz, wo ich für eine kurze Nacht spontan unterkommen kann. Ich schreibe ihm eine SMS und frage, ob er Lust hat, mit mir heute lange Party zu machen oder ob er für mich einen Platz zum Übernachten kennt. Eine SMS kann er einfach ignorieren, wenn er keine Zeit und Lust hat. Bei einem Anruf ist man immer gleich so gefordert. Kurz darauf kommt Fords Antwort: »I have no plans. You can crash at my place. Meet at Mason and Ellis at 11:11«
Helau! Das ist in knapp 90 Minuten. Mason, Ecke Ellis befindet sich natürlich direkt am Union Square. Also heißt es nun: wieder zurück. Ich will nicht noch einmal dieselbe Strecke laufen und entscheide mich im Prinzip nur für eine Parallelstraße. Mit Kenny bin ich heute Vormittag die Columbus Avenue bis kurz vor den Broadway hinuntergelaufen. Diese Ecke heißt übrigens Little Italy und ist fest in der Hand von italienischen Restaurants. Am auffälligsten dürfte The Stinking Rose sein: ein Restaurant, das ausschließlich Knoblauchgerichte anbietet. Wie gesagt spaziere ich diesmal eigentlich nur eine Parallelstraße zur Columbus Avenue entlang. Dies hat in San Francisco jedoch verheerende Auswirkungen! Kenny erzählte mir, dass er zu den Bewohnern dieser Stadt gehört, die es vorziehen, längere Wege zu marschieren, die im Gegensatz zu den direkteren Strecken nicht ständig auf und ab gehen. Schwer zu sagen, wie man schneller voran kommt. Da ich noch genügend Zeit habe, um an der Ecke Mason und Ellis einzutrudeln, entscheide ich mich dazu, die sportlichere Variante auszutesten. Steht man in San Francisco an einer Kreuzung und weiß, dass man irgendwann auf seiner Route abbiegen muss, sollte man immer dann abbiegen, wenn keine nennenswerte Steigung oder Gefälle auszumachen ist. Entscheidet man sich gegen eine machbare Straße, kann man davon ausgehen, dass die abgehenden Straßen einen Block weiter direkt hoch in den Himmel oder runter in die Hölle führen. Diese Lektion mache ich sehr schnell und dazu auch noch gleich mehrfach. Die Erstbesteigung lohnt sich aber. Von hier oben, in der Dunkelheit und mit all den Lichtern der Stadt sieht die California Street noch cooler aus.

2012 11 13 22.01.30

Ich schreibe Ford erst gegen halb zwölf eine SMS. Mit bis zu 20 Minuten Verspätung kann man in einer Stadt wie San Francisco, glaube ich, noch zufrieden sein. Ich schreibe Ford, dass ich nun an der Ecke bin und hoffe, dass er es sich nicht anders überlegt hat. Kurz darauf entschuldigt er sich, weil er auf der Arbeit hängen geblieben ist. Ich soll ins Lefty’s gehen und dort auf ihn warten. Jetzt bin ich mir sicher, dass ich heute Nacht bei Ford schlafen kann und informiere Rachael, dass sie mich morgen nicht in der Taylor Street, sondern Downtown abholen kann.
Das Lefty’s ist dem stadteigenen Baseballhelden Lefty O’Doul gewidmet und eine sehr seltsame Bar. Hier riecht es vielmehr wie in einer Steakkantine und irgendwie ist es das auch. Neben einer kneipentypischen Bar und den offensichtlich mittlerweile üblichen fünf bis zehn Flachbildfernsehern gibt es hier nämlich auch eine Fleischbar. Da ich vorhin viel zu früh in der Mason Street angekommen bin, habe ich mir schon in einer anderen Bar ein Bier gegönnt. Der Preis dafür lag jenseits der sechs Dollar. Wow, das ist happig. Deswegen gibt’s jetzt nur eine Cola. Nach einer guten halben Stunde betritt Ford die Bar. Cool, das klappt also tatsächlich. Er entschuldigt sich unzählige Male, was allerdings alles andere als notwendig ist. Schließlich ist es vielmehr meine Aufgabe, ihm unzählige Male dafür zu danken, dass er mich bei sich aufnimmt. Ford hat heute als Koch in einem Restaurant mit amerikanischer Küche gearbeitet und ist müde. Deswegen planen wir auch gar keine weitere Party, sondern gehen direkt zu ihm nach Hause. Der hochgewachsene 35-Jährige mit dem Irokesenschnitt – der heute aber schon wesentlich unpunkiger aussieht als gestern – wohnt über einem Thai-Restaurant, im ersten Stock eines roten Backsteingebäudes. Wir betreten zunächst ein schmales, mit Teppich ausgelegtes Treppenhaus. Da passen kaum zwei Personen auf eine Stufe. In der ersten Etage angekommen, zieht sich ein langer, schmaler Flur mit demselben grauen Teppich durch das Haus. Am Ende des Flurs und somit wieder direkt an der Ecke Mason und Ellis befindet sich die Gemeinschaftsküche samt Dusche, die mindestens fünf Minuten benötigt, um warmes Wasser auszuschütten. Die Gemeinschaftstoilette befindet sich ungefähr in der Mitte des Flures. Das sieht hier vielmehr nach Hostel aus, denke ich leicht verwundert. Fords Zimmer misst geschätzte 15 m² … und gehört ihm nicht alleine. Der Kollege, mit dem er sich das Zimmer teilt, ist vermutlich nicht darüber informiert worden, dass ich heute hier übernachte. Das macht ihm aber offensichtlich überhaupt nichts aus, womit auch ich relaxt bleiben kann. Ford baut sein Bett auseinander und überlässt mir eine seiner zwei Matratzen. Kaum liegt diese vor den beiden Betten auf dem Boden, ist auch schon die komplette Bude zugestellt. Es ist schwer, auch nur einen Schritt zu machen. Das ist aber auch gar nicht mehr nötig: Ich gehe noch mal schnell unter die kalte Dusche und fünf Minuten später schnarchen wir drei um die Wette …

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