Tag 41: Stadt der Musik … und der lustigsten Historie aller Zeiten

Serendipity – Teil 1

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Donnerstag, 20. Dezember 2012
SeaTac – Seattle – SeaTac

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Ich habe mir für heute viel vorgenommen, weswegen ich früh am Morgen mit Leo nach Seattle fahre. Er fährt zur Arbeit und lässt mich nahe der Space Needle raus. Mein erstes Ziel ist das EMP, das Experience Music Project. Blöderweise finden Leo und ich via Smartphone heraus, dass es erst um zehn Uhr öffnet. Jetzt ist es acht und es regnet in Strömen.
Ich laufe zunächst die Mercer Street entlang. Eine Hälfte der Straße ist eine Baustelle, weshalb massenweise orange-rot leuchtende Verkehrsschilder sortiert auf dem Boden liegen und im Licht der Autoscheinwerfer leuchten. Ich spaziere zum Lake Union. Links vor mir ist eine kleine Bucht, durch die sich eine flache, stählerne Fußgängerbrücke zieht. Rechts davon befindet sich eine quadratische Halbinsel, auf der sich im einzigen Gebäude die Virgina V Foundation und das Museum of History & Industry befinden. Die Virginia V ist der letzte noch aktive Dampfer der Puget-Sound-Mosquito-Flotte, die vom späten 19. bis ins frühe 20. Jahrhundert zwischen den Inseln und Häfen der Meerenge pendelte und sowohl Passagiere als auch Frachten transportierte.
Das Museum würde ich mir aufgrund des Regens sogar ganz gerne ansehen. Aber natürlich ist auch diese Ausstellung so früh am Tag noch geschlossen. Das ist vermutlich aber auch besser so, da ich sonst mit meinem Tagesplan in Verzug geraten dürfte.
Ich erreiche das Center for Wooden Boats, where maritime history comes alive. Der Zugang ist kostenlos und führt über einen hölzernen Steg – woraus auch sonst. Das Holzbootcenter ist – zumindest bei so nassem Wetter wie heute – eher langweilig. Sonntags kann man sich allerdings nach der Devise: »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst«, kostenlos Boote mieten. Das ist doch mal nett.
Ich schlendere noch ein wenig durch den Bezirk South Lake Union bis zum Denny Way. Einmal mehr komme ich am rosa Elefanten des Super Car Wash vorbei und wenige Meter später bei den »German Motor Specialists« von Fat City. Die Werkstatt müsste Leo gefallen, da sich in der old-schooligen grün angestrichenen Werkstatt alles um Audi, Mercedes, Porsche, VW und selbstverständlich BMW dreht. Direkt neben der Werkstatt verläuft Seattles Einschienenbahn über die Dächer. Die Seattle Center Monorail ist ebenfalls ein Resultat der Weltausstellung von 1962. Sie erstreckt sich vom Seattle Center, also der Space Needle, zum Westlake Center an der Ecke 5th und Pine.
Gegenüber der deutschen Autowerkstatt befindet sich der kleine Tilikum Place. Dieser Bereich der Stadt zählt übrigens nicht mehr zu South Lake Union, sondern wieder zur Downtown beziehungsweise dem Central Business District (CBD), wie man in Seattle angeblich eher sagt. Auf dem Tilikum Place steht eine Statue von Chief Si’ahl alias Chief Seattle. Angeblich soll die Kupferfigur lebensgroß sein. Dann war der Häuptling entweder sehr klein oder mein Erinnerungsvermögen ist nicht das beste. Die Plastik, die auf dem einzig existierenden Foto des Stammesoberhauptes beruht, hebt den rechten Arm, um die ersten weißen Siedler zu begrüßen, die 1851 am Alki Point eintrafen. Na, ob der sich damals wirklich so gefreut hat? Die Statue wurde 1912 von Si’ahls Ururenkelin Myrtle Loughery eingeweiht.
»Tilikum« heißt by the way: »Willkommen«, oder: »Ei Guude, wie?«, in der Sprache der Chinook. Weshalb man die Sprache der rund um den Columbia River lebenden Chinook verwendet, um die Begrüßung durch den Häuptling der Duwamish und Suquamish zu symbolisieren – die Lushootseed sprechen –, mögen die Ethnologen und Historiker unter Euch bitte nachschlagen und mir erklären. Vielen Dank.
»Ei Guude, wie?«, ist übrigens – für alle Unwissenden – die Sprache der Ureinwohner Rheinhessens.

Ich schaue mir noch die Haltestelle der Einschienenbahn an, bevor ich mich zum Warten vor das EMP stelle. Ich sehe das laut Forbes Magazin zu den zehn hässlichsten Gebäuden der Welt zählende Museum erstmals bei Tageslicht. Also, ich finde es cool. Die Schiene der Monorail verläuft durch den Komplex. Das Bauwerk wirkt sehr organisch. Die Formgebung ist geschwungen. Lediglich die südlichen Ausläufer des Gebäudes enden mit scharfen Kanten. Die Hülle des Hauses ist nicht aus Stein, sondern aus unzähligen goldenen Metallstücken zusammengesetzt. Hier und da hat man Lücken gelassen, in die man auf Schaufenstergröße Fotos von Gitarren oder Star-Trek-Uniformen platziert hat. Auf Höhe der verhältnismäßig recht kleinen Eingangstür wird die goldene Fassade von einem kräftigen Rot abgelöst. Die Kanten sind nun klarer, wobei man noch immer nicht von richtigen Ecken und rechten Winkeln reden kann. Quer über das Dach des EMP ziehen sich grüne und blaue transluzente Glasbänder, die eine weitere wellenförmige Schicht der Dachplastik bilden. Da das Gebäude eine zertrümmerte Gitarre darstellen soll, handelt es sich bei den Bändern wohl um das Griffbrett des Instruments. An der Ecke zur Harrison Street ändert das EMP erneut seine Farbe. Silbern zieht sich die sowohl technisch als auch organisch angelegte Hülle um die Kurve. Gegenüber der silbernen Fassade stehen in Ocker- und Brauntönen seltsame »Striche« in der Landschaft, die wie gepresster Bambus wirken. Komplettiert man die Gebäudeumrundung, passiert man noch einen abermals goldenen und einen himmelblauen Fassadenteil. Stets werden die Rundungen der Außenhaut beibehalten: ein wahrlich spektakulärer Bau.

Als das EMP endlich öffnet, betrete ich als erster Gast des Tages die hohe Eingangshalle des Museums. Ich zahle 17 Dollar für den Eintritt. Mein deutscher Studentenausweis wird problemlos akzeptiert. Für weitere fünf Dollar gönne ich mir den iPod-Audioführer. Als bitter notwendig wird er sich zwar nicht unbedingt erweisen, bereuen werde ich die Miete aber auch nicht. Erwachsene zahlen übrigens 20 Scheine, Rentner ebenfalls 17 und Soldaten sowie Jugendliche zwischen fünf und 17 Jahren gar nur 14 Dollar. Kinder unter vier Jahren dürfen sich umsonst über Nirvana und Jimi Hendrix informieren. Ich erfahre erst im Nachhinein, dass man beim Onlinekauf des Tickets zwei beziehungsweise als Erwachsener sogar ganze fünf Dollar spart.

Der Eingangsbereich des EMP

Der Eingangsbereich des EMP


Ticketpreise
Dies sind die Preise vom Dezember 2012. Preisänderungen sind möglich und werden hier nicht aktualisiert. Die aktuellen Preise findest Du hier.

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Ich gehe zunächst in den ersten Stock hinauf. Die Wand ist mit einem Zitat von Krist Novoselic, dem Bassisten der legendären Nirvana, verziert: »Music is an art form that thrives on reinvention.«
Er und seine Band haben es geschafft.
Oben angekommen stehe ich vor einem sehr interessanten »Tornado«: Fast 700 Musikinstrumente wurden hier miteinander zu einer Skulptur verbunden, die als Hommage an einen Song von Jimi Hendrix den Namen »If VI was IX: The Roots and Branches Sculpture« trägt. 40 der Instrumente sind speziell für das Kunstwerk maßgefertigte Gitarren, die, computergesteuert, eine Reihe von Kompositionen des Künstlers zum Besten geben können. Der Komponist und Künstler heißt übrigens Trimpin. Sein bürgerlicher Name ist Gerhard Trimpin, ein Deutscher aus der Oberrheinebene, der 1980, im Alter von 29 Jahren von Berlin nach Seattle zog.

Weiter geht’s in die »Sky Church«, der museumseigenen Konzerthalle. An Tagen, an denen nicht live performt wird, werden Konzertausschnitte auf einer großen Leinwand gezeigt. Im Moment rockt Jimi lautstark ab.

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Die nächste Station ist die temporäre Horrorfilmausstellung »Can’t Look Away – The Lure of Horror Film«. Die Ausstellungsstücke sind originale Filmrequisiten und reichen von Simon Peggs blutigem Hemd samt Krawatte aus »Shaun of the Dead« bis hin zu Jack Nicholsons Axt aus »Shining«. Das von H. R. Giger entworfene Alien steht lebensgroß in einem Schaukasten – der sicherheitshalber noch mit einem zusätzlichen Gitter abgesichert wird. Ein zerfleddertes Zombiekostüm aus John Landis’ Musikclip zu Michael Jacksons »Thriller« gibt es auch. Außerdem noch eine aufschlussreiche Zeitleiste der Geschichte des Horrorfilms. Sie startet mit Robert Wienes »Das Cabinet des Dr. Caligari« und endet mit »Paranormal Activity«.

Besonders amüsant finde ich die »Scream Booth«, ein kleiner Raum mit einer dicken Glastür. Auf dem Schild neben der Tür steht die Aufforderung: »Step inside and scream!«
Die Zelle wird von zwei pubertären Mädchen belegt, weswegen ich mich nicht der Peinlichkeit hergebe. Ein bisschen vom Gekreische hört man nämlich trotz der dicken Glastür auch hier draußen. Leicht pervers fühle ich mich, als ich mir an einem Automaten Beispielszenen für bestimmte Untergenres des Horrorfilms ansehe: Ich ziehe mir gerade eine Splatterszene rein und bin köstlich amüsiert, während die Schulmädchen neben mir sich beinahe noch einmal ihr Frühstück durch den Kopf gehen lassen. Den geschickten Übergang von der Horrorausstellung zum Science-Fiction-Raum macht die Installation der »Shadow Monsters«. Hierbei stellt man sich vor einen Beamer und schaut auf die Leinwand, auf die man nun einen Schatten wirft. Der Projektor ist so programmiert, dass er zu bestimmten Bewegungen und Formen meines Schattens eigene animierte Figuren und Formen hinzufügt. So wachsen einem plötzlich Tentakel aus dem Kopf oder Augen in die Armbeuge. Die Kamera in der Hand verwandelt sich in einen Fisch und gefährliche Stacheln kommen einem aus den Armen. Der ganze Spaß ist dabei aber vollkommen putzig und süß und nicht etwa erschreckend oder gar abstoßend.

Im Nachbarraum stehe ich zunächst vor Keanu Reeves Mantel aus »Matrix«. Captain Kirks berühmter Sessel aus der Kommandozentrale der Enterprise steht im Eck hinter Glas, Supermans Outfit ist auch am Start und diverse Waffen aus den unterschiedlichsten Filmen sind im gesamten Raum verteilt. Nicht fehlen darf »The Science Fiction Hall of Fame«, die vielmehr eine futuristische »Wall of Fame« ist: Die Konterfeis der Genrehelden sind auf beleuchteten Glasscheiben eingraviert.

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Als Nächstes laufe ich durch die »Sound & Vision Gallery«. Dies könnte womöglich mit der interessanteste Teil des kompletten Museums sein – wenn man sich die Zeit dafür nimmt. Alleine in diesem Raum könnte man Stunden, wenn nicht sogar Tage verbringen: Seit 1993 führt das EMP Interviews mit Menschen, die wichtige Beiträge zur Musik und Popkultur geliefert haben. Selbst der United States Congress hat 2005 die Wichtigkeit dieser Arbeit erkannt und subventioniert das EMP, damit das »Oral History Program« fortgeführt und ein Archiv aufgebaut werden kann. Neben den Videos beherbergt dieser Teil des Museums auch tolle Fotografien. Derzeit werden Fotos der Stones ausgestellt.
Weiter geht’s zur permanenten Ausstellung von Gitarrengott Jimi Hendrix. Die Ausstellung besteht zum größten Teil aus Jimis Instrumenten – oder was davon übrig blieb –, Fotos und Klamotten.

<center>»Hear My Train a Comin’: Hendrix Hits London«</center>
Unter dem Liedtitel »Hear My Train a Comin’« und »Hendrix Hits London« werden die ersten Jahre von James Marshall Hendrix’ Karriere porträtiert, die dank der Hilfe von Chas Chandler, dem Bassisten der Animals, 1966 in London begann. Am 18. Juni 1967 traten The Jimi Hendrix Experience beim legendären Monterey International Pop Festival auf und begründeten ihren Erfolg in Amerika. Pete Johnson von der Los Angeles Times schrieb nach Jimis Auftritt: »The Jimi Hendrix Experience owned the future, and the audience knew it in an instant. When Jimi left the stage he graduated from rumor to legend.«
Das lag mit Sicherheit auch daran, dass Jimi seine bunte Fender Stratocaster in Brand setzte und zerschmetterte. Ein Bruchstück dieser legendären Gitarre ist im EMP zu bewundern. Hendrix selbst bezeichnete seine »Zerstörungswut« gegenüber seinen oftmals mit größter Sorgfalt selbst bemalten Gitarren übrigens nicht etwa als einen nihilistischen Akt, sondern als einen Akt der Liebe: »We had our beautiful rock-blues-country-funky-freaky sound and I felt like we were turning the whole world on to this new thing – the best, most lovely new thing. So I decided to destroy my guitar at the end of a song as a sacrifice. You sacrifice things you love. I love my guitar.«
Rock und Roll! Geiler Typ.

Weiter geht’s zu Nirvana, den Teil der Ausstellung, der mich am meisten interessiert. »Taking Punk to the Masses«, heißt die Sammlung. Here I am now, entertain me!

<center>»Nirvana: Taking Punk to the Masses«</center>
1991 schafften es drei Jungs aus dem Pazifischen Nordwesten, Seattle zurück auf die Landkarte der Rockmusik zu hieven. Lange kam wenig aus Seattle, doch dann kamen Nirvana mit »Smells Like Teen Spirit« und einer musikalischen Weltrevolution. Der Grunge war erfunden und löste die Vorherrschaft des Glam Metal ab. Um es den Jüngeren einfacher zu verdeutlichen: Die Muskelproleten von Limp Bizkit wurden durch die schmalen Jeansträger von The Strokes abgelöst. Anfang der 90er mussten Bands wie die glatten Bon Jovi in Sachen neuer Coolness herbe Rückschläge hinnehmen. Holzfällerhemden, Löcher in den Jeans und ungewaschene lange Haare lösten tief ausgeschnittene »Schaut her, ich habe sexy Brusthaar«-Hemden, hautenge Lederhosen und die Herrendauerwelle ab. Der Punk erlebte ein Revival und dem Alternative Rock wurde der Weg geebnet. Zudem verkauften sich Nirvana nicht. Oder um Krist Novoselic zu zitieren: »When Nirvana hit it big, it was overwhelming because we were part of the counterculture. Nirvana didn’t go to the mainstream – the mainstream came to Nirvana.«

Die Ausstellung ist im Prinzip genauso aufgebaut wie die von Jimi Hendrix: Klamotten und Instrumente der Band; selbstredend in erster Linie von Cobain. Gleich am Anfang steht Kurt Cobains Gitarre, auf der er im OK Hotel in Seattle am 17. April 1991 der Welt zum ersten Mal das Riff von »Smells Like Teen Spirit« live präsentierte. Anstelle von bemalten Gitarren gibt es von Kurt bemaltes Papier aus seiner Highschoolzeit. Neben Punks mit Irokesenschnitten malte Kurt auch den damaligen Präsidenten Ronald Reagan, der zum Gruße den linken Arm hebt und mit der rechten Hand den rechten Arm eines Affen festhält, der dem Präsidenten sehr ähnlich sieht und wohl lieber den rechten Arm ausstrecken möchte. Fotos vom brav aussehenden Schüler Cobain hängen Fotos von einer Pogo tanzenden Menge gegenüber. Die Ausstellung befasst sich also nicht nur mit der Blütezeit Nirvanas, als sie im Radio und auf MTV hoch- und runterliefen, sondern setzt schon wesentlich früher und auch abseits von Nirvana an. Es geht um Punkrock, die DIY-Attitüde und wie man begann, lose Netzwerke aufzubauen und unabhängige Radioshows und Plattenvertriebe zu gründen. Wahrscheinlich war der in musikalische Vergessenheit geratene Pazifische Nordwesten auch einfach nur genau der richtige Ort für Punk und das, was man später Grunge nennen sollte.
Man mag es mir nicht mehr allzu sehr ansehen, aber ein Punk bin auch ich noch immer und bei selbst bemalten T-Shirts mit provokativen Motiven geht mir nach wie vor das Herz auf. Da gibt es beispielsweise dieses eine Shirt, auf das der Künstler – Dave Grohl nebenbei bemerkt – mit Edding »HarD.C.ore« geschrieben und einen Axt schwingenden Typen gemalt hat, der einem anderen den Kopf wegsäbelt. Auf den Kerl mit der Axt ist ein Pfeil gerichtet, neben dem »Me« steht und neben dem wegfliegenden Kopf des Enthaupteten steht natürlich »You«. Was haben Mama und Papa damals wohl zu diesem Meisterwerk gesagt?

Auch Kurt hat Gitarren zerschmettert. Sein erstes Opfer vom 30. Oktober 1988 ist genauso Teil der Ausstellung wie erste Demotapes und selbst angefertigte Konzertplakate. Sogar der Engel vom Cover der »In Utero« steht im recht dunklen Ausstellungsraum. Allerdings fehlen der Kopf und die Arme. Mein persönliches Highlight dürfte das Originalfoto vom »Nevermind«-Album sein. Ich denke mal, dass jeder das Bild vom Baby kennt, das einer Dollarnote hinterherschwimmt. Im EMP ist nun also das unbearbeitete Foto zu sehen. Der Boden des Schwimmbeckens ist zu erkennen, der nachträglich eingefügte Dollarschein am Angelhaken fehlt und über dem Bild hat jemand einen zum Schreien komischen handgeschriebenen Kommentar hinterlassen: »If anyone has a problem with his dick, we can remove it.«
Das Baby ist – fürs Protokoll – das Kind eines Freundes des Fotografen und heißt Spencer Elden. Die Geschichte mit Klein-Spencers Penis ging notabene folgendermaßen weiter: Geffen, das Plattenlabel, bereitete auch eine Fassung ohne Pimmelchen vor. Allerdings gab Geffen klein bei, als Kurt Cobain klarmachte, dass der in seinen Augen einzige Kompromiss ein Aufkleber auf dem Schniedel des Kleinen wäre, auf dem folgendes zu stehen habe: »If you're offended by this, you must be a closet pedophile.«
Ich schmeiß mich weg …

I had an advance cassette copy of ›Nevermind‹. I put that thing on my tape player in my apartment and I cried. I invited every single person over and said, ›Listen to this.‹ – Life changed at that moment. I heard it in the songs, and I played it on auto-reverse for a whole week.<span class="su-quote-cite">Melissa auf der Maur (Hole & Smashing Pumpkins)</span>

Die schöne Ausstellung endet mit der Setlist von Nirvanas letztem Konzert, das sie am 1. März 1994 am Flughafen München-Riem gaben – einen knappen Monat vor Kurts Selbstmord.

Die derzeit groß beworbene Ausstellung »Worn to be Wild – The Black Leather Jacket« ist nicht mehr so spannend. Klar, es gibt ein paar wirklich coole Kutten und die Geschichten darüber, wie und weshalb welche Bewegung sich die Lederjacke zum Markenzeichen machte, sind nicht uninteressant. Die Jacken werden zudem sehr cool präsentiert. Neben so manch schrägem Motiv und derben Killernieten auf so mancher Kluft ist die Lederjacke, die Arnold Schwarzenegger in »Terminator 2« getragen hat, das große Highlight der Lederschau. Aber allzu lange muss ich mir das nicht angucken …

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Wesentlich lustiger und auch interaktiver geht’s im letzten Teil des Museums zu. Im »Sound Lab« kann man, in kleinen Kabinen stehend oder sitzend, sich das darin positionierte Instrument schnappen und selbst musizieren.

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Außerdem – und den Spaß erlaube ich mir, an meinen kleinen Trommeln stehend – kann man die »Musiker« der benachbarten Kabinen per Knopfdruck zum gemeinsamen Jammen einladen. Haha! Ich will eigentlich nur die verwirrten Blicke der Mädels in den Nachbarzellen sehen, werde dann aber selbst bloßgestellt: Die eine bemerkt die Einladung erst gar nicht auf ihrem Bildschirm. Die andere lacht kurz auf, dreht sich zu mir und sagt: »Okay, let’s rock!«
Ich war selbst nach jahrelangem Gitarrenunterricht zu blöd, um ein schrammeliges Punklied mit drei Akkorden korrekt nachzuspielen. Deshalb antworte ich: »Uhm … uuuhm«, werfe die Sticks schreiend von mir und ergreife in einer eleganten 180°-Drehung die Flucht. Wo ist die »Scream Booth«, wenn man sie braucht? Zur Beruhigung gehe ich an zwei Plattenteller und scratche ein wenig. Das klingt bei so ziemlich jedem hier scheiße, da falle ich nicht auf.
Den krönenden Abschluss meiner wirklich sehr unterhaltsamen und interessanten Zeit im EMP bildet »On Stage Live!«. Ich werde von einer der Angestellten angesprochen und bekomme erklärt, was ich hier Feines machen kann. Es handelt sich hierbei um einen professionell ausgestatteten Proberaum mit rockbandtypischen Instrumenten. Guess what: Ich soll musizieren und sie nimmt den Spaß auf. Ton und Bild. Diesmal habe ich nichts in der Hand, das ich wegwerfen könnte. Mir bleibt nur die peinliche Absage: »Hey, I’m the one who likes all the pretty songs and I like to sing along and I like to shoot my gun, but I don’t know what it means, don’t know what it means, when you say …«
Versteckte Türen öffnen sich und wild kreischende Menschen brüllen: »Buh!«, während sie mich mit Tomaten beschmeißen und aus dem Proberaum treiben – zumindest fühlt es sich so an. Just because you’re paranoid don’t mean they’re not after you … Ich fürchte, ein Rockstar werde ich in diesem Leben nicht mehr.
Was sollte man machen, wenn man sich nach vier Stunden im EMP mal wieder vom Nirvana-Virus hat infizieren lassen und zudem noch den seltsamen Drang verspürt, einer lieben, aber doofen Schülerlotsin mal so richtig punkig und rachsüchtig in den Hintern zu treten? Richtig! Man schnappt sich den nächsten Bus, der in die, diesmal zu 100 % richtige Richtung fährt: Lake Washington. Dennis Knickel will have his revenge on Seattle!
Meiner niederen Beweggründe offensichtlich gewiss, zeigt mir Seattle aber noch mal, wer hier der Herr im Haus ist. Mitten im Nirgendwo stoppt der Bus plötzlich und schmeißt mich, den letzten verbliebenen Fahrgast, raus. Verstehe ich nicht. Eine große Erklärung gibt’s auch nicht. Ich soll den nächsten Bus nehmen, der in circa zehn Minuten hier vorfahren dürfte. Dann packt der Busfahrer sein Mittagessen aus und ich stehe im Nieselregen.
Die Nachbarschaft ist recht grün. Zwischen Bürgersteig und unbefahrener Straße ist hüben wie drüben ein gut und gerne zwei bis drei Meter breiter Grünstreifen mit Bäumen. Rund um die Holzhäuser sind entweder Gärten oder ebenfalls Grünstreifen, die überdies nicht umzäunt sind. Der Bus braucht länger als zehn Minuten, kommt aber dann doch endlich irgendwann an. Ich habe trotzdem bereits die Befürchtung schon wieder zu spät zu kommen. Ich erreiche wieder die Ecke Union und 34th und halte nach der Schülerlotsin Ausschau. Ich will ihr – um das klarzustellen – nichts Böses. War nur ein Scherz. Es würde mich sogar freuen, sie wieder zu treffen. Und das meine ich nicht, weil ich mich daran ergötzen würde, ihr ein schlechtes Gewissen zu machen. Ich werde nur so gerne von Wildfremden: »Honey«, genannt und für verrückt erklärt. Die Dame in Neongelb ist heute aber nicht anwesend, weswegen ich einfach in die Richtung laufe, in der ich grob Kurt Cobains Villa vermute.

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Ich stapfe die gewundenen Straßen in Richtung See hinab. Cari schreibt mir. Ich glaube, sie wird langsam nervös, weil wir noch immer nichts wirklich Handfestes klargemacht haben. Ich bin ja generell eher von der langsamen Sorte, wenn es ums Schreiben einer SMS geht. Ausschau nach Hausnummern und Straßenschildern halten, dabei unter einem sonnenuntergangsbedingten Zeitdruck bergab zu laufen und ins Handy tippen, geht daher gar nicht. Ich rufe sie also an, was aber auch nicht so recht funktionieren will: Ein Funkloch jagt das nächste. Meine Fresse. Immerhin kann ich ihr klarmachen, dass ich ein Auto für 230 Dollar gefunden habe: »So it's 115 per nose. Do you say ›per nose‹ in America?«
Cari meint, dass sie ein Zelt, einen Schlafsack und Decken hat und ich zu meiner Milchmädchenrechnung noch Sprit und möglicherweise Übernachtungen rechnen muss. Klugscheißerin. Immerhin sagt sie auch lachend: »›Per nose‹ works, I guess.«
Sprit kostet in Amerika ja nichts. Die zahlen nur ein Drittel von dem, was wir in Deutschland blechen müssen. Übernachten können wir im Auto oder bei einem Couchsurfer. Ich hatte ja schon vor meiner Zeit in Portland Zusagen von Leuten aus dem Redwood National Park. Das kriegen wir trotz der Feiertage schon hin. Cari muss an Silvester wieder in Portland sein, weil sich ihre Mutter und ihr Stiefvater angekündigt haben. Ich möchte daraufhin wissen, ob sie denn schon weiß, wie sie wieder zurückkommen wird. Den Wagen werden wir in San Francisco abgeben und um Geld zu sparen, wollte ich auch nur mich als Fahrer eintragen lassen. Da Cari noch unter 25 ist, müsste sie als Fahrerin wesentlich mehr zahlen als ich alter Mann. Hm, und was sagt Caris Mama dazu, dass sie mit einem deutschen Backpacker für eine Woche nach San Francisco fährt?
»She knows«, lacht sie.
Lässig.
Ich habe übrigens gestern auch meinen Bus zurück nach Portland gebucht. Pünktlich zur Apokalypse werde ich wieder in Oregon sein. Jawohl, das ist bereits morgen. Nun wird’s mit dem Telefonieren und Texten aber zu blöd. Ständig bricht die Verbindung mitten im Satz ab oder ich renne wie ein Irrer, mein Handy in die Höhe streckend durch die Villensiedlung am Lake Washington.
»I call you when I am back uphill …«
Cari lässt mich noch schnell wissen, dass sie sich nicht mehr lange um Couches für unseren Trip kümmern kann, da ihr Computer gerade am Verrecken ist. Außerdem sitzt sie im Hazel Room und beschließt, nun betrunken zu werden. Ich wünsche ihr viel Erfolg dabei und lasse schöne Grüße an Katie und Sonya rüberwachsen: »Enjoy your delirium …«

Mittlerweile habe ich es bis zum See hinab geschafft. Auf der anderen Uferseite sehe ich die Hochhäuser von Bellevue. Die Stadt galt einst als Vorort oder Satellitenstadt von Seattle. Da die Stadt in den letzten 40 Jahren seine Bevölkerungszahl jedoch von 60.000 auf über 120.000 mehr als verdoppelt hat und weiter anwächst, gilt sie heute als »edge city« oder auch »boomburb«. Eine edge city ist eine Stadt, die sich außerhalb der eigentlichen Downtown – in diesem Fall Seattles CBD – eine anständige Innenstadt mit Geschäften, Firmen und Unterhaltung aufgebaut hat; eine Verstädterung eines Vorortkaffs also. Das lustige Wort boomburb bezeichnet Vororte, die im Grunde Vororte bleiben, dabei aber so schnell und immens anwachsen, dass sie dem Status eines suburbs eigentlich schon entwachsen sind. Ja, über 120.000 Einwohner ist schon ein bisschen größer. Man kann Bellevue in Deutschland wohl am ehesten mit Wiesbaden vergleichen. Ein popeliger Vorort von Mainz, der dafür dann doch schon wieder zu groß ist. Ich möchte den Bewohnern von Bellevue aber nicht zu nahe treten. Entschuldigung, blöder Vergleich.
Wie gestern schon, ist kaum ein Arsch auf der Straße, den ich mal nach dem Weg fragen könnte. Der einzige Anwohner, der mir unter die Nase kommt, weiß natürlich nichts von Kurt Cobains Haus.
Letztlich ist es aber total simpel, das Haus zu finden. Sobald man den See erreicht hat, ist man auf dem Lake Washington Boulevard und muss in die Richtung gehen, in der sich die Hausnummern in Richtung 171 bewegen. Dumm nur, dass es hier unten kaum Häuser gibt und die ersten, an denen ich vorbeikomme noch in den 1500ern sind. Das wird doch nichts mehr vor dem Sonnenuntergang, befürchte ich. Irrtum! Keinen Kilometer nachdem ich das Ufer des Lake Washington an der Kreuzung zum Madrona Drive erreicht habe, erblicke ich das spektakuläre Kurt Cobain Memorial. Jimi Hendrix hat seine Bronzestatue und das andere Schwergewicht der Musikhistorie dieser Stadt, Kurt Cobain, hat … eine Parkbank, die das inoffizielle Gedenken an den Grunge-Gott ist. Ist das nun peinlich oder cool? Auf der einen Seite verstehe ich nicht, wieso man Kurt noch kein offizielles Denkmal errichtet hat. Liegt es daran, dass er Selbstmord begangen hat? Auf der anderen Seite finde ich es eigentlich genau richtig und verdammt cool. Das ist Punk.
In Kurts Heimatstädtchen Aberdeen, das etwas mehr als 16.000 Einwohner hat und knapp 175 Kilometer südwestlich von Seattle gelegen ist, haben sie übrigens das Ortsschild um »Come As You Are« erweitert.
Die Kurt-Cobain-Gedächtnisbank steht im kleinen Viretta Park, der 7300 m² klein, direkt an das Grundstück grenzt, in dem sich Kurt Cobain 1994 das Leben nahm. Von der Bank aus, die circa 15 Meter von der Straße entfernt ist, hat man einen kleinen Blick über den Lake Washington. Keine zehn Meter neben der Bank trennen dichte Büsche den Park vom Grundstück 171 Lake Washington Boulevard.
Als ich ankomme, verabschiedet sich gerade ein Mädchen von der Bank. Sie bittet mich noch schnell, ein Foto von ihr und der Bank zu machen. Dasselbe muss sie dann auch für mich tun – und schneidet mir mal wieder die Füße ab. Wieso schneiden die Leute immer die Füße ab, wenn sie jemanden fotografieren? Ich bin nun also alleine im Viretta Park und begutachte die Bank. Sie ist voll mit Beschriftungen. Mit Kreide, Edding oder Schnitzereien haben sich hier im Laufe der Zeit unzählige Fans verewigt: »RIP Kurt«, »Kurt lives«, »Rock in Peace« oder Textzeilen zieren die Bank: »All in all is all we are.«
Es kleben auch massenhaft Kaugummis auf der Bank. Neben der bunten Farbe auf der Bank ein weiterer Grund, weshalb man sich nicht unbedingt auf »Kurts Bank« setzen möchte. In die Kaugummis haben die Besucher der Pilgerstätte Plektren oder Münzen gedrückt. An eine der Ecken der Rückenlehne hat jemand ein Gemälde samt Brief an Kurt befestigt. Das einzige, das ich lese, ist eine Stelle aus »Dumb«. Der Brief ist an dieser Stelle umgeknickt: »The sun is gone, but I have a light.«
Ich habe nichts zum Schreiben oder Schnitzen dabei, wüsste auch nicht so recht, was ich hinterlassen soll. Leider habe ich auch kein Bier oder Heroin dabei, um mir wie ein richtiger Hardcore-Fan hier die Kante zu geben. Meinen iPod habe ich auch nicht mitgenommen, weswegen ich mich nicht berauscht von Nirvanas Musik wie Kurt ins Schlagzeug respektive Bank schmeißen kann. Ich drücke Kurts Bank daher nur symbolisch meine Faust zum Gruße entgegen, bedanke mich für eine der großartigsten aller Musiken und verabschiede mich leise.

Jetzt schaue ich mir das Haus an – soweit das überhaupt möglich ist. Man weiß nicht, wem die Villa mittlerweile gehört. Zu meiner Überraschung sieht sie aber bewohnt aus. Das massive und hohe Holztor ist mit einer eingeschalteten Lichterkette geschmückt. Auf dem Gehweg steht eine kleine Mülltonne, auf die mit Kreide die zugehörige Adresse geschrieben wurde: Es ist die Mülltonne von Kurts (ehemaligem) Haus. Ich bin ein extrem schlechter Paparazzo und Stalker und klettere weder das Tor hinauf noch öffne ich die kleine Mülltonne. Ein paar Fotos vom Tor und vom Teil des Hauses, den ich trotz des hohen Tores sehen kann, mache ich dann aber doch noch. Die Fassade besteht aus dunklem Holz. Die Fenster sind konträr dazu mit strahlend weißen Rahmen versehen. Das Dach ist geschwungen. Dort, wo das Dach über die Hauswand hinausragt, ist es an der Unterseite ebenfalls mit weißem Holz verziert. Es ist ein schönes Haus. Mindestens eine Überwachungskamera gibt es auch und in der Auffahrt steht ein Kasten, der zum Öffnen des Tores dient. Wer den Code kennt, kann ihn eintippen, für alle anderen heißt es: »Push button to call«.

Ich gehe weiter und denke mir, dass man sich das Haus sicherlich auch von der anderen Seite anschauen kann. Während ich mich tatsächlich dem Haus noch einmal von der 39th Avenue aus nähere, komme ich mir ziemlich doof vor. Aber wenn ich schon mal hier bin … Man hat einen relativ guten Blick auf das Haus und muss sich dafür noch nicht einmal groß zum Deppen oder gar zum Arschloch machen. Ich klettere also keinen Baum hinauf. Andere haben es getan, ich kann die Spuren sehen. Im Haus scheint Licht zu brennen. Die Garage, in der sich Kurt in den Kopf geschossen hat, wurde übrigens schon vor Jahren abgerissen.

Ich spaziere zurück zur altbekannten Kreuzung Union und 34th. Der Busfahrer der Linie 3 begrüßt mich mit den Worten: »Good to see you again.«
Ich bin beeindruckt. Ihn habe ich zudem nicht wiedererkannt. In fünf Minuten geht’s los, erklärt er noch und verschwindet noch einmal kurz beim Friseur. Aha, da ist also sein Pausenklo.
Wieder in Downtown, fahren zwei Amphibienfahrzeuge an mir vorbei. Es sind Sightseeingvehikel, die den Touristen sowohl zu Land als auch zu Wasser die Stadt zeigen. Die Form der Fahrzeuge hat etwas von einer Ente, was sowohl den Namen des Tourveranstalters – Ride the Ducks – als auch die Tatsache, sowohl im Trockenen als auch im Nassen unterwegs zu sein, erklären dürfte. Wobei es in Seattle ja sowieso immer und überall nass ist … Die Fahrer sind voll trainierte Kapitäne mit einer Zertifizierung der Küstenwache. Wohl auch deswegen war das Unternehmen dazu in der Lage, seine »Enten« samt Kapitäne zur Rettung und Evakuierung nach New Orleans zu schicken, nachdem Hurrikan Katrina dort gewütet hatte. Die Kapitäne scheinen aber nicht nur sicher im Lenken ihrer Maschinen zu sein, sondern auch geschult im Umgang mit ihren Fahrgästen. Wie immer in Amerika scheint Entertainment Teil der Ausbildung gewesen zu sein. Die Fahrgäste im ersten Fahrzeug winken mir freudig zu und rufen: »Happy holidays!«
Das ist ja lieb, also winke ich zurück. Im zweiten Wagen geht’s noch heißer her. Der Fahrer ist lustig geschmückt und hat eine Entenpfeife vor sich hängen, während er »Jingle Bells« in sein Mikrofon singt. Seine Passagiere gehen dazu gut ab, zappeln auf ihren Sitzen im Takt und singen lauthals mit. This is America.
Leo wird heute länger brauchen, weiß aber natürlich, dass dies meine letzte Nacht in Seattle ist. Wir verabreden uns also für später in einer Bar meiner Wahl irgendwo in Downtown. Ich frage ihn, wo ich am besten eine coole Kneipe finde. Rund um den Pioneer Square, lautet die Antwort. Da ich noch genügend Zeit, aber keine Ahnung habe, was ich jetzt noch machen soll und zugleich noch immer scharf auf Neues bin, entschließe ich mich kurzerhand dazu, bei der Underground Tour mitzumachen. Die Telefonnummer steht auf dem Stadtplan, den ich bei mir habe. Also rufe ich an und erkundige mich über Zeiten und den Preis der Tour. 16 Dollar kostet der Spaß. Die nächste und vorletzte Tour des Tages startet um 17 Uhr. Der Sitz von Bill Speidel’s Underground Tour ist am Pioneer Square. Na, das passt doch wunderbar.

Der Pioneer Square ist ein relativ kleiner Platz mit vielen Bäumen. Eine weihnachtlich beleuchtete, sehr hübsche viktorianische Pergola mit einem Glasdach auf Eisenpfeilern aus dem Jahre 1909 schützt vor dem Regen. Sie war einst die wohl prunkvollste Haltestelle für Seattles Cable Car. Dahinter steht eine Büste von Chief Si’ahl und der etwas mehr als 18 Meter hohe Totempfahl der Tlingit.

<center>Der Diebstahl des Totempfahls</center>
Mitglieder der Chamber of Commerce – und somit also auch hoch angesehene Bürger der Stadt – stahlen 1899 den Pfahl, als sie auf einer Reise in Richtung Alaska unterwegs waren. Es gibt unterschiedliche Aussagen über den Diebstahl. Der eine behauptet, dass die Tlingit den weißen Männern den Pfahl freiwillig und gerne überließen, ein anderer sagt aus, dass der Stamm zum Fischen unterwegs war und nur ein einziger, vor Angst erstarrter Mann im Dorf angetroffen wurde. Wie einen Baum habe man den Pfahl gefällt, zweigeteilt und zum Boot geschleppt. Die Tlingit wehrten sich jedoch und bestanden auf eine Entschädigung. Tatsächlich wurden die Männer verurteilt. Hierbei wird allerdings deutlich, wie »gleichberechtigt« amerikanische Ureinwohner und Weiße behandelt wurden: Die Forderung der Tlingit lag bei 20.000 Dollar. Das Gericht bestrafte die Diebe jedoch nur mit 500 Dollar … und erlaubte der Stadt Seattle, den Pfahl zu behalten. 1938 fiel der Totempfahl einem Brandanschlag zum Opfer. Die Stücke, die nach dem Brand noch übrig blieben, wurden mit einem Auftrag zur Reproduktion zu den Tlingit nach Alaska verschifft. Die Nachkommen des originalen Totempfahls fertigten – diesmal gegen Bezahlung – einen neuen Pfahl an. Dieser steht noch heute auf dem Pioneer Square und dient als Symbol für das komplizierte Verhältnis zwischen Amerikanern europäischen Ursprungs und amerikanischen Ureinwohnern.

Die hübschen Gebäude stammen aus dem späten 19. Jahrhundert und sind dem neoromanischen Architekturstil Richardsonian Romanesque zuzuordnen, der wiederum im engeren Sinne auch zur Viktorianischen Architektur gehört.

<center>Richardsonian Romanesque</center>
Richardsonian Romanesque wurde nach dem Architekten Henry Hobson Richardson benannt, der Elemente der französischen, spanischen und italienischen Romanik des elften und zwölften Jahrhunderts in seine Werke einfließen ließ. Der Baustil wurde mit der Trinity Church in Boston geboren und weiter gen Westen getragen, bevor er zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausstarb. Die Gebäude sehen massiv, aber dennoch sehr malerisch aus, haben runde Fenster- und Türbogen. Speziell das Pioneer Building, ist beeindruckend. Links und rechts des vertieften Eingangs ziehen sich schwere Steinbrocken mit tiefen Fugen bis hinauf unters Dach. Rustizierung nennt man diese Bauweise, die stark an Mauern erinnert, wie ich sie aus ländlichen Regionen Spaniens kenne. Zieht man einen Stein aus den scheinbar auf gut Glück aufgehäuften Mauern heraus, muss man befürchten, dass die komplette Konstruktion in sich zusammenbricht. Das Dach scheint mir flach zu sein. Der Übergang von Wand zu Dach ist auch sehr spektakulär gestaltet: Der rote Stein der Wand geht in ein verziertes Blau über, welches sich weich, fast schon wie eine Manschette über die Kante des Hauses legt. Auf Ecken und Kanten wurde verzichtet, der Übergang zum Dach ist rund. Gleiches gilt auch für die Hausecke. Diese weist keinen harten Winkel auf, sondern überzeugt mit einem runden, blauen Erker und einer vertieften Tür mit Rundbogen in der Ecke, die somit keinen rechten Winkel, sondern zwei 45°-Winkel bildet.

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Ich betrete das rote Pioneer Building, in dem die Underground Tour heimisch ist. Rechts vor mir ist die Kasse. Ich zahle, bekomme ein Armbändchen und die Order, mich in den Raum nebenan zu setzen. Okay. Der Nachbarraum ist ein authentisch wirkender Saloon, der allerdings mit Kirchenbänken anstelle von Rundtischen und Stühlen ausgestattet ist. Mit mir sind circa 15 andere Tourgäste im Saloon. Unser Tourguide kommt und schnappt sich unnötigerweise ein Mikrofon. So groß ist der mit Holz verkleidete Raum nun auch wieder nicht.

<center>Bill Speidel’s Underground Tour</center>
Als Erstes stellt er uns jene Herren vor, deren gemalte Porträts an den Wänden hängen. Zunächst wäre da Bill Speidel (1912–1988): Zeitungsreporter, Denkmalschützer, Historiker und Gründer der Underground Tour. Er war einer derjenigen, die den Pioneer Square und seine nähere Umgebung als historische Altstadt vor Abrissen rettete. Im Zuge dieser Rettungskampagne gründete er bereits 1965 die Tour, an der ich nun teilnehme.

Bill war für seinen Humor bekannt, der offensichtlich auch heute noch den Tourguides eingeimpft wird: Der Mann mit dem Mikrofon ist einmal mehr ein sehr unterhaltsamer Entertainer, streut einen Witz nach dem anderen in seine Rede und strahlt eine positive Atmosphäre aus. Es macht also Spaß, dem Kollegen bei seiner Einführung zuzuhören.
Das nächste Gemälde zeigt Arthur Denny (1822–1899). Denny war einer der ersten Weißen, die ins heutige Seattle kamen. Seinerzeit wollte Amerika den Briten zuvorkommen und den Pazifischen Nordwesten möglichst schnell mit den eigenen Leuten besiedeln. Jene, die es in diese Regionen verschlug, durften sich kostenlos ihr Stück Land nehmen. So tat es auch der Klan der Dennys, als sie am 13. November 1851 am Alki Point ankamen. Dort, ganz im Westen der heutigen Stadt und gut sieben Kilometer Luftlinie vom zentral gelegenen Pioneer Square entfernt, ließen sie sich zunächst nieder. Laut unseres Tourguides schwor Arthur Denny sich selbst, auf der Halbinsel mit dem Bau einer Stadt zu beginnen. Er legte sich schlafen, wachte voller Tatendrang am nächsten Morgen auf … und musste feststellen, dass zwei Drittel seiner Halbinsel aufgrund des Tidenhubs unter Wasser stehen und die Verbindung zum Land gekappt ist. Er beschloss, an seinem Plan festzuhalten und die Insel, die er zurückhaltend Denny’s Island nannte, aufzuschütten.
»Sobald der Regen aufhört«, schwor er sich, wird er mit der Arbeit beginnen.
»He’s still waiting«, scherzt unser Mann am Mikro und setzt mit der frühen Historie Seattles fort, die an Skurrilität und Witz alles andere als arm ist: Der damals gerade einmal 29-jährige Arthur Denny hatte große Visionen, hatte aber nicht das Talent, sie umzusetzen. Besser darin war der Mann auf dem dritten Gemälde: der 14 Jahre ältere David Swinson Maynard (1808–1873), den alle nur »Doc« nannten. Beide sahen sich dazu bestimmt, eine Stadt am Puget Sound zu errichten. Speidel bezeichnete den Doc als Dennys Nemesis. Wo Denny verkrampft und sparsam war, war Maynard offen und großzügig. Doc Maynard hatte Humor, Denny nicht. Natürlich musste aus diesen Gegensätzen eine große Konkurrenz entstehen. Der Höhepunkt dieser Spannungen dürfte erreicht worden sein, als Denny an Malaria erkrankte und der Doc ihn rettete. Allerdings verwendete er hierfür Laudanum, also ein Mix aus Alkohol und Opium. Denny war dementsprechend weggetreten, was Maynard für sich ausnutzte und sich Land der Dennys, das eigentlich gar nicht zum Verkauf stand, unter den Nagel riss. Maynard war also besser darin, eine Stadt aufzubauen. Die mit Abstand allermeisten Geschäfte der Stadt lagen in Maynardtown, der Gegend rund um den heutigen Pioneer Square. Denny war dafür geschickt im Anhäufen von Reichtum. Allerdings war er nicht nur geschickt, sondern auch durchtrieben und schamlos. So rief er die erste Lotterie Seattles ins Leben. Die Bürger spielten fleißig mit und sorgten für einen dicken Jackpot. Der Tag der Ziehung kam und – oh, Wunder – ein gewisser Arthur Denny räumte den Jackpot ab. Glückwunsch! Denny schrieb außerdem die erste Historie der Stadt nieder. Diese wurde allerdings so verfasst, dass man Maynard, nach seinem Tod in recht kurzer Zeit schließlich vollkommen vergessen hatte. Erst Bill Speidel entdeckte den Doc wieder und schrieb ein Buch über ihn: »Doc Maynard: The Man Who Invented Seattle«.
Doch die lustige Geschichte der Stadt, die nicht die Hauptstadt Washingtons ist – das ist Olympia –, hat noch weitere hanebüchene Anekdoten auf Lager: Es regnet bekanntlich viel im hohen Norden. Außerdem ist Seattle eine Stadt, die auf steil abfallenden Hügeln angelegt wurde. Irgendwie musste man also dem rutschigen und tiefen Schlamm, der die Straßen ausmachte, Herr werden. Angeblich war der Schlamm tief genug, um Hunde und kleine Kinder zu verschlucken. Man möge sich nun vorstellen, wie die typische Kleinfamilie seinerzeit mit Hund und Kind einen abenteuerlichen Stadtspaziergang durch den Sumpf der Innenstadt erlebte … Herrlich. Ein Moorleichenmuseum hat Seattle meines Wissens nach übrigens nicht. Die grandiose Idee war schließlich, den Schlamm mit den Sägespänen der Henry Yesler Sägemühle zu bedecken. Yesler freute sich gleich doppelt. Schließlich wurde er durch den »Straßenbau« auch gleich seinen Müll los. Später wurde er zum Bürgermeister gewählt.
Eine neue Erfindung wurde 1851, also dem Jahr, in dem Arthur Denny zum Puget Sound kam, im Weißen Haus vorgestellt und sorgte schnell für Furore. Man nannte es »water closet« und auch die Bürger von Seattle verlangten danach. Einige Zeit später schwappte das Wasserklosett in den Pazifischen Nordwesten über. Die hölzernen Abflussrohre waren stets schön voll und die Geschäfte der Seattleites drückten sich durch dick und dünn in die Meerenge. Blöderweise hatte man sich aber beim Bau der Abwasserkanäle zu wenige oder gar keine Gedanken gemacht und abermals den Tidenhub vergessen. Sobald die Flut kam – was zweimal am Tag geschah – verwandelten sich Seattles Toiletten daher in sagenhafte Geysire. Heilige … Scheiße.
Und heute liegen 15 Touristen und ein Tourguide vor Lachen fast auf dem Boden. Schadenfreude gibt’s also auch in Amerika. Unser famoser Geschichtenerzähler kann aber noch nachlegen: Ein Überdenken des geschaffenen Abwassersystems war bereits in vollem Gange, eine Lösung aber noch nicht in Sicht. Was dann geschah, war … nennen wir es einfach mal Glück im Unglück: Der schwedische Zimmermannslehrling Jon Back ließ am 6. Juni 1889 – mittlerweile explodierten die Toiletten der Stadt seit acht Jahren – im Laden seines Chefs an der Ecke 1st Avenue und Madison Street Klebstoff überkochen. Der Spaß lief auf Holzstücke und setzte diese in Brand. Innerhalb kürzester Zeit breitete sich das Inferno aus und setzte die halbe Innenstadt in Flammen. Als Brandbeschleuniger dienten Seattles meisterlich angelegte Holzspänestraßen. Die Gebäude waren überdies ebenso hölzern. Der Chef der Feuerwehr war nicht in der Stadt und die unerfahrene freiwillige Feuerwehr hatte darüber hinaus mit dem Problem zu kämpfen, dass der Druck ihrer Schläuche nicht ausreichte, um irgendetwas zu löschen. Das lag aber vermutlich auch daran, dass sie es mit zu vielen Schläuchen gleichzeitig versuchten.
»Wir wohnen doch am Meer!«, dachten sich die Männer und brachten ihr Gerät zum Puget Sound, um diesen anzuzapfen. Die Meerenge spielte bei dem Plan aber auch nicht mit: Ebbe. Die Bewohner Seattles – offensichtlich mit einem köstlichen Humor gesegnet – lachten sich derweil über ihre firefighter schlapp, was die mutigen Mannen wiederum stinksauer machte und zu dem Entschluss kommen ließ: »Ach, leckt uns doch …«
Sie packten zusammen und zogen auf den nächstbesten Hügel. Von dort aus schaute man dann zu, wie die eigene Stadt romantisch um 31 Blocks verkohlt und verkleinert wurde. Es starb erstaunlicherweise kein einziger Mensch bei diesem Brand.
»Praktisch«, war der nächste Gedanke vieler Seattleites, »dann können wir ja diesmal ein Abwassersystem bauen, das mir nicht jeden Morgen die Zeitung aus der Hand reißt …«
Da die Bürger dieser lustigen Stadt das Feuer also recht schnell als ziemlich cool empfanden, haben sie es dann wohl auch »The Great Seattle Fire« genannt. Auch Historiker Bill Speidel sieht den großen Nutzen des Feuers und darin sogar den Beweis der Überlegenheit gegenüber dem popeligen Nachbarn aus Tacoma: »In a fire, timing is everything. If Tacoma had had a fire, they’d probably have goofed up the timing. As it was, ours was just right. It was big news all over the world. It brought in about 120.000 dollars in relief money and glory, because we were a brave little frontier town that had been wiped out and was manfully trying to rebuild itself.«
17.000 neue Bürger zogen im Zuge der Stadterneuerung nach Seattle. Dies stellte gleich einen doppelten Gewinn im Konkurrenzkampf mit Tacoma dar, schließlich konnte man mit einem Wisch auch 30 Jahre Fehlplanung und notwendige Restaurierungen tilgen.
Na, welch andere Stadt auf dieser Welt kann mit solch einer Geschichte mithalten? Weltklasse!
Während seiner historischen Schilderungen führt uns unser Guide in den Untergrund. Hierfür laufen wir einmal über den Pioneer Square und betreten ein unscheinbares Haus, welches den Zugang zur Unterwelt darstellt. Wir werden während der Tour noch ein weiteres Mal wieder an die Oberfläche kommen und andernorts durch eine unscheinbare Tür wieder in die vergessene Welt hinabsteigen. Diese Unterwelt entstand durch den Neuaufbau Seattles nach dem »Great Seattle Fire«. Man beschloss damals, die komplette Stadt ein bis zwei Stockwerke höher anzusetzen, womit man unterirdisch ein anständiges Abwassersystem schaffen und den Pioneer Square vor den ständigen Überflutungen schützen könnte. Die Fundamente sind ja bereits oder noch vorhanden und man spart sich überdies den Stress, das ganze Gerümpel erst mal wegzuschaffen. Und so kam es dann auch tatsächlich. Seattle wurde also auf seinen Grundmauern wieder neu aufgebaut. Diesmal allerdings aus Stein und eben eine bis zwei Etagen höher. Geht man nun in den Untergrund, läuft man wahrhaftig durch eine von der Straße überdachte Geisterstadt aus dem 19. Jahrhundert. Das ist ziemlich absurd. Manche Geschäfte nutzen diese unterirdischen Ruinen, Fundamente oder wie auch immer man es nennen mag, zur Lagerung ihrer Produkte. Andere unterirdische Gänge sind bis heute unerschlossen, wogegen sich Bill Speidel’s Underground Tour einsetzt. So wie die Berliner Unterwelten versucht man, immer neue Touren anbieten zu können, neue Gänge zu erschließen.

Und es gibt noch eine herrliche Geschichte aus der Historie dieser Stadt: Wie man sich vorstellen kann, geht das Aufstocken einer kompletten Stadt um drei bis neun Meter nicht allzu schnell vonstatten. Um Seattle am Leben zu erhalten, mussten die Geschäfte weitergehen. Die Läden befanden sich nach wie vor im Erdgeschoss an den alten »Holzspänestraßen«. Die Hauseigentümer begannen schon mit dem Aufbau neuer Etagen, bevor die Erhöhung des Straßenniveaus abgeschlossen war. Vor den Geschäften wurden Wände gebaut, da diese Geschosse nach dem Aufstocken zum Keller wurden. Solange die Händler noch nicht in höhere Etagen umziehen konnten, mussten die Kunden also irgendwie zu ihnen hinunterkommen. Deswegen wurden an jeder Kreuzung Leitern aufgestellt – die bis zu acht Meter hoch waren. Wollte Mutti also den Einkauf erledigen, kletterte sie mit ihrem Körbchen unterm Arm fleißig Leiter hoch und Leiter runter. Und wenn Vati sich in der Kneipe die Kante gab, musste er betrunken wieder nach oben klettern … und wieder nach unten, nach oben, nach unten, nach oben … bis er endlich zu Hause ankam. Wenn er es denn schaffte: Denn, was das Feuer nicht schaffte, bekam die Stadterneuerung hin. Mehrere Menschen – zumeist Betrunkene – stürzten während dieser Zeit in den Tod.
Nicht jedes Haus war den Flammen zum Opfer gefallen, aber nicht jeder Ladenbesitzer war auch der Besitzer der Immobilie. Einige Hausbesitzer beschlossen nach der Aufstockung der Straßen und Gebäude, das »neue Erdgeschoss« selbst zu nutzen, wodurch viele Geschäftsleute notgedrungen mit dem Kellergeschoss vorliebnehmen mussten. Daher versah man die neuen Gehsteige hier und da auch mit Glasbausteinen, die sich im Laufe der Jahre zumeist ins Violette verfärbten. Durch diese, noch heute vorhandenen Gläser fällt am Tage Licht auf die heute vergessenen, unterirdischen Straßen Seattles, die noch lange von verschiedenen Menschen genutzt wurden. Während der Prohibition versteckten sich hier beispielsweise einige Speakeasys – die illegalen Kneipen, in denen man trotz des Verbots Alkohol verkaufte. Es wurde verbotenerweise Glücksspiel betrieben, Opiumhöhlen wurden eingerichtet und jene, die keine feste Bleibe hatten, fanden in den unterirdischen Gängen Obdach. Viele Menschen, die über diese Glasbausteine laufen, wissen vermutlich nicht, über was für eine historische Besonderheit sie da gerade spazieren.
Die Tour, die ich wirklich sehr empfehlen kann, endet im Souvenirladen der Underground Tour. Obwohl die Toilette auf Kellerniveau ist, habe ich keine Angst sie zu nutzen. Es passiert nichts, ich bedanke und verabschiede mich.

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Nun heißt es, eine anständige Kneipe finden und auf Leo warten. An der Ecke 1st und Columbia befindet sich der Irish Pub Fadó. Passt. Ich bestelle mir ein Bier und setze mich an einen freien Tisch. Plötzlich stürmt die Feuerwehr in den Laden. Äh? Toilette explodiert? Brennender Klebstoff? Gefahr? An der Grundstimmung im Laden ändert sich rein gar nichts. Die Musik läuft weiter, die Getränke werden fleißig ausgeschenkt. Was ist passiert? Ich strecke mich ein wenig und blicke in den Nachbarraum, dessen große Tür sperrangelweit geöffnet ist. Auf dem Boden liegt ein älterer Herr, der vermutlich eine Herzattacke erlitten hat. Shit. Jetzt wundere ich mich doch sehr darüber, dass nicht wenigstens die laute Musik mal abgestellt oder zumindest leiser gedreht wird. Ich weiß zwar glücklicherweise nicht, wie sich solch ein Anfall anfühlt, aber ich stelle es mir ziemlich ätzend vor, so auf dem Boden zu liegen und dabei noch von lauter Musik zugedröhnt zu werden. Die Feuerwehr legt den Mann auf die Bare, jeder schnappt sich ein Bier und schon singt die komplette Bar »Auld Lang Syne«. Der Mann mit der Herzattacke richtet sich ein letztes Mal auf, rülpst: »Guinness!«, in die Runde und bricht unter dem tosenden Beifall aller Beteiligten tot in sich zusammen. Die Amis und ihr Entertainment. Großartig.
Leo reißt mich aus meinen etwas verwirrenden Tagträumen. Ein Glück, heute ist er wieder gut gelaunt oder will es wenigstens sein. Scheiß auf die blöde Arbeit, heute wird noch mal ordentlich Abschied gefeiert!
… Und das machen wir woanders, lässt mich Leo wissen. Oha. Na, dann mal hinterher. Leo entführt mich ins Cowgirls Inc. an der Ecke 1st Avenue und King Street. Entweder geht mir noch zu viel anderer Kram im Kopf herum oder ich bin manchmal einfach süß naiv – oder eben »innocent«, wie ein Mann mit Donnerglocken einst behauptete. Zumindest frage ich Leo, weshalb der Tresen im Cowgirls Inc. – hallo, Dennis!? – so breit ist. Klopf, klopf, jemand zu Hause?
»Well, the girls dance on it«, bekomme ich die eigentlich unnötige Erklärung. Ja, jetzt fällt’s mir auch auf. Die sind auch – obwohl die Heizung offensichtlich nicht eingeschaltet ist – ziemlich spärlich bekleidet. Dass wir heute noch eine Tresentanzshow zu sehen bekommen, wage ich aber zu bezweifeln, da außer uns kaum einer hier ist. Die Bar bezeichnet sich selbst als »American Saloon«. Der Fußboden ist aus Holz und überall liegen Nussschalen herum, die die Gäste auf den Boden fallen lassen. Einen mechanischen Bullen hat der Saloon auch. Da aber wie gesagt das Publikum noch fehlt, reitet niemand darauf.
Bei einer Kippenpause im Freien stößt ein Kerl zu uns, der uns freudig wissen lässt, dass er bald von einem Hirntumor hingerafft wird. Aha. Er ist etwas jünger als wir und hat keine Chance zu überleben. Findet er aber halb so wild. Schließlich kann er jetzt das letzte bisschen Leben, das er noch hat, in vollen Zügen genießen.
»So, what are you doing?«, frage ich interessiert.
»Well …«
Ich frage mich, was ich wohl machen würde, wenn ich als junger Kerl wüsste, dass meine Uhr schon so gut wie abgelaufen ist. Bei Freunden und Familie bleiben? Reisen? Eine Bank überfallen oder mit Mr. White das beste Crystal Meth der Welt kochen? Es ist wirklich merkwürdig, sich mit dem Todgeweihten zu unterhalten. Er bleibt durchweg gut gelaunt und hängt auch in der Bar noch weiter mit Leo und mir ab.
Mir fällt auf einmal ein, dass ich komplett vergessen habe, mich noch einmal bei Cari zu melden.
»Do we already have any plans for tomorrow night?«, fragt das Partytier nach. Le Partytier, c’est moi. Cari weiß von einer Party, wäre aber für epischere Dinge zu haben. Episch? Na, da fällt mir nur eins ein: »What better place than a vegan strip club to die during the apocalypse? Just kidding. But I think that I should really check it out before leaving.«
Es kommt keine Antwort. Also schreibe ich noch mal: »Do we want to go there together in the afternoon? No ideas for the night yet …«
Habe ich da jetzt etwas zerstört? Bin ich unten durch? Werde ich Weihnachten wider Erwarten nun doch alleine verbringen müssen? Mein Handy vibriert: »Let's do it!«
Na, das ist ja mal cool.
»Yeah! I'll show you my bare butt 'n' boobs to pay the favor. Lap dance might also be included. Do you think they let me dance at the pole? I'm a vegan!«
»Alriiiiight. No harm in asking!«
»Feels like I wrote a biiig mistake …«
»Not at all. You owe me a lap dance.«
»I might!«
»You so will.«
Wie komme ich aus der Nummer nur wieder raus?
»Crazy Seattleites don't heat their bars! I wanted to get naked and train for the lap dance, but decided that it is too cold.«
Die Bar ist wirklich schweinekalt.
»You're just scared …«
»Yes.«
»It's cool, I'm scared, too.«
»Well … Fuck you! :)«
»Man, if you could receive pictures … I was just going to send a ›fuck you, too‹ photo or something.«
»… And you don't dare, wimp?«
Sie könnte ihr Foto schließlich Leo schicken. Die Nummer hat sie bereits von mir bekommen.
»It's been to long since I first had the urge.«
Oha, ein Schreibfehler: » You have to write ›to‹ with two ›o‹, you native English speaker.«
»I hav 2 do nuthing.«
Touché. Sie hat’s einfach drauf …
Jetzt fangen auf einmal die Barkeeperinnen an, auf dem Tresen zu tanzen. Was für ein Timing. Während des Tanzens begutachten sie sich selbst im ewig langen Spiegel gegenüber der Bar und hängen ihre Hände in Schlaufen, die über dem Tresen hängen. Damit können sie noch viel verrücktere Kunststückchen machen. Die Damen sind übrigens nicht nackt, sondern nur bauchfrei.
Leo hat seinen Wagen im Parkhaus an der Ecke 1st und Columbia abgestellt. Als wir es erreichen, finden wir es geschlossen vor. Ähm …? Nach einem kurzen Moment der Stille breche ich das Schweigen, indem ich ein Schild vorlese: »We close at 11 p.m. – Sharp!«
Leo kann es nicht fassen und ich bin mal wieder irgendwo zwischen heiterem Amüsement und großer Irritation. Nachdem Leo sich ein wenig ausgeflucht hat und wir beide keinen Plan entwickeln konnten, ins Parkhaus einzusteigen und von innen zu öffnen, beschließt Leo, seine Mutter anzurufen.
»Are you sure?«, frage ich und denke mir dabei, dass wir doch auch mit dem Bus wieder zurückfahren könnten. Leo wählt bereits und beauftragt Ivanka mit der spätnächtlichen Abholaktion. Ohne Murren schwingt sich Leos sympathische Mama ins Auto. Wir haben jetzt aber noch eine gute halbe Stunde in der Kälte zu warten. Ford ruft an! Er erzählt wieder von irgendwelchen Erlebnissen aus L.A. und meint, dass ich es mir wohl abschminken kann, mit Cari im Bordello unterzukommen. Hm, dachte ich mir schon fast.
Ivanka kommt an und ist herzlich und süß wie immer. Sie hat einen ihrer Hunde dabei. Habe ich schon erwähnt, dass sie Hundezüchterin ist? Das Hündchen ist ein lustig hässliches, kleines Vieh, das auf wackeligen Beinen neben mir auf der Rückbank Platz nimmt. Leo stimmt mich darauf ein, dass wir wegen des fehlenden Autos morgen früher raus müssen. Er ächzt und ich denke mir, dass das gar nicht so schlecht ist. Schließlich habe ich dadurch noch ein wenig mehr Zeit in Seattle. Allerdings habe ich noch keine Ahnung, was ich mit der Zeit anfangen kann …

Video
Abschließend noch eines der besten Lieder aller Zeiten von einer der besten Platten aller Zeiten:

RIP Kurt.

Quellen
Informationen zur Virginia V: virginiav.org
Informationen zum Center for Wooden Boats: cwb.org
Informationen zur Plastik von Chief Si’ahl: seattle.gov
Quelle für meine Klugscheißereien bezüglich der Sprachen und Herkünfte der amerikanischen Ureinwohner: Wikipedia
Infos zu Trimpin, Bellevue, Ride the Ducks, zum Pioneer Square und der Richardsonian Romanesque: Wikipedia
Quelle für Infos zu meinem immensen Wissen, das ich über die Ausstellungen im EMP losgelassen habe: EMP feat. my brain
Informationen zum Tlingit Totempfahl: www.historylink.org und nps.gov
Informationen zur Geschichte und historischen Persönlichkeiten Seattles: undergroundtour.com, Wikipedia und das, was ich während der Führung erfahren habe
 
Anmerkung:
Der ein oder andere mag den ein oder anderen englischen Satz nicht verstanden haben oder zuordnen können. Das sind Nirvana-Textzeilen aus folgenden Liedern: »Smells Like Teen Spirit«, »In Bloom«, »Territorial Pissings« und »Stay Away«

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Inge
Inge
11 Jahre zuvor

Ein wirklich toller Tag! Sehr interessanter Bericht! Wunderschöne Fotos!
Ich freue mich inzwischen riesig auf unsere Reise nach Seattle im September!!!
Außerdem bestätige ich Dir hier und heute, dass Dein Gitarrenunterricht rausgeschmissenes Geld war.
Ich finde es auch sehr schade, dass das mit dem Fußballprofi nicht geklappt hat.
Sebastian Schweinsteiger zum Beispiel verdient fürs Kicken € 1.158.333 im Monat, konnte man heute in der Presse lesen.

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