Tag 42: Weltuntergang im Haus des Teufels

Serendipity – Teil 1

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Freitag, 21. Dezember 2012
SeaTac – Seattle – Portland

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Heute ist die Apokalypse … und der Morgen startet früh. Um kurz nach sieben verlassen wir Leos Wohnung in SeaTac. Glücklicherweise müssen wir doch nicht mit dem Bus fahren. Ivanka sammelt uns ein und fährt uns zum Parkhaus in der 1st Avenue. Leo arbeitet im Bezirk East Lake, der das Ostufer des Lake Union bildet. Er zeigt mir noch schnell, wo er in seinen Mittagspausen entspannt: der kleine Lynn Street Park, der eigentlich nur aus einer kleinen betonierten Kaimauer und einer mit Mosaiken bestückten Steinbank besteht. Von hier aus hat man einen netten Blick auf die Westseite des Lake Union. Wir trinken noch einen Kaffee bei Starbucks, bevor wir uns an die Verabschiedung machen. Verabschiedungen sind immer blöd. Speziell, wenn man weiß, dass das nächste Wiedersehen eine Zeit lang auf sich warten lassen dürfte. Es war toll, Leo in seinem »Leben nach Deutschland« besuchen zu können.
Leo musste neben seiner üblichen Arbeit zusätzlich noch die Aufgaben der kürzlich verstorbenen Kollegin übernehmen, was – man kann es sich denken – nicht nur ziemlich nervig ist, sondern auch nicht das leichteste Vorhaben darstellt und zusätzliche Arbeitsstunden bedeutet. Trotz der dadurch begrenzten Zeit, die wir miteinander verbringen konnten, der arbeitsbedingten Anspannung und den Schicksalsschlägen der letzten Jahre, tat es einfach gut, zu sehen, dass er und seine Mutter sich in Seattle wohlfühlen und ihr Leben leben.

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Ein vorerst letztes Mal umarmen wir uns vor dem Gebäude, in dem er arbeitet. Dann schleppe ich meinen Rucksack in Richtung Downtown. Da ich genügend Zeit habe, beschließe ich, den weiten Weg zu Fuß zu meistern. Ich habe von Seattle leider nicht alles gesehen – um genau zu sein, fehlen mir ganze Bezirke, die interessant gewesen wären. Für Neuerkundungen bleibt dann aber doch zu wenig Zeit. Mein Bus fährt um halb eins ab. Jetzt ist es kurz nach neun. Ich laufe die Eastlake Avenue bis zur Cancer Care Alliance an der Ecke Aloha Street. »Aloha« klingt sympathisch, also geht’s da rein. Zuvor begleitete mich die Brücke der Interstate 5 für einige Blocks. Autobahnen, die sich (zu großen Teilen auf Brücken) quer durch Städte ziehen, finde ich nach wie vor schräg. In Berlin planen sie ja auch so einen Quatsch. Gute Nacht Neukölln, Treptow und Friedrichshain.
Ich schlendere durch South Lake Union und trinke einen weiteren Kaffee. Den muss ich mir blöderweise gönnen, weil der Kaffee, den ich mit Leo zuvor getrunken habe, schön auf den Darm drückt – wie das so ein Morgenkaffee eben macht. Also kurze Toilettenpause, noch einen Kaffee und schon wird weitergeflitzt.

<center>Westin Seattle</center>
Zwischen der 5th und 6th Avenue und der Virginia und Stewart Street ragen die runden Zwillingstürme des Westin Seattle, einem Hotel, in die Höhe. So ganz identisch sind die Türme aber nicht: Der 1969 erbaute Südturm ist 121 Meter hoch, wohingegen der 1982 fertiggestellte Nordturm ganze 137 Meter misst und somit der höchste Hotelturm der Stadt ist. Kenner guter Musik können zudem feststellen, dass die beiden Türme das Cover des Modest-Mouse-Albums »The Lonesome Crowded West« zieren.

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Gegen zehn Uhr habe ich den Pike Place Market erreicht. Ich habe Mittagessenshunger und denke, dass ich im Markt schon was finden werde. Fündig werde ich nicht, stelle aber fest, dass ich einen kompletten Teil des doppelstöckigen Marktes noch gar nicht erkundet habe. Dieser Teil ist nicht von Ständen zugebaut, sondern beherbergt feste Geschäfte, eine Mikrobrauerei und wenige Restaurants.
Vor drei Tagen habe ich ja bereits von der beeindruckenden Fassade der Central Library berichtet, die sich zu den 150 schönsten Bauwerken der USA zählen lässt. Leo hat mir empfohlen, die Bibliothek von innen zu besichtigen. Im obersten Stockwerk soll man eine schöne Aussicht haben – dazu noch kostenlos. Also laufe ich wieder zum Gebäude an der Ecke 5th und Madison.
Die interessante Architektur setzt sich im Inneren fort. Aufgrund der gläsernen Fassade ist das Gebäude lichtdurchflutet – so lichtdurchflutet, wie es der ewig bewölkte Himmel über Seattle zulässt. Im Prinzip ist das komplette Gebäude stockwerksübergreifend ein einziger Raum. Es gibt lediglich Trennwände und in der Mitte den Aufzugs- und Treppenblock. Die Rolltreppen sind die schmalsten, die mir je untergekommen sind. Nebeneinanderstehen oder sich an jemandem vorbeidrücken ist unmöglich. Zudem sind die Treppen sehr lang und werden von grünem Licht, das aus den Begrenzungswänden kommt, beleuchtet. Um ganz nach oben zu kommen, muss man die einzelnen Rolltreppen ein wenig suchen. Es ist nicht so wie in Kaufhäusern, dass man einfach das nächste Rollband besteigt oder einmal durch die Abteilung auf die gegenüberliegende Seite schlendert. Ganz oben angekommen hätte man tatsächlich einen netten Ausblick über Seattles Downtown, wenn einem die wabenförmigen Streben der Außenverkleidung keinen Strich durch die Rechnung machen würden. Somit ist der Blick innerhalb des Gebäudes, also direkt nach unten, schon interessanter. Durch das ständige Treppenwechseln ist es auch gar nicht so leicht nachzuvollziehen, ob ich in dieser oder jener Etage an der Ecke vorbeigekommen bin, die ich nun vom Ausguck aus sehe. Es ist ein kleines, offen wirkendes Labyrinth. Irritierend – und schwer zu fotografieren.

Ich bin vom langen Marsch mit dem Rucksack tatsächlich ein wenig ausgelaugt. Immerhin begann mein Morgen mit einem gut und gerne sechs bis sieben Kilometer langen Marsch mit voll bepacktem Rucksack. Gegessen habe ich noch immer nichts, dafür zwei amerikanische Kaffees getrunken. Normalerweise werde ich von Kaffee – so seltsam das auch klingen mag – eher müde. Seitdem ich in Amerika nun zum nahezu regelmäßigen Kaffeetrinker avanciert bin, macht auch mich die schwarze Brühe wach. Ich mache eine kleine Verschnaufpause in der Lobby, bevor ich mich zum International District bewege. In gut eineinhalb Stunden fährt mein Bus ab und ich habe einen Bärenhunger. Ich weiß nicht mehr, woher der Tipp kam, aber auch auf meinem Stadtplan ist der Uwajimaya Asian Grocery & Gift Market als Sehenswürdigkeit eingetragen.

<center>Die Moriguchis – Chronik einer japanischen Familie in den USA</center>
1928 gründete ein japanischer Händler in Tacoma den mittlerweile zu einer Supermarktkette angewachsenen Uwajimaya Market. Fujimatsu Moriguchi verkaufte seinerzeit seine Lebensmittel von der Ladefläche eines Trucks. Jetzt ist der Hauptmarkt auch als Uwajimaya Village bekannt.
Der Weg des Herrn Moriguchi war nicht leicht. Mir war es vor meiner Reise nach Amerika nicht bekannt, aber die Amerikaner hatten während des Zweiten Weltkriegs tatsächlich Konzentrationslager, in die die japanischen Bürger der Westküste interniert wurden. Mehr als 120.000 Japaner, wovon 62 % den amerikanischen Pass besaßen, wurden zwangsweise umgesiedelt. Knapp 10.000 konnten sich einen neuen Wohnort abseits der Westküste selbst bestimmen, wobei gut 116.000 Menschen in die zehn, innerhalb von neun Monaten errichteten War Relocation Centers, also »Kriegsumzugszentren« gebracht wurden und bis 1945 dort leben mussten. Die Begründung für diese Tat ist natürlich im Angriff auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 zu finden. Nachgewiesenerweise grassierte der Rassismus. Japaner und Amerikaner japanischen Ursprungs wurden diskriminiert, mussten mit Einschränkungen leben und wurden als Sicherheitsrisiko eingestuft. Später wurden übrigens auch viele Deutsche und Italiener als »Enemy Aliens«, feindliche Ausländer in derartige Lager gebracht. Gänzlich entschädigt wurden die Betroffenen nicht. In den 60ern kam erste laute Kritik auf, die schließlich dazu führte, dass man sich in den 80ern wissenschaftlich mit der Causa beschäftigte. Das Ergebnis der Untersuchungen förderte zutage, dass die Aktion keine militärische Notwendigkeit darstellte, sondern vielmehr »race prejudice, war hysteria and a failure of political leadership« als Ursache hatte. Die noch lebenden Betroffenen wurden mit 20.000 Dollar entschädigt. Später entschuldigte sich George H. W. Bush für diese Verbrechen.
Fujimatsu Moriguchi und seine Familie kamen 1942 ins Tule Lake War Relocation Center, das ein Jahr später in Tule Lake Segregation Center umbenannt wurde – aus »Umsiedlung« wurde »Trennung«. Die Umbenennung dieses – und nur dieses Lagers – hatte einen bestimmten Grund: Im Lager gab es den berüchtigten Block 42, in den all jene Inhaftierten kamen, die nicht nur als »Enemy Alien«, sondern auch als »bad and disloyal« eingestuft wurden. Diese wurden am Tule Lake sogar teilweise abgeschoben. Das Tule Lake Segregation Center hatte die meisten Internierten und schloss auch erst im März 1946.
Als die Moriguchis wieder freigelassen wurden, siedelten sie nach Seattle; dorthin, wo vor dem Krieg noch Japantown war. Der Aufstieg des Familienunternehmens kam – wie so unglaublich vieles in dieser Stadt – mit der Weltausstellung 1962. Es war aber auch ein trauriges Jahr für die Moriguchis, da das Familienoberhaupt im Sommer desselben Jahres verstarb. Seine vier Söhne übernahmen den Betrieb und bis zu ihrem Tod im November 2000 übernahm Witwe Sadako als Matriarchin das Familienzepter. Gemeinsam schafften sie es, den Boom der Weltausstellung auch in die Folgezeit zu retten. Das Sortiment wurde größer und internationaler und auch die Klientel bestand schnell nicht mehr nur noch aus Japanern. 1970 zog das Familienunternehmen zwei Blocks weiter und wurde zum größten japanischen Supermarkt des Pazifischen Nordwesten. Im November 2000 fand man im Block zwischen der Weller und Dearborn Street und der 5th und 6th Avenue schließlich den heutigen Standort. Auf über 6000 m² werden nun Lebensmittel, Geschenkartikel, Bücher und vieles mehr verkauft. Einen Food Court gibt es auch und über dem riesigen Laden vermieten die Moriguchis mittlerweile 176 Apartments.

All das weiß ich natürlich noch nicht, als ich auf einmal auf einem großen Parkplatz und dem flächenmäßig genauso großen Asiamarkt stehe. Wow. Ich habe so einen Kohldampf! Im Pike Place Market hatte ich das Problem, nichts zu finden, was mich sonderlich glücklich gemacht hätte. Nun aber stehe ich vor dem Dilemma, eine viel zu große Auswahl zu haben! Falls ich mal in den zweifelhaften Genuss einer Henkersmahlzeit kommen sollte, muss der Koch Asiate sein. So viel steht schon mal fest. Ich irre also wie ein in der Wüste Verirrter durch meine reale Fata Morgana und kann mich nicht entscheiden. Ich staple Algensalate und frisches Avocadosushi auf Gemüsemischungen und … gibt’s hier überhaupt einen Deli mit Mikrowelle für das Gemüse? Halleluja! Eine Ecke weiter stehe ich mit meinem in Plastik gestapeltem Essen vor dem Eingang zum Food Court. Da ist ein Deli ja ein Scheißdreck dagegen! Ich sortiere das Aussortierte wieder ein und flitze mit einer Flasche Orangina zur Kasse, die mich direkt in den Food Court entlassen wird. Essen, ich komme! Als ich einmal mehr ratlos überfordert vor den verschiedenen Imbissen stehe, wäre mir ein Deli mit Mikrowelle doch lieber. Erfreulicherweise wird meine Auswahl aber doch noch brutal zusammengestutzt: Die Wenigsten verkaufen vegetarisches oder gar veganes Essen. Schweinerei. Die Zeit bis zur Abfahrt des Busses schwindet langsam aber sicher, weshalb ich mich an einem Tresen, an dem das Essen gut aussieht, einfach für irgendetwas Veganes entscheide. Als ich das Essen bekomme, bin ich dann aber doch enttäuscht. Auf dem Bild sah es komplett anders, vor allen Dingen größer aus. Was soll’s. Es schmeckt und ich bekomme endlich etwas in den Magen. Nach dem Essen entschwinde ich noch schnell auf den von der Security vor nicht konsumierenden Fremdpinklern beschützten Topf und schon geht’s los in Richtung Portland und Cari. Bye-bye Seattle! Schön war’s! Noch schöner wäre es ohne den vielen Regen gewesen …


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»When are you coming in, long lost Dennis?«
Ich teile Cari mit, dass mein Bus gegen 16 Uhr plus/minus 30 Minuten ankommen dürfte. Sie schreibt mir daraufhin, dass ihr Computer nicht lädt und – ich zitiere –: »Using couchsurfing from my phone annoys the fuck out of me every time!«
Köstlich. Ich kündige an, dass wir mein Notebook benutzen können und sie verspricht, mich am Bus abzuholen. Na, das ist doch mal ein Service.
Ich will eigentlich schreiben und die Landschaft sehen, meine Augen wollen aber offensichtlich mal eine Pause. Als ich wach werde, passieren wir eine Stadt. Sieht schön aus. Ob das Olympia ist? Auf dem Hinweg habe ich Olympia verschlafen oder wegen des Schreibens und der Dunkelheit nicht gesehen. Auf einmal biegt der Bus ab. Hä? Hält der BoltBus auch in Olympia? Ich bin neugierig und schalte meinen Computer an. Liegt Olympia überhaupt auf dem direkten Weg von Seattle nach Portland? Während ich doof vor der Mattscheibe sitze, bemerke ich nicht, dass die schöne fremde Stadt, deren Downtown wir mittlerweile durchqueren, Portland ist.
»Oops! Arrived!«, informiere ich Cari. Sie ist glücklicherweise direkt um die Ecke. Keine drei Minuten später haben wir uns gefunden, umarmen und küssen uns. Sie hat mir durchaus gefehlt …
Ich will essen. Da in Oregon jedes Etablissement, das Alkohol verkauft auch Essen anbieten muss, schlage ich vor, dass wir schnellstens zum Strip Club fahren. Cari ist da anderer Meinung und erinnert mich daran, dass ich schon einmal einen kompletten Tag das Essen vergessen habe. Da halte ich die ein, zwei Stunden also auch noch aus. Quälerei. Caris Plan sieht vor, dass wir zum Postamt gehen und dort ihre neuen Food Stamps abholen. Trotz ihres Smartphones finden wir die Post nicht auf Anhieb. Ich wollte ja in die andere Richtung, aber nein … Als wir in der Schlange stehen, unterhalten wir uns nicht gerade leise über die unterschiedlichsten Dinge: Schläft Melissa immer noch mit Brendan, obwohl sie nichts von ihm, sondern viel lieber etwas vom bereits oder noch vergebenen Noah will? Hat Joshua weiterhin versucht Cari ins Bett zu kriegen oder sie am Ende gar vergewaltigt? Wie ist das Gras in Washington? Und so weiter … Ist vermutlich wieder so ein Competition-Ding zwischen uns: Wer wechselt zuerst das Thema, weil er die Blicke der anderen Wartenden aus Scham nicht länger aushält? Tja, wir sind beide gleich krass, wie es scheint.
Nach ewiger Warterei – da unterscheiden sich deutsche Postämter also mal so rein gar nicht von amerikanischen – erfahren wir, dass Caris Food Stamps natürlich noch nicht da sind. Großartig.
»Strip Club! Strip Club!«, feuere ich Cari lautstark an, als wir das Postamt wieder verlassen – und auf ewig verstörte Menschen zurücklassen.
Das Casa Diablo liegt am Arsch der Welt. Wir fahren mit der Linie 77 bis zur NW Nicolai und NW Vaughn. Von dort aus müssen wir noch etwas mehr als einen Kilometer laufen. Wir sind in einem Industriegebiet. Hier ist nichts, teilweise noch nicht einmal ein anständiger Bürgersteig. Wir spazieren genau an der Grenze zum Forest Park entlang. Forest Park ist mit über zwei Hektar der größte Wildnispark innerhalb einer Stadt in den gesamten USA. 1948 geschah übrigens etwas äußerst Skurriles und seither hat Portland auch den bis heute kleinsten Park der Welt.

<center>Mill Ends Park, <em>oder:</em> Dick Fagan und sein Pumuckl</center>
Der Mill Ends Park liegt an der Kreuzung SW Naito Parkway und SW Taylor. Eigentlich sollte an der Stelle mal eine Straßenlaterne errichtet werden. Aus irgendwelchen Gründen kam der Mast nie an und Unkraut begann aus dem Loch zu sprießen. Dick Fagan, ein Kolumnist des Oregon Journals, sah aus seinem Bürofenster und entdeckte einen Kobold im Loch wühlen. Er rannte auf die Straße und schnappte sich den Gnom. Dieser gewährte ihm daraufhin einen Wunsch. Fagan überlegte nicht lange und wünschte sich einen eigenen Park. Nicht lange genug nachgedacht möchte man meinen, denn der Kobold, ein gewisser Patrick O’Toole, machte aus dem Straßenlaternenloch Fagans ganz persönlichen Park – und der misst ganze 0,292 m². Lange musste sich Dick Fagan aber nicht ärgern. Patrick O’Toole und er wurden offensichtlich Freunde, zumindest unterstützte der Kobold den Kolumnisten zukünftig bei seinen Texten. Wie das mit Kobolden so ist, kann natürlich nur Dick Fagan den Pumuckl sehen. Am St. Patrick’s Day 1948 wurde Dick Fagans Mill Ends Park zur einzigen Koboldkolonie westlich von Irland ernannt. Verrückt.

Gegen halb sechs erreichen wir das Casa Diablo, the vegan strip club. Halb sechs klingt noch nicht wirklich spät, da es aber bereits dunkel ist, fühle ich mich durchaus schon ganz schön verrucht. Der Nackedeiladen sieht von außen eher wie das Vereinsheim von Grün-Weiß Wendelsheim aus. Aus Spanplatten hat man eine Hochterrasse gebaut, die von der Straße aus vielmehr nach Spießertum als nach dem Haus des Teufels aussieht. Ein sehr billiges Schild auf dem Dach präsentiert den Namen und die Webanschrift des Etablissements. Sogar einen Jägerzaun gibt es. An der Straße schwebt in einiger Höhe das einzige beleuchtete Schild, das mit »Nude Dancers« wirbt. Wo ist der Prunk, das amerikanisch Überzogene? Keine Flammen, noch nicht mal bunte Lichter, keine laut dröhnende Musik, keine Kolonne an Harley Davidsons, keine LED, keine Messerstechereien vor dem Laden und kein Cheech Marin, der lauthals: »All right, pussy, pussy, pussy! Come on in pussy lovers!«, grölt. Na, vielleicht ist der Laden ja wenigstens einer von Fantastic Mr. Fox’ Lay Points und die Aliens holen uns ab, wenn die Welt zusammenbricht. Oder Satan persönlich bereitet uns den Lapdance des Todes. Außerdem sollte man die amerikanischen Hillbillyhorrorfilmchen nicht vergessen. Je unschuldiger und hinterwäldlerischer ein Haus in Amerika wirkt, desto größer ist die Gefahr, dass dort Muttertag blutig zelebriert wird oder der Monster Man seinen Truck des Todes hinterm Schuppen stehen hat. Ich bin mental also voll und ganz vorbereitet.

Die Fußballer von Grün-Weiß Wendelsheim stehen vor der Tür und rauchen eine Zigarette. Also, ganz normale Typen, keine bösen Jungs und noch immer kein schmieriger Vampir, der von: »white pussy, black pussy, Spanish pussy, yellow pussy, hot pussy, cold pussy und wet pussy«, schwadroniert. Cari wird nicht angemacht, keine sexistischen Sprüche werden gerissen, nichts passiert. Wir betreten den Strip Club und stellen fest, dass der Eingangsbereich noch immer nicht sittenlos daherkommt. Der freundliche Türsteher wundert sich weder über meinen Rucksack noch über die Kamera, die mir um den Hals hängt. Die Krönung des Ganzen ist, dass wir nicht mal Eintritt zahlen müssen! Der Herr am Einlass begrüßt uns auf sympathische Weise und zeigt uns, wo wir beispielsweise die Toiletten finden. Teuflisch. Das Innere des Casa Diablo ist so bieder wie seine Fassade. Wäre da nicht der große Table in der Mitte und das rote Licht, könnte man hier problemlos Omas Achtzigsten feiern. Das größte Stück Wand ist gemauert und mit halbrunden Tür- und Fensteraussparungen versehen. Der Tanztisch ist aus Holz. Es gibt zwei poles, also Stangen, die – wie üblich – sowohl im Tanztisch als auch in der Decke verankert sind. Viel ist nicht los, aber es ist ja auch noch früh am Tag. Eine Stripperin kommt lächelnd auf uns zu und stellt sich als Nebula vor.
»That’s a beautiful name«, bemerkt Cari. »I like your hat.«
Nebula trägt eine lila Weihnachtsmannmütze, bedankt sich für Caris Komplimente und ist wegen meines riesigen Rucksacks leicht verwirrt.
»We came by bus«, erklärt Cari. Die Stripperin ist über diese Erklärung sichtlich verwundert und ich wiederum wegen Caris Humor köstlich amüsiert. Nebula verspricht uns, später noch einmal zu uns zu kommen und uns einen Lapdance zu geben.
»Thank you«, antworte ich.
Wir setzen uns an einen Tisch am Fenster. Hinter uns ist die Terrasse, die im Winter wohl primär zum Rauchen dient.
»Well, let’s eat something!« – Ich verhungere gleich.
Wir gehen zur Bar – einer sehr seltsamen Bar. Es ist ja durchaus üblich, dass der Boden der Damen und Herren Barkeeper leicht erhöht ist. Im Casa Diablo ist es genau umgekehrt: Der Boden hinter dem Tresen ist niedriger als davor. Aus diesem Grund schaut man auf die Barkeeperin hinab. Eine höllische Reminiszenz? Wir vertiefen uns gerade in die Speisekarte, als mein Blick auf den Oberkörper der Barkeeperin fällt. Ich bin kurz davor, das fast schon züchtig angezogene Mädel darauf hinzuweisen, dass ihre linke Brust aus ihrem zerschnittenen T-Shirt rausgerutscht ist. Doch dann fällt mir wieder ein, wo ich bin. In Gedanken lasse ich ein »Beavis und Butthead«-Lachen erklingen: »Höhö, that’s cool.«
Nachdem der Eintritt kostenlos war, erwarte ich gesalzene Preise beim Essen und Trinken. Erfreulicherweise kosten die Speisen und die Getränke aber nicht mehr als in jedem normalen Restaurant. Außerdem liest sich die Karte auch noch verdammt lecker. Ich bin von der köstlichen Auswahl mal wieder leicht überfordert und lasse mir etwas empfehlen. Cari nimmt das Tagesgericht. Auf dem Weg zurück zu unserem Tisch sehe ich, dass man für die Stühle, die direkt am Table sind, zwei Dollar pro Song zahlen muss. Unser Tisch steht lediglich drei Meter weiter hinten und ist kostenlos. Der Rucksack ist abgestellt, das Essen und die Getränke bestellt: Time for the show!
Es gibt zwei Stangen, an denen sich die Damen kunstvoll rekeln können. Über eine kleine Treppe betreten die Tänzerinnen die Bühne. Jede ist mit einem Handtuch ausgestattet, mit dem zunächst die Polestangen gesäubert werden. Dann geht’s los: Innerhalb kürzester Zeit sind sämtliche Hüllen gefallen, die Beine werden gespreizt und schon wird lustvoll masturbiert. Aha. Zwischendurch kommt mal ein kurzer Schwenk an der Stange und schon werden wieder die Schamlippen oder der Anus präsentiert. Um Letzteren zu zeigen, werden die Arschbacken schön auseinandergezogen. Damit das Ganze noch mehr Spaß macht, findet es meistens nur wenige Zentimeter vor den Gesichtern der Zwei-Dollar-Stühle statt. Aha.

Also, von Kunst sehe ich wenig bis gar nichts. Mit offenen Mündern sitzen Cari und ich hinter unseren Tellern: purer Genuss beim Anblick einer Rosette.
»Enjoying the show?«, frage ich Cari grinsend.
An vorderster Front sitzt ein Paar, das zwischen 45 und 50 sein dürfte. Ich sehe sie keine Geldscheine zücken, die die Aufmerksamkeit der Tänzerin erregt, dennoch passiert es: Die Stripperin, die mal wieder vor der Nase der ersten Reihe sämtliche Öffnungen präsentiert, beugt sich zur Frau runter und zieht ihr den Pulli über den Kopf. Der BH wird geöffnet und schon saugt die Nackttänzerin an den Brüsten der Dame mit den dicken Silikonbrüsten. Cari und ich sitzen nun nicht mehr nur noch mit offenen Mündern, sondern auch mit weit aufgerissenen Augen auf unserer hölzernen Sitzbank, die Gabeln fest umklammert irgendwo zwischen Tisch und Mund haltend. Ein Mann kommt angeflitzt, schnappt sich den Stuhl neben dem Ehemann und streckt ebendiesem seinen ausgestreckten Daumen entgegen: »Yeah!«
Der Gatte und der notgeile Fremde stieren auf die Brüste der Mutter, während sich noch zwei weitere Gestalten dem Treiben nähern. Ein kleiner, sitzender Pulk von Geiern entsteht. Die Frau, deren Brüste geleckt werden, strahlt selig über beide Backen. An unserem Nachbartisch sitzt eine andere Frau, die nun lauthals zu grölen beginnt: »Yeah! Suck it, baby! Suck it!«
Die Tänzerin macht eine Art Handstand.
»Art!«, rufe ich, »that’s pure art!«
Der Handstand findet zwischen den Beinen der Brustgeleckten statt. Als die Tänzerin kunstvoll steht, ist ihre Vagina auf Mundhöhe der halb nackten Besucherin. Anfassen ist nicht erlaubt, muss man aber auch gar nicht: Die Mädels drücken sich ja direkt an einen. Der Song ist vorbei, die Tänzerin kommt mit ihrem Kopf wieder nach oben und strahlt als hätte sie gerade wunderbaren Sex gehabt. Auch vor dem Table sehe ich nur glückliche Gesichter. Ein voller Erfolg.
Die nächste Tänzerin kommt … und macht genau dasselbe. Die Silikonbrüste werden ausgezuzelt, es wird sich zurückgelehnt und miteinander unterhalten, während masturbiert wird, und die Rosette blitzt auch wieder auf. So geht es ununterbrochen weiter. Eine Tänzerin nach der anderen schnappt sich die Brüste der beseelten Besucherin und sowohl die Männer drum herum als auch die Frau an unserem Nachbartisch geraten mehr und mehr in Ekstase.
Wir gehen auf die Hochterrasse und kommen ins Gespräch mit ein paar Jungs, die wohl öfter mal vorbeischauen. Sie erzählen uns, dass die Frau an unserem Nachbartisch eine verheiratete Bisexuelle ist und heimlich ins Casa Diablo kommt. Würde ihr Mann von ihren Gelüsten erfahren, wäre die Scheidung wohl schon vorprogrammiert.
Wieder drinnen beobachten wir, wie ein Typ sich an eine Tänzerin ranmacht, die sich zuvor zu ihm gesetzt hat. Sie findet das aufdringliche Flirten offensichtlich nicht so geil und schaut sich schon mal nach dem Türsteher um. Der ist allerdings mit SMS Schreiben beschäftigt. Eine Minute später kann sie sich aber problemlos loseisen und hinterlässt einen enttäuscht dreinschauenden Mann. Ein 80-jähirger Opa hat dafür mehr Glück und wird leidenschaftlich und erschreckend lange knutschend von einer anderen Tänzerin verabschiedet. Wir schauen uns noch weiteres Brüste Lecken und ein klein wenig Poledance an – eine gute Tänzerin, die die Stange auch ausgiebiger nutzt, gibt es doch noch. Kurz darauf schlägt Cari vor: »Shall we go?«
Ich gehe davon aus, dass wir alles gesehen haben und nicke zustimmend. Wieder im Freien fragt mich Cari: »Are you horny now?«
»Not at all.«
»Neither am I.«

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Als wir in der Hawthorne Rose ankommen, stellen wir fest, dass immerhin Joshua geil ist. Wir erwischen ihn beim Onanieren auf dem Sofa. Sein Gemächt kann er noch rechtzeitig einpacken. Um noch rechtzeitig den Porno auszuschalten, sind wir allerdings zu schnell. Er begrüßt Cari und ignoriert mich komplett. Noch nicht einmal ein: »Hi«, kommt über seine Lippen und Blickkontakt gibt es auch keinen. Der Typ hat echt nicht mehr alle Tassen im Schrank. Cari erzählt mir von weiteren Anmachversuchen durch Joshua. Außerdem weiß er, dass Cari und ich einen Road Trip machen werden, was ihn wohl eifersüchtig macht. Falls er sich aber tatsächlich Chancen bei Cari ausrechnet, sollte er vielleicht einmal überdenken, ihr und Melissa die 1200 Dollar pro Nase zurückzugeben, die er als Strafprovision aufgrund des aufgekündigten Mietverhältnisses einbehalten will. Da fehlen einem doch die Worte … Wie dem auch sei: Der Weltuntergang steht an und wir müssen uns überlegen, auf welcher Party wir ihn zelebrieren. Melissa ist in Arizona, Brian erzählt mir am Telefon, dass er im 180 Kilometer entfernten Eugene ist und Ulric ist »partied out«. Dann bleibt uns wohl nur die »Apocalypse Party« bei Brendan. Brendan wohnt, wie bereits berichtet, in seinem Van in der Einfahrt eines Hauses. Die Bewohner ebendieses Hauses, das sie selbst »The House of the Rising Sun« nennen, schmeißen eine Party. It’s been the ruin of many a poor boy and we’ll see if – tonight – I’m one.
Die Party ist niedlich organisiert. Überall hängen Hinweiszettel, die einem das korrekte Verhalten während des Weltuntergangs näherbringen: »In event of meteor crash … kiss your neighbor!« An der Kellertür kann man lesen: »Basement bomb shelter: Enter here.« Unter der Lampe auf der kleinen Tanzfläche, die direkt ans kleine Buffet anschließt, steht »Dance to your destruction!« geschrieben. Mein persönlicher Favorit ist: »In event of being sucked into the black hole at the center of the universe … DANCE!«
Einfahrtbewohner Brendan hat sich für den nahenden Tod in Schale geworfen. Er trägt einen Nadelstreifenanzug samt Hemd und einen hippiesken Ureinwohnerkopfschmuck – ohne Federn. Dafür hat er sich kleine Kugeln und geflochtene falsche Zöpfe ins Haar gebunden. Wir feiern bis spät in die Nacht hinein. Irgendwann fällt uns auf, dass der Tag der Apokalypse bereits vorbei ist und wir immer noch leben.

Quellen
Informationen zum Westin Seattle: Wikipedia
Informationen zur Internierungspolitik der USA: Wikipedia und nps.gov
Informationen zum Tule Lake Segregation Center: discovernikkei.org und Wikipedia
Informationen zum Uwajimaya Market und Fujimatsu Moriguchi: uwajimaya.com
Cheech Marins alias Chet Pussys nicht vorhandene Pussyaufzählungen stammen aus Robert Rodriguez’ »From Dusk Till Dawn«

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