Tag 46: They Call Him Tyrone

Serendipity – Teil 1

2012 12 26 00.07.12

Dienstag, 25. Dezember 2012 – Christmas
Eureka – San Francisco

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Okey-dokey, es ist halb fünf und der Wecker klingelt. Ächz. Wir haben den Alarm noch etwas früher als ursprünglich geplant eingestellt, weil ich Connors Arbeitsplatz sehen will – Cari nicht. Aber da muss sie durch. Connor hat uns vor seiner Abfahrt gestern Abend erklärt, wo wir die Lachskontrolle finden. Wir finden den beschriebenen Weg ohne Probleme, den Betrieb aber nicht. Das ist ärgerlich. Ich hätte schon gerne einmal die Fische gesehen, die auf so interessant tragische Weise ihren Fortbestand sichern. Dafür entdecken wir ein überfahrenes Stinktier. Überfährt man in Deutschland Katzen und Hasen, laufen einem in Kalifornien also Skunks vor die Motorhaube – beides traurig. So ein Stinktier verabschiedet sich aber nicht ohne »beißenden Kommentar« aus dem Leben. Kaum realisieren wir, dass das tote Tier vor uns ein Stinktier ist, riechen wir auch schon das Wehrsekret … das aus seinen Analdrüsen gespritzt kam. Kotz. Der Todesfurz des Stinkers nistet sich sofort im Auto ein. Glücklicherweise hat es wenigstens seine tränenreizende Wirkung verloren. Die Skunknote soll uns noch eine ganze Weile im Auto begleiten. Interessanterweise erinnert der Gestank nach einiger Zeit an gerösteten Kaffee. Damit können wir leben.
Es ist noch stockdunkel, als wir Eureka hinter uns lassen und den Highway 101 in Richtung Süden fahren. Die Straße ist leer, und wie das in den Staaten so ist, gibt es nicht viele Orte oder gar Städte links und rechts des Highways, die das Schwarz der Nacht erleuchten. Zudem regnet und regnet es. Nach rund eineinhalb Stunden erreichen wir Leggett, ein Kaff mit rund 120 Einwohnern und dem Chandelier Tree. Der Chandelier Tree ist bis zu 2400 Jahre alt und ein »drive-through tree«. Irgendwelche Witzbolde haben also einst einen Keil durch den 96 Meter hohen und am Boden gut sechseinhalb Meter breiten Stamm geschlagen, der breit und hoch genug ist, um mit dem Auto durchzufahren. Was Leggett für uns interessant macht, ist die Tatsache, dass hier der Scenic Highway 1 beginnt. Der Highway, der sich bis kurz vor San Francisco an der Küste entlangzieht und atemberaubend sein soll. Cari kommt mal wieder mit der Auskunft daher, dass sie die Strecke bereits kennt. Hm …
Von Leggett bis zur Küste sind es noch ein paar Meilen. Der Highway ist noch weniger befahren als der 101 und zieht sich in Serpentinen durch den dichten Wald. Es geht größtenteils bergauf – was ich für eine Straße, die zum Meer führt, etwas irritierend finde. Zwischendurch haben wir ein Räumfahrzeug vor uns. Überholen ist auf dem Sträßchen größtenteils unmöglich. Man sieht einfach nicht weit genug und würde eine Kollision riskieren, falls dann doch mal einer um die Kurve kommt. Zudem liegen Blätter auf der feuchten Straße und Kamikazevögel halten sich bereit, einen jedes Mal aufs Neue die Bremsen austesten zu lassen. Unser Mietwagen hat übrigens einen leichten Drall nach rechts. Das nervt. Hertz wollen wir davon aber nichts erzählen. Den Drall hatte die Kiste bereits von Anfang an und wir wollen nicht für irgendwelche Schäden verantwortlich gemacht werden, die wir dem Wagen nicht zugefügt haben.
35 Kilometer zieht sich unser ziemlich großer Umweg auf dem Weg nach San Francisco durch den Wald des Mendocino County, bis wir schließlich das Meer erreichen. Und das ist einmal mehr eine hollywoodreife Präsentation: Der Wald lichtet sich langsam. Mehr und mehr Licht flutet die Straße. Da der Highway wieder leicht ansteigt, offenbart sich der Horizont, nicht aber das Meer vor uns. Die Straße macht noch eine letzte scharfe Kurve. Rechts der Route geht es mit einem Mal einen 20, 30 Meter steilen Hang hinab. Erst jetzt realisiert man, dass man sich direkt am Pazifik befindet, der sich wie aus dem Nichts kommend vor einem auftut und sich ins Unendliche zu erstrecken scheint. Einzelne schroffe Felsen ragen aus dem welligen Wasser. Das Naturspektakel erwischt mich mit solcher Wucht, dass ich direkt auf die Bremsen steige und den Wagen an den Rand der Straße ausrollen lasse. Zum Glück war keiner direkt hinter uns. Es ist kurz vor acht. Dicke Wolken dominieren den Himmel. Im Westen zeigt der Pazifik seine Größe und im Süden windet sich der Highway 1, so weit das Auge reicht, die Küste entlang.

Die Strecke hält, was Cari versprochen hat, und verläuft tatsächlich nahezu durchgehend direkt an der Küste. Kurz vor Jenner, einem ähnlich gigantischen Dorf wie Leggett, haben sich unzählige Möwen auf einer Landzunge an der Mündung des Russian River versammelt. Viele der Vögel lassen sich von der Strömung des Flusses bis kurz vor das offene Meer treiben, bevor sie zum Flug ansetzen und sich wieder weiter vorne im Fluss einreihen. Interessant.

Keine 20 Kilometer später erreichen wir Bodega Bay. Einige Surfer lassen sich vom schlechten Wetter nicht abschrecken und reiten auf den Wellen. Leider erfahre ich erst im Nachhinein, dass Bodega Bay durch so manch filmisches Meisterwerk zu einem berühmten Ort wurde. Neben John Carpenters Horrorklassiker »The Fog« und einigen Szenen aus Richard Donners »The Goonies« wurden auch – exklusive der Anfangssequenz in San Francisco – sämtliche Szenen aus Hitchcocks »The Birds« in Bodega Bay und dem nahe gelegenen, innerländlichen Bodega gedreht. So ein Pech. Mit diesem Wissen hätte ich mir das Örtchen gerne mal angeschaut. Leider rennt uns aber auch die Zeit davon, da wir das Auto rechtzeitig abgeben müssen, um nicht für einen zusätzlichen Tag zur Kasse gebeten zu werden. Deswegen werden wir auch nicht – obwohl es uns empfohlen wurde – bei den Jacuzzis vorbeischauen. Die Erfinder des Whirlpools haben nämlich im Sonoma County, welches wir mittlerweile durchqueren, ihr Familienweingut. Ja, das Sonoma County ist Kaliforniens Rheinhessen. Oder mit anderen Worten: Hier wird massenhaft Wein angebaut, was die Gegend zu einem weltberühmten Weinanbaugebiet gemacht hat. Eine kleine Weinprobe bei einem der vielen ausgeschilderten Weingüter wäre schon cool gewesen …
Um Viertel nach zwölf erreichen wir die Golden Gate Bridge. Cari wird von mir gezwungen, diesen Moment, also die komplette Überfahrt zu filmen. Macht man ja schließlich nicht alle Tage, und da sich San Francisco zu einer meiner absoluten Lieblingsstädte gemausert hat, muss die Erstüberquerung auch festgehalten werden, wie ich meine. Es ist selbstverständlich episch.
Am anderen Ende der Brücke wird abgerechnet. Wir steuern eine der Kabinen an, um unsere acht Dollar zu zahlen. Wir quatschen kurz mit der lustigen Afroamerikanerin, die beim Blick ins Auto unsere rosa Donutverpackung erspäht: »Oh, have you been there?«
»Yes.«
»Are they as good as everybody says?«
»Better.«
Sie lacht und wünscht uns frohe Weihnachten.
Viel Zeit bleibt nicht mehr, um das Auto zurückzugeben. Aber wegen ein paar Minuten werden die schon nicht meckern. Wir tanken den Wagen noch einmal auf und folgen weiter den Anweisungen des Smartphones zum Rückgabepunkt. Der ist amüsanterweise an der Ecke Mason und O’Farrell und somit keine 150 Meter vom Globetrotters Inn entfernt, Fords mittlerweile ehemaligem Zuhause.

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Unter freundlich grinsender Aufsicht zweier Asiaten räumen wir im Parkhaus das Auto aus. Wieso ist mir eigentlich bisher nicht aufgefallen, dass Cari neben den Sachen in ihrem Trolley so unglaublich viel Zeug mitgenommen hat? Wie sollen wir das alles nur transportieren? Die lustige Hertz-Angestellte sieht unsere fragenden Blicke und bringt uns einen riesigen schwarzen Müllbeutel. Das Teil ist so riesig, dass ich selbt da locker zweimal reinpassen würde. Wir stopfen die Decken, Kissen und das mitgebrachte Zelt in den Müllsack. Der ist damit voll und geht mir bis zur Hüfte. Den zu schleppen kann ja heiter werden. Und dazu noch der scheiß Trolley. Ich hasse Trolleys. Dieses Geräusch ist so grässlich. Cari weiß von meiner Abneigung gegenüber ihrem Koffer und behauptet, dass ihr Rucksack kaputt ist, sie keinen besitzt oder was auch immer. Wie dem auch sei: Das Zelt hätten wir besser mal in Portland gelassen. Als Cari ihr Zeug packte und ihre restlichen Sachen für die Lagerung in der Garage klarmachte, wussten wir noch nicht, ob wir im Redwood Nationalpark eine Bleibe haben oder zelten müssen. Als wir losfuhren, war das zwar geregelt, aber keiner von uns beiden hat mehr darüber nachgedacht. Und so schleppe ich nun ein Zelt durch die verregnete Stadt, das wir sicherlich nicht benötigen werden. Cari meint, dass ich mit dem Sack, meinem Vollbart, dem schwarzen Mantel und dem roten Schal wie dieser böse deutsche Weihnachtsmann aussehe. Ich habe ihr von Knecht Ruprecht erzählt. Den kennen die Amis nicht.
Genau gegenüber des Parkhauses befindet sich das San Francisco Downtown Hostel. Da wir keine Couch finden konnten, müssen wir erst mal ins Hostel. Im Downtown Hostel interessiert sich kein Arsch für uns und dann kommt auch noch so ein Hohlroller und drängelt sich in der kurzen, aber ewig nicht vorankommenden Warteschlange einfach vor. Das juckt die beiden Rezeptionisten aber auch nicht weiter und so wird die Dame eben zuerst bedient. Mir gefällt’s jetzt schon nicht – wirkt mir außerdem alles viel zu hip und steril. Cari ist genauso angepisst und gibt sich dementsprechend wenig Mühe, sonderlich freundlich zu sein. Als wir die Preise des ziemlich ausgebuchten Hostels hören, zischen wir direkt ab: Das Doppelzimmer kostet über 100 Dollar. Es ist wohl Weihnachten … Die haben sie ja nicht mehr alle.
Wir beschließen, erst einmal essen zu gehen. Ich wollte schon immer mal den Thai unter dem Globetrotters Inn ausprobieren. Das komplette Old Siam staunt nicht schlecht, als wir beiden Schwerbepackten das Restaurant betreten. Wir stellen den Müllsack, Caris hellblauen Trolley und meinen Rucksack hinter meinen Stuhl und belagern somit ein gutes Stück des schmalen Raums. Der Kellner rückt an und überrascht mit einer grässlichen Stimme und der Tatsache, dass sie keinen Curry ohne Fischsoße zubereiten können. So ein Dreck. Es gibt also keinen Curry für mich, aber meine Alternative schmeckt auch okay. Am Nachbartisch sitzen Deutsche, nein, Franken. Cari findet’s toll. Ich erkläre Cari, wie Franken klingen, und gebe ihr eine Kostprobe der deutschen Dialekte, die ich mehr oder weniger gut nachmachen kann – auf englisch natürlich.
Unser nächstes Ziel ist das Orange Hostel in der O’Farrell Street. Die Frau an der Rezeption ist schon mal netter als im Downtown Hostel, doch abermals werden die 100 Dollar für ein Zimmer überschritten. Was ist nur los hier? In der Isadora Duncan Lane, einer kleinen Sackgasse, die zwischen der Geary und Post Street von der Taylor Street abzweigt, befindet sich das Adelaide Hostel. Das Doppelzimmer kostet nur unwesentlich weniger als 100 Dollar. Da heute Weihnacht ist, wollen wir in Downtown sein, um zu feiern. Ein preiswerteres Hostel werden wir in Zentrumsnähe wohl nicht mehr finden. Also beenden wir unsere Suche und nehmen das Zimmer. Mehr als eine Nacht werden wir aufgrund des gesalzenen Preises aber nicht bleiben. Ab morgen können wir auch problemlos in einen anderen Bezirk ziehen.
Da zahlt man eine ordentliche Stange Geld und dann funktioniert die Heizung nicht. Ich beschwere mich bei der sowieso schon unfassbar mies gelaunten Frau an der Rezeption. Sie folgt mir in unser Zimmer, schraubt kurz unbedarft am Heizkörper und zuckt mit den Schultern. Super. Da sie schon wieder abhaut, folge ich ihr und lasse sie wissen, dass wir nicht so viel Geld zahlen, um zu frieren. Sie fragt einen Kollegen, der uns erklärt, dass die Heizung erst um 18 Uhr eingeschaltet wird. Fast 100 Dollar für ein Zimmer und dann wird im Winter erst am Abend mit dem Heizen begonnen? Wow. Um 18 Uhr springt die Heizung tatsächlich an … und Cari und ich vor Angst und Schrecken fast aus dem Fenster: Es zischt und im Nullkommanix ist unser komplettes Zimmer ein Dampfbad. Das kann doch nicht wahr sein! Ich renne zur Rezeption und lasse sie wissen, dass es zwar leicht wärmer, dafür aber auch gleichzeitig umso feuchter geworden ist. Die Frau beginnt spätestens jetzt mich abgrundtief zu hassen und folgt mir ein weiteres Mal vollkommen entnervt ins Zimmer. Sie zuckt wieder mit den Schultern, diesmal aber sichtlich beunruhigt und sucht das Weite. Äh? Kurz darauf kommt ihr Kollege und schraubt den Heizkörper wieder zu. Die blöde Kollegin hat bei ihrer Aktion vorhin tatsächlich den Heizkörper aufgeschraubt. Es riecht nach Feuchtigkeit und abgestandenem Wasser. Außerdem entdecken wir Menstruationsblut und Spermaflecken auf einem der Kissen. Ein Glück, dass Cari so viel Zeug mitgenommen hat. Nach dem Austausch der Bettwäsche wollen wir nun endgültig das Weite suchen. Glücklicherweise lädt das Hostel zum kostenlosen Weihnachtsdinner ein. Da sich unser Gemach direkt an der Treppe befindet, die hinab zu den dauerbesetzten Waschmaschinen und zum Essenssaal führt, stand dementsprechend auch ewiglich eine Menschenmasse vor unserer Tür. Das ist nicht wirklich cool, wenn man sich nach einer langen Autofahrt mal etwas ausruhen und kuscheln möchte. Die Schlange löst sich auf. Wir können also entspannt zum Essen gehen und müssen keine halbe Stunde im Flur ausharren. Unten angekommen finden wir einen übervollen Raum vor. Wir schnappen uns zwei Teller und reihen uns bei der Essensausgabe ein. Okay, es gibt Knochen mit etwas Fleisch dran, Bohnen mit Speck, Kartoffelbrei mit Speck und Karotten, die so aussehen, als lägen sie in zerlaufener Butter.
»Do you have anything vegan?«
Erstauntes Schweigen schlägt mir von der Angestelltenfront entgegen. Die offenen Münder formen langsam Worte, die nichts Gutes verheißen: »Well, we have … uhm … carrots.«
»But we used butter«, wird mir die Frage beantwortet, bevor ich sie überhaupt stellen kann. Cari schaut mich mitleidig an und schnappt sich einen der Knochen. Ich bringe meinen Teller wieder zurück und warte an der Treppe auf Cari. Hier ist sowieso kein Platz mehr und ich will mich da auch nirgends hinquetschen. Ich mag dieses Hostel nicht.
Ich habe Cari so viel von meiner Zeit mit Ford erzählt und ihr ja auch schon das Globetrotters Inn von außen zeigen können, sodass sich die Frage: »Wo feiern wir heute Abend?«, leicht beantworten lässt: Wir gehen natürlich in die Oz Lounge!

Wie ärgerlich: Matt, der Welt sympathischster Türsteher hat heute frei. Hm, kein Türsteher, kein Ford … irgendwie traurig. Dafür erkennen mich Oz und einer der Musiker wieder. Cari mag die Oz Lounge. Der Live-Jazz unterstützt ihr positives Urteil. Es ist auch wieder einmal schön hier, obwohl die beiden coolsten Charakterköpfe fehlen.
»Daniel!«
Ich werde von hinten umarmt. Was zum …? Ich löse mich aus der Umklammerung und sehe eine dunkelhäutige Frau mit riesigen Brüsten vor mir. Woher kenne ich die denn? Oder werde ich verwechselt?
»Daniel!«, strahlt sie mir ins Gesicht. Bin ich nicht, denke ich mir, strahle aber zurück.
»Hi! How are you?«, versuche ich vorsichtig zur Lösung des Mysteriums vorzustoßen. Die Frau wendet sich von mir ab und richtet sich an Cari: »This guy is such a sweetheart!«
Cari lächelt.
»I didn’t want to let him go, last time we met. I asked his buddy Ford if I can keep him!«
Cherry! Es ist Cherry! Die Frau, der Ford den ganzen Abend über die absurdesten Komplimente machte und die dann sauer wurde, als er ihr in den Hintern kniff. Dass die sich noch an mich erinnert … Verrückt. Die Band macht eine Pause. Der Musiker, der mir freundlich zunickte, als wir die Lounge betraten, gesellt sich zu uns. Ach ja, der gehörte ebenfalls zu Cherrys Gang. Wir quatschen kurz, wünschen uns gegenseitig frohe Weihnachten und werden dann wieder alleine gelassen. Lange sind wir aber nicht »alleine«. Hinter uns sitzt ein Pärchen, das sich köstlich amüsiert und regelmäßig vor Lachen laut losbrüllt. Ich weiß nicht mehr, wer wen zuerst anquatscht, aber kurz darauf sitzen wir bei Valerie und George und feiern feuchtfröhlich. Oz will irgendwann die Bar schließen. Cari, Valerie, George und ich wollen aber feiern! So jung kommen wir nicht mehr zusammen! Also beratschlagen die drei, was wir machen könnten. Ich höre kurz zu und funke dann mit meiner großen Weisheit dazwischen: »The best thing you can do in San Francisco«, beginne ich, »is to walk through the night.«
Gelobt sei Ford – der Mann, dem ich diese Erkenntnis verdanke. Ach, er fehlt hier.

Der Vorschlag wird angenommen und wir steuern ziellos in Richtung Union Square. Valerie ist Englischlehrerin an der Academy of Art University in San Francisco. George ist Opernsänger und Militärtrompeter bei der Air Force. Geile Mischung. Und so fangen doch gute Geschichten an: Eine derzeit obdachlose Sängerin, eine Englischlehrerin, ein Opern singender Militärtrompeter und ein deutscher Backpacker laufen an Weihnachten durch San Francisco …

2012 12 25 19.32.51

Tja, was soll ich sagen: Es ist eine gute Geschichte! Denn wir steuern auf ein Weihnachtsfest zu, das ich so schnell nicht wieder vergessen werde: Als wir den Union Square erreichen, kommt uns ein Afroamerikaner entgegen. Er ist obdachlos, das ist schnell klar. Wir kommen ins Gespräch. Er fragt nicht nach Geld, sondern will sich offensichtlich nur unterhalten. George fragt ihn, ob er singen kann.
»Of course I can!«, antwortet der rund 50-jährige Mann und hebt seinen Plastikbecher an seine Lippen. George beugt sich ebenfalls zum Becher, weswegen der Mann mit dem Bündel Obdachlosenzeitungen unterm Arm das »Mikro« so hält, dass auch George hineinsingen kann. Auch Cari und Valerie gesellen sich zur lustigen Singrunde: »Chestnuts roasting on an open fire, Jack Frost nipping on your nose …«, beginnen die vier. Weiter kommen sie allerdings nicht, da plötzlich ein weiterer Obdachloser neben uns steht. Dieser will jedoch nicht mitsingen, sondern zwängt sich in unsere Mitte und schnorrt jeden Einzelnen an. Das bringt unseren neuen Freund auf die Palme: »Stop it, man!«
»He can join in!«, schlägt George schnell vor. »You could sing, right? You could?«
Der alte Mann nickt, geht wieder einen Schritt zurück und stellt sich zwischen Cari und Valerie. Seine offene Hand hält er aber zunächst weiterhin vor sich – bis er uns eine kurze Kostprobe seines Gesangs darbietet: »Uh hä hö hä …«
Dann hat er schon wieder keine Lust mehr und dreht sich mit der wieder ausgestreckten, offenen Hand zu Valerie.
»Yuletide carols being sung by a choir …«
Diesmal unterbricht Georges Lache den Chor. Der obdachlose Chorleiter mit dem schwarzen Kopftuch ergänzt alleine den fehlenden Vers: »People dressed up like Eskimos.«
»That’s not the right one«, wundert sich George.
»It’s the version of the ghetto kids.«
Wieder lacht George lauthals auf.
»Everybody knows …«, setzt der liebenswerte Mann wieder ein.
»You’ve got a beautiful voice, Sir«, unterbricht ihn George abermals. Damit hat er übrigens recht. Der Mann kann tatsächlich singen.
»Did you hear it?«, fragt er George.
»Uhm, well, yes: once or twice.«
Beide lachen.
»Here we go!«, startet der nächste Versuch.
»Chestnuts roasting on an open fire …«
Alle singen wieder – bis auf einen: »Come on, young man«, fordert unser Chorleiter den vermutlich älteren Schnorrer, der immer noch irritiert in unseren Reihen steht, zum Mitmachen auf. Und tatsächlich spitzt er für eine Zeile die Lippen, bevor er sich zwecks einer Spende erneut an Valerie wendet.
»Jack Frost nipping on your nose, Yuletide carols being sung by a choir. Merry Christmas! Merry Christmas to youuu!«
Die allgemeine Freude währt nur kurz, da unser Plastikbechermann sich wieder über den Schnorrer aufregt.
»We just have fun«, lallt George, der schon gut beisammen ist. Er will den Frieden wahren und umarmt den Chorleiter. Unser Chef beruhigt sich auch sofort wieder. Er lacht und behält ein breites Lächeln bei, während er Georges Umarmung erwidert.
»We make music!«, löst George mit theatralischer Geste die liebevolle Situation auf. »That’s actually why I have this thing on my back.«
George zeigt auf die Tasche, die er sich auf den Rücken geschnallt hat.
»Help me out. What got you?«, fragt der Obdachlose verwundert.
»It’s a trumpet.«
»No way!«, freut er sich, während der Schnorrer tatsächlich von dannen zieht. George fängt an, den »Christmas Song« zu spielen. Wieder beginnen alle zu singen, hören aber nach kurzer Zeit auf und lauschen einfach den Klängen der Trompete … bis der Schnorrer auf einmal wieder in unserer Mitte steht.
»Now you got to stop!«
Der nicht sonderlich bedrohlich wirkende Chorleiter baut sich vor dem Mann auf. Der merkt aber generell nicht mehr allzu viel, habe ich das Gefühl, und verharrt weiterhin im einzigen Blick, den er draufzuhaben scheint. Da trotz des Meckerns keine Reaktion kommt, springt George in die Bresche … und umarmt den wirren Mann. Der nimmt die Umarmung an, klammert zurück und tätschelt sogar zärtlich Georges Rücken. Kaum löst George die Liebkosung, spielt er auch schon wieder die Trompete und der Chorleiter fängt das Singen an. Der Song ist eine Nummer schneller. Es ist »Jingle Bells« und das ist tanzbar! Das bemerken zumindest Cari und Valerie und springen rhythmisch im Kreis. Gerade als sich Cari Valerie schnappt, um mit ihr einen Standardtanz aufzuführen, hört George auf zu spielen.
»Oh!«, meckern alle Anwesenden. George entschuldigt sich mit einem kurzen Nicken und bläst wieder los. Diesmal geht allerdings der Jazzer mit ihm durch und es wird improvisiert. Das sorgt für reichlich Anerkennung beim Chorleiter. Als George fertig ist, bricht tosender Applaus aus und der Obdachlose ruft: »Merry Christmas!«, während er auf George zugeht, ihm die Hand gibt und sich gegen seine Schulter drückt. Version of the ghetto kids, sozusagen.
»I made two dollars since I’m out here«, beklagt sich der Mann auf einmal.
»I didn’t make a shit!«, prustet George dazwischen und zeigt auf seinen geöffneten Trompetenkoffer. Ja, der ist leer. Ich glaube, unsere neue Bekanntschaft wollte damit nicht das Schnorren beginnen, sondern sein Wohlwollen über unser Zusammentreffen kundtun. Leider belässt er es bei dem Satz und stimmt lieber ein neues Lied an: »In the summer time when the weather is high, you can chase right up and touch the sky. When the weather's right, you got women, you got women on your mind.«
George stimmt mit ein und der Chorleiter geht ins leichte Beatboxing über, während er sich im Takt auf die Brust klopft.
Nachdem der Chor »Have Yourself a Merry Little Christmas« performt hat, wird der Chorleiter sentimental. Er ruft laut: »Hey! Hey!«, und drückt George fest an sich.
»Hey, man. Look: You guys … you guys made my Christmas. I came out here with two dollars in my pocket and you guys just … just gave me a song.«
Er ist sichtlich gerührt.
»What’s your name?«, will George wissen.
»My name is Tyrone«, antwortet er und fängt an die Melodie von Erykah Badus Hit zu singen: »They call me Tyro-one.«
Das ist cool und jeder in der Runde reagiert auf seine gesungene Vorstellung. Cari und Valerie müssen ihm nachsingen: »Hit it, baby!«
Von Caris Stimme ist er besonders angetan. Meine Süße ist ja auch eine Sängerin, freue ich mich leise stolz.
George spielt Tyrones Melodie sofort auf der Trompete nach und schon wird ein neuer Song improvisiert: »They call him Tyrone!«
Auf einmal gesellt sich ein weiterer Mensch zu uns. Er erzählt uns, dass er um die Ecke auf einem Balkon sitzend, die Trompete vernommen hat und sich dachte: »Was ist da los? Da muss ich hin.«
»Can you sing?«, fragt Cari den sechsten Mann.
Er verneint, während er im Takt wippt und letztlich doch mitsingt. Es ist einfach großartig! All das spielt sich in rund 20 Minuten ab. 20 Minuten, die voller Wärme, Respekt, Lebensfreude und Herzlichkeit sind. Eine Gruppe Fremder, die es so vorher noch nie gab und nach diesen 20 Minuten auch nie wieder geben wird, hat sich so viel Gutes getan. Das war magisch und unvergesslich. Nachdem Tyrone dem neu Hinzugestoßenen dann doch noch ein wenig Kleingeld entlockt, löst sich der Zirkel auf. Als Tyrone verschwunden ist, dämmert es mir, dass ich ihn wohl schon einmal in einer sehr coolen Situation erlebt habe: Ich bin mir ziemlich sicher, dass er es war, mit dem Ford auf offener Straße einst »My Girl« sang.
Was für ein Weihnachtsfest: Merry Christmas!


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