Tag 47: Graffitis, der Riese Lobo Rojo und die Probleme zweier Couchsurfer
Serendipity â Teil 1
Mittwoch, 26. Dezember 2012
San Francisco
Nach dem Essen schlendern wir in Richtung Market Street und treffen auf einen Gambier. Als der Afrikaner hört, dass ich aus Deutschland komme, erzĂ€hlt er uns, dass er deutsche Frauen liebt. Auf seinem Smartphone will er uns das Facebook-Profil seiner lesbischen deutschen Freundin zeigen. Die Dame hat einen tschechischen Namen â ich sage es ihm nicht. Er selbst hat schon die komplette Welt bereist und zĂ€hlt uns tatsĂ€chlich eine ganze Reihe an Nationen auf. Bald will er die USA wieder verlassen. Trotz Smartphone vermute ich, dass er auf der StraĂe lebt. Obwohl das Leben in seinem Land, wie er selbst sagt, von Armut geprĂ€gt ist, will er wieder zurĂŒck nach Afrika. Er spĂŒrt dort einfach die Liebe viel deutlicher als in Amerika. Mit 90 kommt er vielleicht wieder zurĂŒck â wenn er medizinische Hilfe benötigt. Er ist einmal mehr ein wirklich netter Kerl, der sich am Ende bei uns fĂŒr die Unterhaltung bedankt.
Wir laufen zum Mission District. Aus dem Nichts kommt im Sonnenschein ein kurzer SprĂŒhregen vom Himmel. Strange. Auch seltsam ist das Gebaren eines Schwarzen, der Cari wie ein Hund anknurrt, als wir an ihm vorbeilaufen. Soll vermutlich ein Kompliment sein.
Zwischen der Mission und Valencia Street und der Sycamore und 17th Street entdecken wir die schmale Clarion Alley, eine Gasse, deren HĂ€user durch und durch mit wirklich guten Graffitis verschönert wurden. Ein »Info-Graffiti« erklĂ€rt, worum es geht: Die Inspiration kam von der circa eine Meile sĂŒdlich gelegenen Balmy Street. Auch hier wurden die WĂ€nde einer schmalen StraĂe mit Farbe aufgewertet. Die KĂŒnstler der Clarion Alley besprachen ihr Vorhaben mit den Anwohnern und holten sich bei der Stadtverwaltung die Genehmigung fĂŒr ihren Plan.
»Clarion Alley began its journey as a place that wants to be free. A place where culture and dignity speak louder than the rules of private property. Hay respecto en nuestra rebeldia, hay lucha en nuestro corazĂłn. Itâs now 2012, it was then 1992. Building a better future is a full-life job.«
Wie diese Botschaft vermuten lĂ€sst, sind viele der Graffitis mit politischen Messages verbunden. Etwa die HĂ€lfte der wirklich groĂartigen Bilder sind aber psychedelischer Natur oder comichaft. Bei einem Graffiti wurden sogar Plastiken, vermutlich aus Gips, an der Wand befestigt, um einen dreidimensionalen Effekt zu erwirken. Das ist wahre Kunst in einer kostenlosen Freiluftgalerie. Die kunterbunte StraĂe ist toll und selbst der StraĂenbelag mittlerweile mehr farbig denn grau. Da der Platz an verfĂŒgbarer FlĂ€che mittlerweile voll ist, hat man sich wohl auch schon Teile der Sycamore Street gesichert. Denn auch in der ParallelstraĂe sind einige WĂ€nde famos bemalt. Ich bin ganz begeistert von unserer Entdeckung und wundere mich, wie ich die Clarion Alley ĂŒbersehen konnte, als ich im November hier war. Cari muss daraufhin natĂŒrlich anmerken, dass sie die Gasse bereits von ihrem letztjĂ€hrigen Trip kennt. Gibt es denn irgendetwas auf unserer Reise, das sie nicht schon kennt?
»What the fuck?«, mag sich nun der eine oder andere berechtigt wundern. Nun, der Señor, der von 1753 bis 1811 lebte, war Priester im beschaulichen StĂ€dtchen Dolores in Mexiko. In den frĂŒhen Morgenstunden des 16. Septembers 1810 hielt Hidalgo vor seiner Kirche eine feurige Rede, den »Grito de Dolores«. So wurde aus dem Kleinstadtpriester der Vater der mexikanischen UnabhĂ€ngigkeitsbewegung und aus Dolores wurde Dolores Hidalgo Cuna de la Independencia Nacional. Auch hier gibt es im Ăbrigen mit Dolores Hidalgo wieder eine anerkannte Kurzform des ĂŒbertrieben langen Namens. Das Kriegsende und die UnabhĂ€ngigkeit Mexikos konnte Hidalgo leider nicht mehr erleben. Er wurde gefangen genommen und an die Wand gestellt. Seinen Kopf spieĂten seine Gegner bis zum Kriegsende auf einen Pfahl. Der UnabhĂ€ngigkeitskrieg dauerte noch zehn Jahre.
In der Valencia Street in Auto mit Muscheln, Steinen und SchneckenhĂ€usern auf den StoĂstangen. Der höchst esoterisch bemalte Mercedes ist gerade unser Fotomotiv, als plötzlich die Besitzerin aufkreuzt und uns stolz von sich und ihrem Auto erzĂ€hlt: Sie hat den Mercedes innerhalb von drei Wochen hergerichtet. DafĂŒr waren allerdings 18-Stunden-Tage notwendig. Die Liebe steckt im Detail. Sie erzĂ€hlt uns von ihren weiteren anberaumten Verschönerungen, die auch im Wageninneren noch weitergehen. Vor allen Dingen ist ihr die ökologische Botschaft wichtig. Biodiesel heiĂt die Lösung! Sie gibt uns eine Postkarte ihres Wagens, auf deren RĂŒckseite die ErklĂ€rung dafĂŒr steht, weshalb Biodiesel die Welt retten wird.
»Iâm a poet, a teacher, a visual artist, a performance artist and a dork.«
Die Frau ist kaum zu bremsen. Wir finden das sehr amĂŒsant. Besonders Cari, die ja auch irgendwie ein kleiner Hippie ist, kann gut mit der Frau. Aber Cari kann eigentlich mit jedem souverĂ€n kommunizieren.
Wir haben Hunger. 100 Meter vom Mercedes entfernt, kurz vor der 21st Street, befindet sich das Herbivore. Das Herbivore ist ein rein veganes Restaurant mit einer riesigen Auswahl. Wir können uns kaum entscheiden. Letztlich gibt es Ravioli, den Indian Wrap und zwei Creamy Artichokes, die Tagessuppe. Es schmeckt bombastisch! Das beste (vegetarisch/vegane) Restaurant der Stadt?: Herbivore.
Ich bringe Cari beim Essen weitere deutsche Vokabeln bei: »Oge, Or, NaĂe, Lippen, Gschischt.«
»Perfect!«
Am Nachbartisch beobachtet uns jemand. Ich schaue kurz rĂŒber und werde direkt lĂ€chelnd angesprochen: »Youâre German? Ich bin Schweizer!«
Offensichtlich lebt der Kollege mit den dunklen, langen Haaren aber schon lange in Amerika. Man hört zwar noch den Schweizer, der amerikanische Akzent ĂŒberwiegt jedoch in seiner Aussprache. Er kommt aus Santa Cruz und kennt die Schweiz von vielen GroĂelternbesuchen und Urlauben. Seine Mutter ist Schweizerin, der Vater Amerikaner. Unsere Unterhaltung dauert keine fĂŒnf Minuten. Dennoch bietet er mir seine Couch an, falls es mich noch einmal nach Santa Cruz verschlagen sollte. Er gibt mir seine Karte und verlĂ€sst das Restaurant. Demian heiĂt er. Netter Kerl.
Es ist inzwischen dunkel geworden, als wir einen sehr coolen mexikanischen Kitsch- und Schnickschnackladen finden. Das Casa Bonampak in der 1051 Valencia Street ist quietschbunt. Die WĂ€nde sind aquamarinfarben gestrichen, der Boden in Terracotta. Bunte Girlanden hĂ€ngen quer durch den Raum. In den Regalen und SchrĂ€nken stehen Figuren vom DĂa de los Muertos und TotenschĂ€del aus purem Zucker. Eine Lichterkette lĂ€sst Chilischoten blinken. Es gibt Postkarten und Handtaschen, Stoffblumen und Heiligenbildchen. Im hinteren Bereich sind die WĂ€nde rosa gestrichen. Hier werden Kleider und Geschirr angeboten. Mit Wellblech und weiĂ gestrichenen HolztĂŒren mit groĂen Glasfenstern darin werden die BĂŒrorĂ€ume vom GeschĂ€ft getrennt. In diesem liebevoll gestalteten Laden gibt es wirklich allen möglichen niedlichen Ramsch und unnötigen Quatsch. Besonders ulkig finden wir die Pappaufsteller von Michelle und Barack Obama, die hier so ĂŒberhaupt nicht reinpassen.
Gutes Timing: natĂŒrlich nicht.
Bevor er uns von der seltsamen dritten Wand erzĂ€hlt, zeigt er uns noch eine weitere Wand, die wir noch gar nicht bemerkt haben. Riesige Seehunde erstrecken sich ĂŒber eine komplette Brandwand.
»Some guys from Norway or Belgium ⊠Where did they come from? Ah, who cares ⊠They came from somewhere across the Ocean. They showed up and made this. Itâs beautiful, isnât it?«
Der Drei-Meter-Mann kann sich kaum auf den Beinen halten. Ob es an seiner immensen GröĂe, seinem kaputten Bein oder am Bier liegt, lĂ€sst sich nicht eindeutig beantworten. Auf jeden Fall torkelt er auch im Stehen. Das seltsame Graffiti ist eine Kopie einer von amerikanischen Ureinwohnern bemalten Wand, die man hinter dem Altar der Old Mission Dolores gefunden hat. Bei der gefundenen Mauer handelt es sich um die Ă€lteste Mauer San Franciscos, die vermutlich zwischen 1791 und 1796 bemalt wurde. Ganz so ausfĂŒhrlich ist die AusfĂŒhrung des alten Riesen nicht. Ich habe neben der Kopie der alten Wand eine ErklĂ€rung entdeckt.
Der HĂŒne ist gut eingepackt. Sein Vollbart wuchert in alle Richtungen und sein Piratenkopftuch, das er unter den Kapuzen seines Pullis und seiner Jacke trĂ€gt, ist ihm tief ins Gesicht gerutscht. Vermutlich rutscht ihm auch deswegen seine Brille immer wieder bis an die Nasenspitze. Unter seinem Arm klemmt ein Pappkaffeebecher. Da er recht viel mit seinen Armen beziehungsweise dem KrĂŒckstock und dem MĂŒllgreifer herumfuchtelt, fĂŒrchte ich, dass ihm der Kaffee ĂŒber kurz oder lang aus der Beuge rutscht. Als hĂ€tte er nicht schon genug in seinen HĂ€nden kramt er jetzt auch noch eine Bierdose aus den Tiefen seiner Jacke: »Hold this, please.«
Er drĂŒckt mir das Bier in die Hand und bietet mir auch einen Schluck an. Ich lehne dankend ab. Der Gute sabbert mir dann doch etwas zu viel in seinen Bart. Okay, das war jetzt fies, denn Neil, so heiĂt der Riese, ist lustig und schlieĂlich auch hilfsbereit. Neil hat einen Narren an uns gefressen. Wir sind aber auch gute Zuhörer. FrĂŒher, in den 60er und 70er Jahren nannte man ihn »The Local Lobo Rojo«, also den ortsansĂ€ssigen roten Wolf quasi. Sein anderer Spitzname war »Counts Many Cous«. Ich bin mir nicht sicher, wie man das letzte Wort schreibt. Es kommt aus der Sprache der Ureinwohner dieser Gegend. »Counts Many Cous« bedeutet, dass er seine Feinde entwaffnen konnte, ohne sie zu töten. Da dies sehr ehrenhaft ist, verlieh man ihm diesen Beinamen. In den 60ern und 70ern, klĂ€rt er uns auf, war der Mission District von Gangs durchsetzt. Wenn ich es richtig verstehe, hat er sich seinerzeit fĂŒr die Schwachen eingesetzt und fiese Gangmitglieder entwaffnet. Selbst Cari versteht nicht alles, was der Mann lallt.
Auch die Kassette von seinem lahmen Bein bekommen wir gedrĂŒckt: Das war ein Arbeitsunfall. Ein Depp hat die acht Meter hohe Leiter, auf der er gearbeitet hat, umgeschmissen beziehungsweise zerstört: Die Stiege ist unter ihm in seine Einzelteile zusammengebrochen, weil genannter Depp dagegen gefahren ist. Nun hat er einen Rollstuhl, den er auf der anderen StraĂenseite neben einer Garageneinfahrt geparkt hat. WĂ€hrend er so am ErzĂ€hlen ist, schwappt sein Bier stĂ€ndig ĂŒber. AuĂerdem verliert er regelmĂ€Ăig seine KĂŒchenrolle, die er wie den Kaffeebecher unter dem anderen Arm klemmen hat. Ich bĂŒcke mich demnach alle 20 Sekunden, um sie wieder aufzuheben. Seine Nase lĂ€uft in seinen Bart und er kann einfach nicht ruhig stehen bleiben. Plötzlich tritt er in eine PfĂŒtze, die direkt am Bordstein und auĂerdem erschreckend tief ist. Er steht bis zur Wade im Wasser und verliert das Gleichgewicht. Er hĂ€lt sich an seinem Bier fest und wird von einer Parkuhr aufgefangen. Das Ganze sieht ziemlich krass aus.
»This is not my first rodeo!«, grinst er, als er die Balance wieder findet. Bei der Aktion lĂ€sst er aber natĂŒrlich den Kaffeebecher fallen, dessen Inhalt sich ĂŒber die StraĂe verteilt. Hm, Kaffee oder Tee war das aber nicht. Völlig zu Recht regt er sich kurz ĂŒber das wahnwitzige Loch im Boden auf. Als ich ihn darauf aufmerksam mache, dass er seinen was auch immer verschĂŒttet hat, flucht er traurig: »Fuck, my warm bath water âŠÂ«
Er fÀngt sich nach kurzer Zeit wieder und erzÀhlt uns von seinen Weihnachten: Trotz des monsunartigen Regens war es super, da er viel von Passanten geschenkt bekommen hat. Da fÀllt ihm was ein: Er kramt ein Zippo aus seiner Tasche und hÀlt es uns vor die Nase.
»Look at this! Read whatâs written there«, lacht er diebisch.
»Not a Zippo â Made in China«, liest Cari die Gravur laut vor. Das freut ihn und er lacht laut auf. Er will wissen, ob wir in einem Hostel wohnen. Wir erklĂ€ren ihm, was Couchsurfing ist und dass wir versuchen, ein Sofa fĂŒr die Nacht zu finden. Mit Caris Handy haben wir bereits inseriert und ein paar Leute angeschrieben. Allerdings wissen wir noch nicht, wie erfolgreich wir sein werden. Auch deswegen verabschieden wir uns schlieĂlich vom netten Riesen. Er bedankt sich fĂŒr die Unterhaltung und bietet uns an, die Nacht bei ihm auf der StraĂe zu verbringen. Wir lassen ihn wissen, dass wir vielleicht sogar darauf zurĂŒckkommen, falls wir nichts finden, und verabschieden uns von ihm.
So wie es aussieht, dĂŒrften wir aber tatsĂ€chlich Erfolg mit dem Couchsurfing haben: ZunĂ€chst haben wir drei Zusagen: die erste kommt von einem Zwilling, der uns allerdings wieder auslĂ€dt, als er hört, dass nicht nur Cari, sondern auch ich komme. Die zweite Zusage ist eine »Emergency Couch« von Casey. Falls wir nichts finden, können wir bei ihm in einer Ecke im Keller schlafen. Er wohnt nahe am Strand im Sunset District. Unsere einzig wirkliche Zusage kommt von Alex. Und da mĂŒssen wir nun auch langsam hin. Wir nehmen den BART, der an der Kreuzung Mission und 24th zur Powell Street fĂ€hrt, holen unser GepĂ€ck im Adelaide Hostel ab und fahren mit dem Muni der Linie K in Richtung Balboa Park. Die Tickets kaufen wir einem Obdachlosen auf der StraĂe fĂŒr einen Dollar ab.
Man wird einmal mehr nicht ĂŒber die aktuellen Haltestellen informiert. An einer Haltestelle denke ich â recht spĂ€t â, dass es die unsere sein mĂŒsste, und lasse Cari wissen, dass wir sofort raus mĂŒssen. Wir können die Tram gerade noch rechtzeitig verlassen ⊠und stellen fest, dass ich mich geirrt habe. GlĂŒcklicherweise mĂŒssen wir nicht wirklich warten, da der nĂ€chste Zug direkt anrĂŒckt. Wir sitzen nun in der Linie M, als Cari auf einmal geschockt: »Where is my bag?«, fragt. Wie jetzt? Ich schaue mich um. Nirgends ist Caris Trolley zu sehen.
»Did you have it when we entered the train?«
»I donât think so.«
ScheiĂe. Sie hat in der Hektik ihren Trolley entweder im Zug der K-Linie oder an der Haltestelle stehen lassen. Das gibtâs doch nicht. Ich frage den ZugfĂŒhrer, ob er den Fahrer des Zugs vor uns anrufen kann. Kann er nicht. Wir mĂŒssen die 311 anrufen. Das ist die Hotline von Muni. Wir rufen an und berichten von unserem Dilemma. Der Zug vor uns biegt derweil in eine andere Richtung ab. An der nĂ€chsten Haltestelle verlassen wir die Tram wieder und fahren mit dem entgegenkommenden Zug zurĂŒck. Falls Cari ihren Trolley dort hat stehen lassen, steht er ja vielleicht noch da. Er steht nicht da ⊠und ich kann es noch immer nicht fassen, dass Muni seine ZugfĂŒhrer nicht kontaktieren kann. Das wĂ€re doch das schnellste, unbĂŒrokratischste und sicherste Verfahren. Trotz mehrmaligen Fragens strĂ€uben sie sich aber. Und was können wir jetzt noch unternehmen, um Caris sĂ€mtliche Klamotten wiederzubekommen? Offensichtlich nichts, nur hoffen. GroĂartig.
Wir haben uns mit Alex vor der Stonestown Galleria Mall verabredet. Er schreibt uns, dass er wegen der Arbeit etwas lĂ€nger brauchen wird. Wir sitzen zunĂ€chst an der StraĂe auf Knecht Ruprechts Sack. Hier ziehtâs allerdings wie Hechtsuppe, weswegen wir uns in windgeschĂŒtztere Gefilde zurĂŒckziehen. Vor einem italienischen Restaurant, dem Olive Garden, setzen wir uns auf eine Bank. Wenige Meter neben uns macht sich eine Gruppe Jugendlicher breit: Sie rauchen einen Blunt. Als sie sich dazu entscheiden, ins Restaurant zu gehen, kommen sie zu uns und drĂŒcken uns den Blunt in die Hand. Tse, diese Kinder.
Als Alex endlich ankommt, kĂŒndigt er an, dass wir nun in eine Bar gehen. Wir fragen, ob es nicht möglich wĂ€re, erst einmal unser verbliebenes GepĂ€ck bei ihm abzustellen. Er verneint. Wir nehmen ein Taxi, das er bezahlt und fahren zu einer Bar, die in der NĂ€he von West Portal ist. Toll, da kamen wir vorhin vorbei â als wir noch unser komplettes GepĂ€ck beisammenhatten. HĂ€tte er frĂŒher angekĂŒndigt, dass wir hier landen, hĂ€tten wir nicht in der KĂ€lte warten mĂŒssen und hĂ€tten auch Caris Trolley nicht verloren. Das können und wollen wir ihm aber natĂŒrlich nicht ankreiden. Die Deppen dieser Geschichte heiĂen Cari und Dennis.
Alex ist 41, sieht aber eher wie 25 aus. Er ist zu 50 % Sizilianer. Die andere HĂ€lfte ist englisch, aus London. Er arbeitet im Filmbusiness, bei Marvel. Fett! Ich lasse ihn wissen, dass ich auch Filme mache. Das scheint ihn aber nicht sonderlich zu faszinieren. Ăberhaupt schaut er mehr auf sein Handy als in unsere Gesichter. Mit ihm eine Kommunikation zu fĂŒhren ist schwer. Aber er scheint soweit ganz okay zu sein. Strange, aber okay. Als wir zahlen wollen, verbietet er uns, Geld auszupacken. Er will zahlen. Wow, das ist wirklich nett. Wir bedanken uns brav fĂŒr die GetrĂ€nke und auch dafĂŒr, dass er uns so spontan beherbergt. Plötzlich schaut er etwas verkniffen drein und meint, dass wir ihm dafĂŒr noch nicht danken sollen. Was hat das denn zu bedeuten? Er sagt, dass er noch nicht weiĂ, ob er uns hosten kann. What?! Die Mutter seines Mitbewohners ist schwer erkrankt, weswegen er uns womöglich nicht bei sich ĂŒbernachten lassen kann. Das soll er dann mal in Erfahrung bringen, bitten wir ihn. Mittlerweile ist es spĂ€t, nach 23 Uhr, und wir benötigen einen Schlafplatz. Er erreicht seinen Mitbewohner nicht und will uns auf einmal ein Hotelzimmer buchen. Ein Hotelzimmer? Das preiswerteste Hotel, das er findet, befindet sich am Flughafen. Das finde ich jedoch nicht so toll, weil wir den riesigen Sack mit BettwĂ€sche und Zelt herumschleppen, der BART zurĂŒck in die Stadt pro Nase zehn Dollar kostet und ich vor allen Dingen ungern Geld von ihm nehmen will. Andererseits: Er hatâs verkackt. Ich schlage ihm vor, dass er auch mal bei Hostels und nicht nur bei Hotels anruft. Will er nicht. Ist wohl unter seinem Niveau. So langsam finde ich den Vogel echt merkwĂŒrdig. Plötzlich fragt er uns, wie viel wir zum Zimmer beisteuern können. Ăhm, nichts? Ich mag ihn nicht. Er erreicht endlich seinen Mitbewohner, mit dem er sich ĂŒbrigens ein riesiges Haus teilt, wovon sie nur zehn Prozent bewohnen. Soll uns diese Information darauf hinweisen, dass er sich einen ziemlich dĂ€mlichen Scherz mit uns erlaubt? Sein Mitbewohner will uns nicht da haben. Super. Ich schlage vor, dass wir uns in das riesige Haus schleichen und morgen frĂŒh genauso still und leise wieder abhauen. Die Idee kommt nicht gut an. Alexâ Mitbewohner wĂŒrde uns aber abholen und zu Caseys »Notfallcouch« fahren. HĂ€?! Das ist weniger Stress als zwei mĂŒden GĂ€sten die TĂŒr aufzuschlieĂen? Seltsame Typen sind das. In der Zwischenzeit haben wir Casey angeschrieben. Obwohl es bereits nach Mitternacht ist, kommt tatsĂ€chlich eine positive Antwort. Ein GlĂŒck âŠ
Neben uns sitzt auf einmal Michelle an der Bar, die schnell mit dem schnieken Alex zu flirten beginnt. Sie hört meinen Akzent und stellt die ĂŒblichen Fragen. Als ich Michelle vom Couchsurfen erzĂ€hle, Ă€uĂert sie, wie toll es ist, dass Alex uns Fremde bei sich aufnimmt und so ein guter Host ist.
»Well, he isnât«, bemerke ich.
Cari schmeiĂt sich weg und auch Michelle lacht auf. Alex hingegen springt plötzlich auf und verlĂ€sst fluchtartig und offensichtlich auf 180 die Bar. Ich wundere mich, weswegen er sich wegen der ausgesprochenen Wahrheit, ĂŒber die wir ja schon seit Minuten diskutieren, so aufregen kann. Cari schĂŒttelt den Kopf und teilt mir mit, dass er nicht wegen mir, sondern wegen einer Sache, die Michelle im GelĂ€chter zu ihm gesagt hat, abgehauen ist. Aha. Ich will trotzdem auf Nummer sicher gehen und folge dem Rumpelstilzchen. Alex, der wie ein Berserker an seiner Kippe zieht, bestĂ€tigt Caris Theorie. Der Kollege ist kurz vorm Ausbrechen, versucht sich aber selbst zu beruhigen. Da hat jemand ernsthafte Probleme, denke ich mir, als Michelle die Szenerie betritt. Tja, und schon explodiert der kleine Mann: »Youâre a fucking cunt! Fuck you!«
Die Fotze soll mal wieder nĂŒchtern werden. So wie sie aussieht, habe sie ja sowieso ein Alkoholproblem und was sie sich einbilde, so mit ihm zu reden, den Psychoanalysten raushĂ€ngen zu lassen, aber selbst so ein beschissenes Wrack zu sein. Fotze, Fotze, Fotze und so weiter und so krank.
WĂ€hrend er noch am BrĂŒllen ist, kommt der Mitbewohner vorgefahren. Cari und Alex steigen ein und der Mitbewohner fĂ€hrt los. Ich hingegen bin noch nicht richtig im Auto. Mit der linken Hand halte ich meinen Rucksack im Auto fest, wĂ€hrend ich mit dem rechten FuĂ auf der StraĂe renne â Mein linker FuĂ ist bereits eingestiegen. Der tolle Fahrer stoppt dankenswerterweise noch einmal, sodass ich doch noch komplett einsteigen kann. Alles cool.
Er lÀsst uns vor Caseys Haus in der 48th Avenue raus. Als wir aussteigen, bekommen wir mitgeteilt, dass wir ab morgen wieder bei Alex unterkommen könnten. Sollen wir das wirklich glauben und vor allen Dingen: Wollen wir das? Auf nimmer Wiedersehen.
Casey ist noch nicht zu Hause. Wir sollen wegen seiner Mitbewohner auch bitte nicht klingeln, sondern vor dem Haus auf ihn warten. WĂ€hrend wir warten, kommen plötzlich zwei groĂe Tiere die StraĂen entlanggeschlichen. Sind das etwa âŠ? TatsĂ€chlich: Es sind WaschbĂ€ren, die durch die nĂ€chtliche StraĂe pirschen! Ja, Wahnsinn! Cari schleicht den beiden Tieren umgehend mit ihrem Smartphone hinterher. Die WaschbĂ€ren bemerken sie dennoch und flĂŒchten auf einen Baum. Ihr Foto bekommt sie trotzdem hin.
Unmittelbar nach den WachbÀren kommt eine Gruppe von Leuten auf uns zu.
»There are raccoons!«, lasse ich die Leute vollkommen begeistert wissen.
»Yes«, grinst mich einer der vier Freunde an, »that happens more often. Youâre Dennis, right? Iâm Casey. You might see more raccoons in the next nights.«
Unser Notfallgastgeber ist mir vom ersten Moment an extrem sympathisch. Ich freue mich ja schon fast darĂŒber, dass Alex so bescheuert war und wir nun bei Casey bleiben dĂŒrfen. Casey ist wirklich genial: Er hostet zwei Australier und bringt heute noch eine Frau mit, die von ihrem Date versetzt wurde. Da sie so bedröppelt dreinschaute, haben er und die beiden Aussies sie angesprochen und sich dazu entschieden, ihr Date zu ersetzen. Die vier haben Pizza mitgebracht. Der Fernseher wird eingeschaltet. Auf Netflix gibtâs »Adventure Time«. Das ist eine Zeichentrickserie, die man sich nur bekifft angucken kann. Das denkt sich auch Casey und packt sein Pfeifchen aus.
Gegen halb vier will die versetzte Frau nach Hause. Sie wohnt in der East Bay. Casey fordert Cari und mich auf, sie gemeinsam zum Auto zu bringen. Er will uns etwas zeigen. Das klingt gut. Wir bringen die nun doch GlĂŒckliche sicher zu ihrem Wagen und lassen uns danach von Casey fĂŒhren. Der Weg ist nicht weit. Wie wir erfreut und begeistert feststellen dĂŒrfen, wohnt Casey gerade einmal einen Block vom ĂŒber fĂŒnf Kilometer langen Ocean Beach entfernt. Um zum Strand zu gelangen, muss man den Great Highway ĂŒberqueren. TagsĂŒber eine stark befahrene StraĂe, ist um kurz vor vier weit und breit kein Auto in Sicht. Der Vollmond scheint auf uns hinab und die Lichter der Stadt sind in unserem RĂŒcken. Es herrscht eine tolle AtmosphĂ€re, die durch den ĂŒber den Strand schwebenden Algenschaum noch zusĂ€tzlich an Reiz gewinnt. Algenschaum entsteht dadurch, dass die Brandung das ins Wasser freigesetzte EiweiĂ sterbender Algen zu Schaum schlĂ€gt. Das Resultat sind kleine Schaumkronen, die vom Wind ĂŒber den Strand gefegt werden. Es ist ein aberwitziges Bild, das Cari zum Schauminselchen jagenden Kind werden lĂ€sst. Casey und ich legen uns derweil auf eine DĂŒne und quatschen. Casey ist Schauspieler. DemnĂ€chst wird er an einem College zusĂ€tzlich noch ein wissenschaftliches Studium beginnen. Bis dahin will er so viele Couchsurfer wie möglich beherbergen. Als Host ist er noch nicht sehr lange aktiv. Er hat aber groĂen SpaĂ daran und will weltweite Kontakte knĂŒpfen. Noch ertragen seine Mitbewohner seine Flut an GĂ€sten; eben weil das Ende bereits in Sicht ist. Allzu begeistert sind sie dennoch nicht. Das juckt ihn aber wenig. SchlieĂlich benötigen Leute wie Cari und ich auch Hilfe. Da kann er nicht einfach wegschauen. Der erste Eindruck bestĂ€tigt sich: Casey rockt und seine Wohnlage ist ganz offensichtlich schlichtweg genial. Mal schauen, wie lange wir bleiben können âŠ
Diese Kinder auf dem Spielplatz sehen eleganter aus als Du im gleichen Alter. Ich gebe zu, dass ich da bei der Erziehung versagt habe.
Aber ich will einfach nicht glauben, dass ich erziehungstechnisch total versagt habe!?!? Hast Du Deine gute Kinderstube vergessen, als Du Cari als "blöde Kuh" bezeichnest? JUNGE, SO ETWAS SCHREIBT MAN DOCH NICHT!!!
Es tut mir ja so leid. Ich wollte Dich nicht enttĂ€uschen, Mutter. đ
Du hast aber offensichtlich einen besseren Job gemacht, als Alexâ Mutter. Na, das ist doch was!
Und versagt hast Du ganz sicher nicht, bin doch ein formidabler Prachtbursche geworden. đ