Tag 48: Vom Ocean Beach nach Mittelerde

Serendipity – Teil 1

2012 12 27 16.55.26

Tag 48: Donnerstag, 27. Dezember 2012
San Francisco

Seite 1Seite 2

Wir mussten nicht im Keller schlafen, sondern durften uns auf dem Fußboden des Wohnzimmers breitmachen. Die Aussies hauen schon frĂŒh am Morgen ab. Die Sonne scheint und unser Tag beginnt aufgrund der langen Nacht erst am frĂŒhen Nachmittag. Caris Trolley ist noch nicht wieder aufgetaucht. Das kann aber auch mehrere Tage in Anspruch nehmen, teilt man uns mit. Was ein Schwachsinn. HĂ€tten die Deppen ihren ZugfĂŒhrer direkt kontaktiert, hĂ€tten wir den Koffer lĂ€ngst wieder. Jetzt mĂŒssen wir darauf warten, bis die bĂŒrokratischen MĂŒhlen des Muni-FundbĂŒros die Ankunft des Koffers ausspucken â€“ falls er dort jemals landen sollte.
Nachdem er uns einlĂ€dt, weiterhin bei ihm zu bleiben, zeigt uns Casey die Nachbarschaft und die ĂŒberschaubare Auswahl an CafĂ©s und Restaurants, die FrĂŒhstĂŒck und Brunch anbieten. Die bunten HĂ€user des Sunset District sind flach und klein: Kaum ein Haus hat mehr als drei Stockwerke. Hinzu kommt, dass die grĂ¶ĂŸtenteils gĂ€nzlich unbefahrenen Straßen enorm breit sind. Flache HĂ€user und breite Straßen fĂŒhren dazu, dass San Franciscos Westen sonnendurchflutet ist. Nachdem Casey uns mit der Umgebung vertraut gemacht hat, verabschiedet er sich und wĂŒnscht uns einen schönen Tag.

Gegen 15 Uhr landen Cari und ich in der Beachside Coffee Bar & Kitchen an der Ecke 48th Avenue und Judah Street, wo ich ein leckeres, aber nicht wirklich preiswertes Tofu Sandwich verdrĂŒcke. Der Brunch könnte wenigstens etwas preiswerter gestaltet werden, wenn Cari nicht immer 20 % Trinkgeld geben wĂŒrde. Ich finde das maßlos ĂŒbertrieben, zehn oder 15 reichen meiner Meinung nach vollkommen aus. Da Cari aber selbst mal Kellnerin war, erklĂ€rt sie mir, was ich auch schon weiß: Bedienungen sind in Amerika nun einmal auf ihre Trinkgelder angewiesen. Ich sehe es aber wohl wie Mr. Pink aus »Reservoir Dogs«: Soll doch der Chef seine Angestellten anstĂ€ndig bezahlen und sie nicht vom Trinkgeld abhĂ€ngig machen.

Cari kennt die hollĂ€ndischen WindmĂŒhlen des Golden Gate Park nicht. Grandios! Ich kann ihr etwas zeigen, das sie noch nicht kennt. Das westliche Ende des riesigen Parks ist gerade einmal zwei Blocks von uns entfernt. Die WindmĂŒhlen begrenzen den Park im SĂŒden und im Norden.

<center>Die WindmĂŒhlen des Golden Gate Park</center>
Die Errichtung der beiden WindmĂŒhlen wurde 1902 beschlossen, um zur Versorgung des Parks Grundwasser an die OberflĂ€che zu pumpen. Die nördliche WindmĂŒhle, die zunĂ€chst North Windmill und spĂ€ter Dutch Windmill genannt wurde, ist die Ă€ltere. Ihre Fertigstellung war 1903. Wir schauen uns die sĂŒdliche MĂŒhle an, die 1908 in Betrieb genommen und nach dem Stifter, einem Banker namens Samuel G. Murphy benannt wurde. 1915 diente Murphy’s Windmill als Kulisse in Charlie Chaplins Kurzfilm »EntfĂŒhrung«. Über mehrere Jahrzehnte versorgten die MĂŒhlen den Park, bis sie von moderneren Wasserpumpen abgelöst wurden.

Die Sonne senkt sich bereits. Groß in den Park hinein schaffen wir es daher nicht und bleiben an seinem westlichen Ende. Mein HippiemĂ€dchen pflĂŒckt Blumen und flicht sich daraus einen Kopfschmuck.

Wir ĂŒberqueren den Great Highway, um uns den Sonnenuntergang am Strand anzuschauen. Es ist spektakulĂ€r, wie der Feuerball scheinbar im Meer versinkt und den Horizont gelb und rot strahlen lĂ€sst. Die Wellen treffen rau auf den Strand und nĂ€ssen den Sand bis zu unseren FĂŒĂŸen. Fließt das Wasser bis zur Brechung der nĂ€chsten Welle wieder zurĂŒck, spiegeln sich die letzten Strahlen der Sonne im feuchten Sand, der sich im SĂŒden bis zur Sichtgrenze hinzieht. Ein riesiges Frachtschiff verlĂ€sst die Bay und steuert hinauf aufs offene Meer. Möwen fliegen in kleinen SchwĂ€rmen knapp ĂŒber dem Sand und ĂŒber dem Wasser, wĂ€hrend am Himmel die wenigen Wolken fĂŒr das endgĂŒltige Postkarten-Feeling sorgen. Hinter uns reflektieren die Fensterscheiben der angrenzenden HĂ€user das Gold des Himmels. San Francisco leuchtet. Das Licht der Sonne wird vom Schein des vollen Mondes abgelöst, der zwischen den WindmĂŒhlen aufgegangen ist. Was fĂŒr eine AtmosphĂ€re. Und das können sich die Bewohner dieser paradiesischen Stadt tagtĂ€glich anschauen! WĂ€re es ohne Weiteres möglich, ich wĂŒrde sofort herziehen: Ich liebe San Francisco â€Š
Außer uns haben noch wenige andere Menschen den Weg zur untergehenden Sonne gefunden. Ein deutscher Papa und seine beiden Kinder laufen ĂŒber den Strand: »Lauf, lauf!«, versucht der Vater seine lustige Tochter zum Weitergehen zu animieren. Cari fragt, ob das Deutsch ist. Ich nicke, woraufhin sie wissen will, was er da ruft. Als sie ihren Blumenkranz vollendet hat, dreht sie sich nach der kleinen Familie um und stellt enttĂ€uscht fest, dass sie weg sind: »Where is the little â€șlaufâ€č girl?«
»I don’t know. Why?«
»I wanted to make her a little present«, sagt sie, wÀhrend sie auf ihren Blumenkranz schaut.

Weiter geht’s auf Seite 2

Wir haben ein gutes Timing, als wir bei Casey ankommen. Er will gerade mit seinem Kumpel Alex ins Kino und fragt, ob wir mitkommen möchten: »Der Hobbit« lÀuft. Da sind wir auf jeden Fall dabei!
Alex ist ein ulkiger Zeitgenosse. Wie Casey scheint er viel â€“ zu viel â€“ Zeit mit dem Zocken von Videospielen und dem Schauen von Fernsehserien zu verbringen. Der breitgewachsene Mann mit dem dunklen Vollbart erinnert mich an den ComicbuchverkĂ€ufer von den »Simpsons«. Bei ihm dreht sich alles um Comics, Filme, Serien und Videospiele. Gemeinsam mit dem kleinen, aber bulligen Casey, gibt er das optimale Duo fĂŒr ein nerdy Buddy-Movie ab: Die beiden diskutieren alles, wirklich alles. In ihren Diskussionen stacheln sie sich immer weiter gegenseitig an. Besonders Casey scheint eine spitzbĂŒbische Freude daran zu haben, Alex weiter aufzuhetzen. Das lĂ€sst er sich allerdings nicht allzu offensichtlich anmerken. Er verharrt stets in einem ernsten Gesichtsausdruck und legt seine Argumente nĂŒchtern dar. Dann hört er sich Alex’ Gegenargumente an und wartet fĂŒr einen Moment still ab. Alex wĂ€hnt sich somit schon auf der Siegerstraße, bis Casey urplötzlich bissig lakonisch zurĂŒckschlĂ€gt. Der gemĂŒtliche Alex wird dabei das eine oder andere Mal ĂŒberrumpelt und muss sich seine Gegenoffensive erst nervös konzentriert zurechtlegen. Manchmal gelingt es Casey in den Momenten von Alex’ Gedankensortierung den »Finishing Move« zu platzieren und die Diskussion mit einem weiteren Argument zum Erliegen zu bringen â€Š bis das Thema entweder wieder hochkocht oder eine neue These diskussionswĂŒrdig wird. Und das ist so ziemlich jeder zweite Satz, der von einem der beiden ausgesprochen wird. Cari und ich sind Zeugen einer echten MĂ€nnerfreundschaft zweier Pot rauchender Nerds. Es ist urkomisch.
Alex ist ein sehr konzentrierter Autofahrer, was einem durchaus ein leichtes Unbehagen bereiten kann. Er kommentiert regelmĂ€ĂŸig die in seinen Augen riskanten Fahrweisen der anderen Autofahrer und zittert alle zwei Blocks: »Oh, oh, oh. That was close.«
Als wir das Kino an der Ecke Mission und 4th Street erreichen, waren wir letztlich kein einziges Mal in Gefahr, die Fortbewegung durch die RealitĂ€t außerhalb der Computerspielewelt fĂŒr Alex aber sichtlich ein Abenteuer.

2012 12 27 23.44.41

Der Wagen wird im Parkhaus gegenĂŒber abgestellt, das sich wiederum neben dem Moscone Center befindet, in dem Apple laut Alex immer seine coolen neuen Sachen der Welt prĂ€sentiert.
Das Multiplexkino mit dem kruden Namen »AMC Metreon 16« wurde von unseren »Laurel und Hardy« ausgewĂ€hlt, da es »Der Hobbit« in 3D und mit der neuen High Frame Rate zeigt. Der Film ist der erste Kinofilm der Geschichte, der anstelle der ĂŒblichen 24 Bilder, ganze 48 Bilder pro Sekunde vor dem Zuschauerauge flimmern lĂ€sst. In Europa haben wir ĂŒbrigens einen Standard von 25 Bildern in der Sekunde. Deswegen haben Langfilme in Amerika ĂŒblicherweise auch eine rund fĂŒnf Minuten lĂ€ngere Laufzeit, als dieselben Filme in europĂ€ischen Kinos haben. Ja, die verrĂŒckte Welt der Technik.
Wir haben noch etwas Zeit, die Alex zum Essen nutzt. Im Kinokomplex gibt es eine reiche Auswahl an Fast-Food-Restaurants. Allerdings handelt es sich dabei nicht um die berĂŒhmten Riesenketten, sondern um â€“ zumindest mir â€“ unbekannte LĂ€den. Alex ordert sich ein Sandwich, das lediglich mit Fleisch und KartoffelpĂŒree belegt ist. WĂ€hrend er das mĂ€chtige Ding verdrĂŒckt, erzĂ€hlt er uns von seiner juice diet. Bei dieser DiĂ€t werden ausschließlich FrĂŒchte und frisch gepresste SĂ€fte konsumiert. Letztes Jahr hat er damit sage und schreibe 60 Kilo verloren. Den Beweis liefern Fotos, die er auf seinem Smartphone gespeichert hat. Die 60 Kilo hat er sich dieses Jahr allerdings wieder zurĂŒckgefuttert. Nun hat er dem Speck aber erneut den Kampf angesagt â€Š dieses Sandwich ist nur mal eine Ausnahme.
Um Kinotickets zu kaufen, kann man sich entweder in der Schlange vor den Kassen anstellen oder aber die brandneuen Ticketmaschinen benutzen. Diese Touchscreens funktionieren im Prinzip wie Ticketautomaten an Bahnhöfen. Erst wĂ€hlt man den Film aus, entscheidet, ob man ihn â€“ falls angeboten â€“ in 3D, 3D mit High Frame Rate oder ganz klassisch sehen möchte, dann die VorfĂŒhrzeit und den Kinosaal, Anzahl der Tickets auswĂ€hlen, mit Kreditkarte zahlen und schon ist’s geschafft. Mit dem Aufzug geht’s hinauf zu den KinosĂ€len. Noch schnell den Kartenkontrolleur ĂŒberwinden und schon geht’s ins â€Š
»Where is your ticket?«, fragt der Mann am Einlass Cari.
Ich mache ihn darauf aufmerksam, dass ich ihm unser Ticket gezeigt habe.
»Yes, but it was only one ticket. I can’t let you in.«
Ich bin verwirrt. Aus dem Automaten kam doch nur ein Billett? Ich versuche es dem ziemlich unbeeindruckten und mitleidslosen Typen zu erklÀren.
»Go downstairs to the guest service. In case you really bought two tickets with your credit card, they might be able to check it.«
Als Cari den letzten Satz des Typen hört, wird sie sauer: »In case you really bought two tickets?«, empört sie sich. Die Unterstellung, wir könnten uns hier den Eintritt erschleichen wollen, findet sie unerhört. Ich versuche sie zu beruhigen und beschwöre sie, lieber schnell mit mir zum guest service zu rennen, bevor wir den Anfang verpassen.
Die Dame an der Kasse im Erdgeschoss, deren linkes Auge keine Iris, sondern nur eine wild hin und her springende Pupille hat, macht uns darauf aufmerksam, dass sich der Guest Service im Obergeschoss, direkt neben dem Kartenkontrolleur befindet. SpĂ€testens jetzt mag ich den Kontrolletti auch nicht mehr. Beim Guest Service wird schnell gecheckt, ob mit meiner Kreditkarte tatsĂ€chlich zwei Tickets gekauft wurden. Der Kauf wird bestĂ€tigt und uns ein neues Ticket ausgedruckt. Wow! Das ist ja mal cool. Cari kann es sich nicht verkneifen, dem Ticketabreißer noch einen Spruch zu drĂŒcken und dann geht’s endlich und zum GlĂŒck rechtzeitig ins Auenland. Bevor die Lichter komplett ausgehen, hĂ€lt Casey uns noch etwas unter die Nase: »Here.«
»What is it?«, frage ich.
»Eatables.«
»THC?«
»Makes the colors and the 3D look even better!«, grinst er und drĂŒckt Cari und mir die Tabletten aus purem Marihuana in die Hand. Bilbo, Gandalf und die Zwerge besuchen 90 Minuten spĂ€ter Elrond in Bruchtal, als ich meine Augen nicht mehr aufhalten kann und einschlafe. Kurz vor dem Kampf der Steingiganten wache ich wieder auf. Na, super. Wie lange war ich weg? Cari geht’s derweil genauso â€Š Ich bezweifle, dass es am THC liegt, sondern denke, dass vielmehr die High Frame Rate Schuld daran ist, dass mir das unglaublich realistische Bild des Films nicht gefĂ€llt. Die Lichter wirken ĂŒbertrieben, was aber auch am 3D liegen kann. Zumindest habe ich diesen Kritikpunkt fast jedes Mal, wenn ich einen Realfilm in 3D sehe. Die Bewegungen wirken zu rund und generell wirkt einfach alles viel zu realistisch. Der körnige Filmlook geht durch die neue Technik komplett flöten und lĂ€sst den Multimillionenfilm eher wie ein digitales Billigprodukt einer Fernsehanstalt wirken. Hoffentlich setzt sich das nicht durch.
Nach dem Film verlassen wir das Multiplex durch die HintertĂŒr und finden uns in den Yerba Buena Gardens wieder. Der schön und grĂŒn angelegte ĂŒberschaubare Park hat einen kleinen Wasserfall, der schön beleuchtet wird und den man sich von allen Seiten anschauen kann. Am anderen Ende des Parks, an der 3rd Street, befindet sich das SFMOMA, das San Francisco Museum of Modern Art. Cool, das wĂ€re doch mal ein gutes Ausflugsziel fĂŒr die nĂ€chsten Tage, denken Cari und ich. Auch die rote St. Patrick's Catholic Church grenzt an die Yerba Buena Gardens. Der gotische Bau stammt aus dem Jahre 1851.
Alex kann dank einer App ein Panoramafoto schießen. Er ist mal wieder höchst konzentriert, wĂ€hrend Cari nicht minder fokussiert nach irgendetwas in ihrer Tasche kramt und Casey in seiner unnachahmlich lĂ€ssigen Standardpose eine Kippe raucht. Wir sind eine ziemlich bunte Gang. Ein Parksicherheitsmann kommt hinzu und weist uns darauf hin, dass im Park nicht geraucht werden darf. Beim Nichtraucherschutz sind die Amis rigide.

Am Himmel entdecke ich einen Lichtschein, der sich weitlĂ€ufig wie ein perfekter Kreis um den Mond zieht. So etwas habe ich noch nie gesehen. Aber in dieser Stadt darf man sich ĂŒber optische Leckerbissen nicht wundern â€Š die begegnen einem schließlich jeden Tag.

2012 12 28 00.25.12

Quellen
Informationen zu den WindmĂŒhlen im Golden Gate Park: Wikipedia und outsidelands.org
Die Info, dass die St. Patrick’s Catholic Church 1851 erbaut wurde, habe ich ebenfalls von Wikipedia

Tag 47   Inhaltsverzeichnis   Tag 49

0 0 votes
Article Rating
Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest

0 Comments
Inline Feedbacks
Lies alle Kommentare
0
Would love your thoughts, please comment.x