Tag 48: Vom Ocean Beach nach Mittelerde
Serendipity – Teil 1

Tag 48: Donnerstag, 27. Dezember 2012
San Francisco
Nachdem er uns einlädt, weiterhin bei ihm zu bleiben, zeigt uns Casey die Nachbarschaft und die überschaubare Auswahl an Cafés und Restaurants, die Frühstück und Brunch anbieten. Die bunten Häuser des Sunset District sind flach und klein: Kaum ein Haus hat mehr als drei Stockwerke. Hinzu kommt, dass die größtenteils gänzlich unbefahrenen Straßen enorm breit sind. Flache Häuser und breite Straßen führen dazu, dass San Franciscos Westen sonnendurchflutet ist. Nachdem Casey uns mit der Umgebung vertraut gemacht hat, verabschiedet er sich und wünscht uns einen schönen Tag.
Gegen 15 Uhr landen Cari und ich in der Beachside Coffee Bar & Kitchen an der Ecke 48th Avenue und Judah Street, wo ich ein leckeres, aber nicht wirklich preiswertes Tofu Sandwich verdrücke. Der Brunch könnte wenigstens etwas preiswerter gestaltet werden, wenn Cari nicht immer 20 % Trinkgeld geben würde. Ich finde das maßlos übertrieben, zehn oder 15 reichen meiner Meinung nach vollkommen aus. Da Cari aber selbst mal Kellnerin war, erklärt sie mir, was ich auch schon weiß: Bedienungen sind in Amerika nun einmal auf ihre Trinkgelder angewiesen. Ich sehe es aber wohl wie Mr. Pink aus »Reservoir Dogs«: Soll doch der Chef seine Angestellten anständig bezahlen und sie nicht vom Trinkgeld abhängig machen.
Cari kennt die holländischen Windmühlen des Golden Gate Park nicht. Grandios! Ich kann ihr etwas zeigen, das sie noch nicht kennt. Das westliche Ende des riesigen Parks ist gerade einmal zwei Blocks von uns entfernt. Die Windmühlen begrenzen den Park im Süden und im Norden.
Die Sonne senkt sich bereits. Groß in den Park hinein schaffen wir es daher nicht und bleiben an seinem westlichen Ende. Mein Hippiemädchen pflückt Blumen und flicht sich daraus einen Kopfschmuck.
Wir überqueren den Great Highway, um uns den Sonnenuntergang am Strand anzuschauen. Es ist spektakulär, wie der Feuerball scheinbar im Meer versinkt und den Horizont gelb und rot strahlen lässt. Die Wellen treffen rau auf den Strand und nässen den Sand bis zu unseren Füßen. Fließt das Wasser bis zur Brechung der nächsten Welle wieder zurück, spiegeln sich die letzten Strahlen der Sonne im feuchten Sand, der sich im Süden bis zur Sichtgrenze hinzieht. Ein riesiges Frachtschiff verlässt die Bay und steuert hinauf aufs offene Meer. Möwen fliegen in kleinen Schwärmen knapp über dem Sand und über dem Wasser, während am Himmel die wenigen Wolken für das endgültige Postkarten-Feeling sorgen. Hinter uns reflektieren die Fensterscheiben der angrenzenden Häuser das Gold des Himmels. San Francisco leuchtet. Das Licht der Sonne wird vom Schein des vollen Mondes abgelöst, der zwischen den Windmühlen aufgegangen ist. Was für eine Atmosphäre. Und das können sich die Bewohner dieser paradiesischen Stadt tagtäglich anschauen! Wäre es ohne Weiteres möglich, ich würde sofort herziehen: Ich liebe San Francisco …
Außer uns haben noch wenige andere Menschen den Weg zur untergehenden Sonne gefunden. Ein deutscher Papa und seine beiden Kinder laufen über den Strand: »Lauf, lauf!«, versucht der Vater seine lustige Tochter zum Weitergehen zu animieren. Cari fragt, ob das Deutsch ist. Ich nicke, woraufhin sie wissen will, was er da ruft. Als sie ihren Blumenkranz vollendet hat, dreht sie sich nach der kleinen Familie um und stellt enttäuscht fest, dass sie weg sind: »Where is the little ›lauf‹ girl?«
»I don’t know. Why?«
»I wanted to make her a little present«, sagt sie, während sie auf ihren Blumenkranz schaut.
Alex ist ein ulkiger Zeitgenosse. Wie Casey scheint er viel – zu viel – Zeit mit dem Zocken von Videospielen und dem Schauen von Fernsehserien zu verbringen. Der breitgewachsene Mann mit dem dunklen Vollbart erinnert mich an den Comicbuchverkäufer von den »Simpsons«. Bei ihm dreht sich alles um Comics, Filme, Serien und Videospiele. Gemeinsam mit dem kleinen, aber bulligen Casey, gibt er das optimale Duo für ein nerdy Buddy-Movie ab: Die beiden diskutieren alles, wirklich alles. In ihren Diskussionen stacheln sie sich immer weiter gegenseitig an. Besonders Casey scheint eine spitzbübische Freude daran zu haben, Alex weiter aufzuhetzen. Das lässt er sich allerdings nicht allzu offensichtlich anmerken. Er verharrt stets in einem ernsten Gesichtsausdruck und legt seine Argumente nüchtern dar. Dann hört er sich Alex’ Gegenargumente an und wartet für einen Moment still ab. Alex wähnt sich somit schon auf der Siegerstraße, bis Casey urplötzlich bissig lakonisch zurückschlägt. Der gemütliche Alex wird dabei das eine oder andere Mal überrumpelt und muss sich seine Gegenoffensive erst nervös konzentriert zurechtlegen. Manchmal gelingt es Casey in den Momenten von Alex’ Gedankensortierung den »Finishing Move« zu platzieren und die Diskussion mit einem weiteren Argument zum Erliegen zu bringen … bis das Thema entweder wieder hochkocht oder eine neue These diskussionswürdig wird. Und das ist so ziemlich jeder zweite Satz, der von einem der beiden ausgesprochen wird. Cari und ich sind Zeugen einer echten Männerfreundschaft zweier Pot rauchender Nerds. Es ist urkomisch.
Alex ist ein sehr konzentrierter Autofahrer, was einem durchaus ein leichtes Unbehagen bereiten kann. Er kommentiert regelmäßig die in seinen Augen riskanten Fahrweisen der anderen Autofahrer und zittert alle zwei Blocks: »Oh, oh, oh. That was close.«
Als wir das Kino an der Ecke Mission und 4th Street erreichen, waren wir letztlich kein einziges Mal in Gefahr, die Fortbewegung durch die Realität außerhalb der Computerspielewelt für Alex aber sichtlich ein Abenteuer.
Der Wagen wird im Parkhaus gegenüber abgestellt, das sich wiederum neben dem Moscone Center befindet, in dem Apple laut Alex immer seine coolen neuen Sachen der Welt präsentiert.
Das Multiplexkino mit dem kruden Namen »AMC Metreon 16« wurde von unseren »Laurel und Hardy« ausgewählt, da es »Der Hobbit« in 3D und mit der neuen High Frame Rate zeigt. Der Film ist der erste Kinofilm der Geschichte, der anstelle der üblichen 24 Bilder, ganze 48 Bilder pro Sekunde vor dem Zuschauerauge flimmern lässt. In Europa haben wir übrigens einen Standard von 25 Bildern in der Sekunde. Deswegen haben Langfilme in Amerika üblicherweise auch eine rund fünf Minuten längere Laufzeit, als dieselben Filme in europäischen Kinos haben. Ja, die verrückte Welt der Technik.
Wir haben noch etwas Zeit, die Alex zum Essen nutzt. Im Kinokomplex gibt es eine reiche Auswahl an Fast-Food-Restaurants. Allerdings handelt es sich dabei nicht um die berühmten Riesenketten, sondern um – zumindest mir – unbekannte Läden. Alex ordert sich ein Sandwich, das lediglich mit Fleisch und Kartoffelpüree belegt ist. Während er das mächtige Ding verdrückt, erzählt er uns von seiner juice diet. Bei dieser Diät werden ausschließlich Früchte und frisch gepresste Säfte konsumiert. Letztes Jahr hat er damit sage und schreibe 60 Kilo verloren. Den Beweis liefern Fotos, die er auf seinem Smartphone gespeichert hat. Die 60 Kilo hat er sich dieses Jahr allerdings wieder zurückgefuttert. Nun hat er dem Speck aber erneut den Kampf angesagt … dieses Sandwich ist nur mal eine Ausnahme.
Um Kinotickets zu kaufen, kann man sich entweder in der Schlange vor den Kassen anstellen oder aber die brandneuen Ticketmaschinen benutzen. Diese Touchscreens funktionieren im Prinzip wie Ticketautomaten an Bahnhöfen. Erst wählt man den Film aus, entscheidet, ob man ihn – falls angeboten – in 3D, 3D mit High Frame Rate oder ganz klassisch sehen möchte, dann die Vorführzeit und den Kinosaal, Anzahl der Tickets auswählen, mit Kreditkarte zahlen und schon ist’s geschafft. Mit dem Aufzug geht’s hinauf zu den Kinosälen. Noch schnell den Kartenkontrolleur überwinden und schon geht’s ins …
»Where is your ticket?«, fragt der Mann am Einlass Cari.
Ich mache ihn darauf aufmerksam, dass ich ihm unser Ticket gezeigt habe.
»Yes, but it was only one ticket. I can’t let you in.«
Ich bin verwirrt. Aus dem Automaten kam doch nur ein Billett? Ich versuche es dem ziemlich unbeeindruckten und mitleidslosen Typen zu erklären.
»Go downstairs to the guest service. In case you really bought two tickets with your credit card, they might be able to check it.«
Als Cari den letzten Satz des Typen hört, wird sie sauer: »In case you really bought two tickets?«, empört sie sich. Die Unterstellung, wir könnten uns hier den Eintritt erschleichen wollen, findet sie unerhört. Ich versuche sie zu beruhigen und beschwöre sie, lieber schnell mit mir zum guest service zu rennen, bevor wir den Anfang verpassen.
Die Dame an der Kasse im Erdgeschoss, deren linkes Auge keine Iris, sondern nur eine wild hin und her springende Pupille hat, macht uns darauf aufmerksam, dass sich der Guest Service im Obergeschoss, direkt neben dem Kartenkontrolleur befindet. Spätestens jetzt mag ich den Kontrolletti auch nicht mehr. Beim Guest Service wird schnell gecheckt, ob mit meiner Kreditkarte tatsächlich zwei Tickets gekauft wurden. Der Kauf wird bestätigt und uns ein neues Ticket ausgedruckt. Wow! Das ist ja mal cool. Cari kann es sich nicht verkneifen, dem Ticketabreißer noch einen Spruch zu drücken und dann geht’s endlich und zum Glück rechtzeitig ins Auenland. Bevor die Lichter komplett ausgehen, hält Casey uns noch etwas unter die Nase: »Here.«
»What is it?«, frage ich.
»Eatables.«
»THC?«
»Makes the colors and the 3D look even better!«, grinst er und drückt Cari und mir die Tabletten aus purem Marihuana in die Hand. Bilbo, Gandalf und die Zwerge besuchen 90 Minuten später Elrond in Bruchtal, als ich meine Augen nicht mehr aufhalten kann und einschlafe. Kurz vor dem Kampf der Steingiganten wache ich wieder auf. Na, super. Wie lange war ich weg? Cari geht’s derweil genauso … Ich bezweifle, dass es am THC liegt, sondern denke, dass vielmehr die High Frame Rate Schuld daran ist, dass mir das unglaublich realistische Bild des Films nicht gefällt. Die Lichter wirken übertrieben, was aber auch am 3D liegen kann. Zumindest habe ich diesen Kritikpunkt fast jedes Mal, wenn ich einen Realfilm in 3D sehe. Die Bewegungen wirken zu rund und generell wirkt einfach alles viel zu realistisch. Der körnige Filmlook geht durch die neue Technik komplett flöten und lässt den Multimillionenfilm eher wie ein digitales Billigprodukt einer Fernsehanstalt wirken. Hoffentlich setzt sich das nicht durch.
Nach dem Film verlassen wir das Multiplex durch die HintertĂĽr und finden uns in den Yerba Buena Gardens wieder. Der schön und grĂĽn angelegte ĂĽberschaubare Park hat einen kleinen Wasserfall, der schön beleuchtet wird und den man sich von allen Seiten anschauen kann. Am anderen Ende des Parks, an der 3rd Street, befindet sich das SFMOMA, das San Francisco Museum of Modern Art. Cool, das wäre doch mal ein gutes Ausflugsziel fĂĽr die nächsten Tage, denken Cari und ich. Auch die rote St. Patrick’s Catholic Church grenzt an die Yerba Buena Gardens. Der gotische Bau stammt aus dem Jahre 1851.
Alex kann dank einer App ein Panoramafoto schießen. Er ist mal wieder höchst konzentriert, während Cari nicht minder fokussiert nach irgendetwas in ihrer Tasche kramt und Casey in seiner unnachahmlich lässigen Standardpose eine Kippe raucht. Wir sind eine ziemlich bunte Gang. Ein Parksicherheitsmann kommt hinzu und weist uns darauf hin, dass im Park nicht geraucht werden darf. Beim Nichtraucherschutz sind die Amis rigide.
Am Himmel entdecke ich einen Lichtschein, der sich weitläufig wie ein perfekter Kreis um den Mond zieht. So etwas habe ich noch nie gesehen. Aber in dieser Stadt darf man sich über optische Leckerbissen nicht wundern … die begegnen einem schließlich jeden Tag.
