Tag 49: Das Angebot unseres Lebens
Serendipity â Teil 1

Freitag, 28. Dezember 2012
San Francisco
Ja, fett! Ob das die BVG auch machen wĂŒrde? Der Fahrer, der hinter einer sicheren Scheibe sitzt, hat sich indes noch nicht einmal zu uns umgedreht. Der Kollege, der uns die freudige Mitteilung gemacht hat, strahlt ĂŒber beide Backen und begrĂŒĂt jeden, der neu einsteigt mit den Worten: »Itâs for free!«
Cari und ich lassen uns von der guten Laune des Mitreisenden anstecken und sind selbst höchst erquickt ĂŒber die unerwartete Ersparnis am heutigen Tage. Deswegen stimmen wir »Happy Birthday to You« an. Der Strahlemann, der uns gegenĂŒbersitzt, packt aus seinem Rucksack plötzlich einen silberglĂ€nzenden Zylinder und beginnt mit der Haltestange zu tanzen. Drei MĂ€dels, die gerade vom Cheerleadertraining kommen, packen ihre Pompons aus und stimmen mit ein. Ein Ă€lterer Herr fordert seine Sitznachbarin zum Tanz auf, als plötzlich die halbe Bahn aufspringt, singt und tanzt. Der Fahrer schaltet offensichtlich auf Autopilot, denn unerwartet steht er inmitten der tanzenden Menge und verteilt von seiner Mutter gebackene WeihnachtsplĂ€tzchen, Kaffee und GlĂŒhwein. Als er vor Cari und mir steht, sagt er: »Iâve got a surprise for you«, und zaubert aus dem Zylinder des Strahlemanns Caris Rollkoffer hervor. Eine tolle Fahrt ist das.
Okay, die Wirklichkeit sieht anders aus: Cari und ich machen uns kurz zum Deppen, weil kein Arsch in unseren Song einsteigt. In unseren Herzen ist jedoch die erste Geschichte passiert. Immerhin haben wir somit die Sympathie des Mannes erhaschen können, der die freudige Botschaft an die Neuankömmlinge in der Tram verteilt. Da einige ihm nicht glauben wollen und vehement beim Fahrer um ein Ticket bitten, schlĂ€gt er uns vor, eine Kasse aufzustellen und das Geld von denen, die unbedingt zahlen wollen, einzusammeln. WĂŒrde sich am Ende sogar noch lohnen âŠ
Cari und ich wollen ins SFMOMA. Der Eintritt kostet elf Dollar fĂŒr Studenten und 18 Dollar fĂŒr Erwachsene. Da Cari keinen Studentenausweis besitzt und momentan knapp bei Kasse ist, beschlieĂen wir doch nicht ins Museum of Modern Art zu gehen. Die angepriesenen Ausstellungen sehen auch nicht wirklich spannend aus. Stattdessen schauen wir uns die Yerba Buena Gardens einmal bei Tageslicht an.
Caris Smartphone vibriert. Eine SMS von Alex, dem tollen Couchsurfer, dessen innerer Frieden unerschĂŒtterlich ist und dessen Einladungen unausweichlich sind.
»Is he begging for sorry?«, frage ich Cari.
»No, he isnât«, antwortet sie mit gerunzelter Stirn und zeigt mir die SMS: »Cari, I have a question for you.«
Was kommt denn jetzt? Cari schreibt zurĂŒck: »I just might have an answer!«
Ich habe eine seltsame Vorahnung, möchte sie Cari aber nicht mitteilen. Es ist zu bescheuert und wĂŒrde mich â falls ich daneben liege â sehr dĂ€mlich aussehen lassen. Die Frage kommt: »Would you ever have a threesome?«
Oh, mein ⊠Das war tatsĂ€chlich meine Vorahnung! Bin ich nun begabt oder scheiĂe? Wie auch immer, Cari und ich kippen vor Lachen fast von der Bank, auf der wir mittlerweile sitzen. Als die TrĂ€nen getrocknet sind, beschlieĂen wir, die Unschuldigen zu mimen: »Itâs on my bucket list. Why do you ask?«, schreibt Cari zurĂŒck.
»What is a bucket list?«, frage ich sie.
»Itâs the âșto do listâč of your life.«
Es vibriert wieder. Haha! Wir können es kaum erwarten: »Because I want to pleasure you.«
Erneut hĂ€ngen wir ĂŒber der Reling, diesmal aus Ăbelkeit. Kotz. Wie kann man nur so etwas schreiben? Vor allen Dingen einer Person, die man zwei NĂ€chte zuvor zunĂ€chst einmal in den Armen eines anderen Mannes â nĂ€mlich mir â kennengelernt hat und sie dann fast auf der StraĂe hĂ€tte sitzen lassen. Andererseits erklĂ€rt das auch einiges. Alex war nĂ€mlich leicht ĂŒberrascht, dass wir zu zweit angerĂŒckt sind â obwohl Cari mehr als deutlich und mit Link auf mein Couchsurfing-Profil darauf hingewiesen hat, dass sie nicht alleine reist. Cari macht mich unnötigerweise darauf aufmerksam, dass er von einem Dreier schreibt. Ja, das habe ich nicht vergessen. Er hatte wohl genĂŒgend Zeit, um sich zu ĂŒberlegen, ob er sich auch mit meiner Anwesenheit in seiner Kiste anfreunden kann. Was fĂŒr ein Vogel. Da kommt also kein »Sorry«, kein »Wie gehtâs euch?« oder gar ein »Jetzt kann ich euch hosten«, sondern eine Einladung zum Ficken.
»Thatâs why you offered me a couch in the first place, yeah?«, stichelt Cari.
»No, itâs not! But after hanging out with the two of you ⊠thatâs what I felt.«
Cari battlet sich mit Alex, wĂ€hrend ich laut sinniere: Der Mann ist ein Penner. Wir sollten ihn ein bisschen verschaukeln. Aber er arbeitet auch fĂŒr Marvel ⊠in der Filmindustrie. Vielleicht fĂŒhrt der Weg durch seine Kissen zu âŠ
»What are you typing?«, reiĂe ich mich selbst aus meinen Gedanken. Cari antwortet mit ihrer dreckigsten Lache und hĂ€lt mir das Telefon vor die Nase. Was. Hat. Sie. Getan?
»I could see if Dennis would be into letting me watch.«
Sie kippt endgĂŒltig von der Parkbank als Alexâ nĂ€chste SMS reingeflattert kommt: »I donât have a problem. Iâm bi.«
Nachdem sich unsere Zwerchfelle von den Strapazen der letzten SMS wieder entspannt haben, fĂŒhlen wir uns wie homophobe Arschlöcher. Um nicht politisch unkorrekt zu sein, einigen wir uns auf eine finale, auf eine nette Antwort: »Ah, but Dennis is not. I think weâd prefer a girl. Flattering offer though!«
Das haben wir gut gelöst ⊠als sich Alex aber tatsĂ€chlich noch einmal meldet, kommen wir kurz ins GrĂŒbeln, nicht doch noch einmal fies zu werden. Der Typ mit der losen Schraube lĂ€sst einfach nicht locker: »The focus would be on you!«
Vollhorst.
Cari benötigt neue Klamotten. Die Hoffnung, dass sie ihren Trolley jemals wiederbekommen wird, haben wir beide begraben. Viel Geld hat sie bekanntlich nicht, neue UnterwÀsche wÀre aber schon mal angebracht. Also gehen wir DamenunterwÀsche in einem voll angesagten Laden shoppen, dessen Namen ich schon wieder vergessen habe.
Vor ziemlich genau einem Monat habe ich, auf der Suche nach einer BĂ€ckerei, keine 100 Meter von der Oz Lounge entfernt eine gemĂŒtlich aussehende Bar in der kleinen Sackgasse Mark Lane entdeckt. Die Tische stehen auf der StraĂe, eine Markise ĂŒberdacht die Freiluftsitzmöglichkeiten und rote WĂ€rmelichter sorgen fĂŒr angenehme Temperaturen und dafĂŒr, dass die komplette Gasse in rotes Licht getaucht wird. Heute kommen Cari und ich wieder daran vorbei und beschlieĂen, im Smithwickâs etwas zu trinken und auf unsere Verabredung zu warten. Jawohl, wir sind verabredet: Caris beste Freundin und Mitbewohnerin Melissa ist mit ihrer Familie in San Francisco eingetroffen und will mit ihrer jĂŒngeren Schwester Jessica zu uns stoĂen. Wir sitzen unter der Markise im Freien, trinken ein Bierchen und mal wieder eine Mimosa. An der Fassade hĂ€ngen alte Emaillewerbeschilder. Der gemĂŒtliche Innenraum ist authentisch irisch gestaltet. Gemalte PortrĂ€ts und alte Fotos hĂ€ngen an den WĂ€nden.
Als Melissa und Jessica aufkreuzen beratschlagen wir, was wir unternehmen könnten. Jemand schlÀgt vor, ins Kino zu gehen. »Django Unchained« ist vor drei Tagen angelaufen. Der Film fÀngt um 19 Uhr an. Melissa traut den Ticketmaschinen nicht und stellt sich in der Schlange an. Ich riskiere es wieder: Diesmal klappt es problemlos. Allerdings dauert es eine Zeit lang, bis das zweite Ticket kommt. Kein Wunder, dass wir das gestern verpasst haben. Nachdem das zweite Ticket schon lÀngst in meinem Portemonnaie verstaut ist, druckt der Automat plötzlich noch einen Zettel aus. Ein drittes Ticket? Nein, nur die Quittung.
In Deutschland habe ich oftmals das Problem, dass mir die Leute im Kino zu laut oder den anderen GĂ€sten gegenĂŒber respektlos sind, indem sie meinen, ihren Unmut ĂŒber den gezeigten Film schon wĂ€hrend der VorfĂŒhrung laut kundtun zu mĂŒssen. Was soll das? Die Amerikaner sind da ganz anders. Das sind tolle KinogĂ€nger! Bis auf das willkommene GelĂ€chter bei lustigen Szenen hört man keinen Mucks von ihnen. Bravo!
Melissa und Jessica verabschieden sich nach dem Film schon wieder. Mittlerweile regnet es. Zum Abendessen gibtâs einen Dolma Wrap bei meinen iranischen Freunden von California Golden Cookies: »Nice to see you again«, erinnert man sich an mich. Ach, San Francisco ist jetzt schon wie nach Hause kommen. Der Wrap ist wie immer sehr gut und vor allen Dingen hochinteressant. Ich hatte noch nie einen Wrap, in den mit Reis gefĂŒllte WeinblĂ€tter gewickelt wurden. Als treuer Kunde bekommen wir nach dem Verzehr sogar einen Burma, eine sĂŒĂe Nachspeise geschenkt.
NatĂŒrlich gehtâs nach dem Essen mal wieder in die Oz Lounge, die sich genau gegenĂŒber befindet. Matt, der TĂŒrsteher ist wieder da. Auch er erkennt mich wieder und begrĂŒĂt mich sehr herzlich mit einer Umarmung. Er trĂ€gt keine Jacke, weshalb ich ihn frage, ob er nicht friert oder ob es ihm nicht erlaubt wurde, eine Jacke zu tragen. Er schĂŒttelt den Kopf und öffnet sein Hemd. Darunter kommt eine schusssichere Weste zum Vorschein. Alter Walter! Sein Kumpel wurde mal ins Gesicht geschossen, erzĂ€hlt er uns. Dass ihm die Weste dabei nicht weiterhilft, verkneife ich mir.
Wir beschlieĂen den Abend in der mit schweren HolztĂŒren versehenen Nachbarkneipe der Oz Lounge. Das Rickhouse ist nicht halb so charmant wie die Oz Lounge, zielt aber auch auf ein komplett anderes Publikum ab. Es ist dunkel, es ist laut und die BĂ€sse wummern ordentlich. Die Einrichtung ist dafĂŒr sehr stylish. Es gibt einen Balkon und hinter dem Tresen tĂŒrmen sich die Regale mit dem harten Alkohol bis unter die hohe Decke. Bestellt jemand etwas aus den Reihen, die man mit bloĂem Strecken nicht erreichen kann, kommt die aus Bibliotheken bekannte Buchregalleiter ins Spiel. Der Laden ist total ĂŒberfĂŒllt. Dementsprechend dauert es, bis man am Tresen endlich an die Reihe kommt. Ein Mojito kostet zehn Dollar. Der Bus nach Hause ist noch immer gratis âŠ
2004 waren wir im SFMOMA. Ein sehr groĂer Teil der Ausstellung hat uns damals leider nicht gefallen.
Zum Beispiel gab es ein „Triptychon“ aus drei weiĂen LeinwĂ€nden, dann gab es eine weiĂe Leinwand mit Loch, eine weiĂe Leinwand mit einem Fleck, es gab „MĂŒll“ in der Ecke, „MĂŒll“ an der Decke und eine Reihe Ă€hnlicher merkwĂŒrdiger Kunstwerke.
Es heiĂt: „Kunst liegt im Auge des Betrachters!“ Nun wir kamen uns von einigen der modernen KĂŒnstler sauber verarscht vor.
»Ist das Kunst oder kann das weg?« đ
Mutter, ich hatte mit einer Reaktion auf einen anderen Teil des heutigen Berichts gerechnet … Legen wir etwa einfach so den Mantel des Schweigens darĂŒber? đ
Jaaa, genau! Du kennst mich gut, gell!?!
Caris Missgeschicke machen mich traurig: Koffer, Portemonnaie und Kaution weg – und dann noch diese blöden Kerle Joshua und Alex.
Es hat mich auĂerdem erschreckt, dass Matt, der TĂŒrsteher der Oz Lounge, eine schusssichere Weste tragen muss! Schrecklich!!!