Tag 50: Ein obdachloser Bohemien namens Spange
Serendipity – Teil 1

Samstag, 29. Dezember 2012
San Francisco
Frühstück/Brunch/Lunch gibt’s im Sea Breeze. Laut Casey soll es hier ein veganes Omelett geben. Das Omelett entpuppt sich aber schnell als ein asiatisches Tofugericht mit Brot. Auch gut. Cari isst eine mitgebrachte Orange. Mit dem wie immer kostenlosen Wasser stoßen wir auf die Sonne an.
Der Tag verläuft ähnlich wie vorgestern: Wir spazieren an den Windmühlen vorbei und ein wenig durch den Golden Gate Park. Da die Sonne schon wieder untergeht, zieht es uns an den Strand. Den Sonnenuntergang will man sich hier einfach nicht entgehen lassen …
Abendessen gibt es in der Loving Hut, einem veganen Restaurant in der Irving Street, nahe der Grenze zu Haight-Ashbury. Das Essen ist asiatisch und gut, aber nicht der Überhammer. Das Herbivore bleibt die Nummer 1 der veganen Restaurants. Kurz nach unserer Bestellung stößt Melissa zu uns. Die klärt uns darüber auf, dass Loving Hut – eine Restaurantkette mit über 200 Restaurants – sogar die vermutlich größte vegane Kette der Welt ist.
Wir ziehen zu dritt weiter in Richtung Haight Street, wo wir Sam und dessen Freundin treffen wollen. Sam ist ein Freund von Cari und Melissa. Wir kommen an einem Weihnachtshaus vorbei, das dermaßen übertrieben geschmückt ist, dass ich laut auflache. Klar, man kennt ja mittlerweile auch in Deutschland weihnachtlich beleuchtete Häuser und Rentierschlitten im Garten, aber das hier ist eine ganz neue Qualität, eine höhere Liga. Auf maßlos übertriebene Beleuchtung wird löblicherweise verzichtet. Ganz ohne Stromfresser kommt dieses Haus aber dennoch nicht aus. So gibt es einen Kranz mit integrierter Lichterkette über der Eingangstür, zwei, die Treppenstufen zur Tür links und rechts erhellende Ketten mit eingewebten Christbaumkugeln und Lametta sowie den aus einem Lichtschlauch geformten, obligatorischen »Merry Christmas«-Schriftzug im Obergeschoss. Außerdem erhellt ein aus der Garage scheinendes rotes Licht die Dekoration von hinten. Ferner wurde eine Lichterkette in das Geäst des Baumes, der auf dem Bürgersteig vor dem Haus steht, gewickelt. Im selben Baum wurde auch ein auf das Gebäude gerichteter Scheinwerfer platziert, damit das Gesamtwerk auch schön aus dem fahlen Schein der Straßenlaternen heraussticht. Nein, die »Genialität« dieser weihnachtsfreakigen Hausdekoration liegt sicherlich nicht im Lichtschmuck. Weihnachtlich geschmückte Häuser machen mich nicht wirklich an. Dieses Haus jedoch strahlt eine sympathische Wärme aus. Woran das liegt? Nun, es beginnt auf dem Balkon über dem Hochparterre – mehr Stockwerke hat das niedliche Haus im Übrigen nicht. Christbaumkugeln, die so groß wie Gymnastikbälle sind, hängen miteinander verbunden bis kurz über den Gehsteig hinab – wahrscheinlich sind es sogar tatsächlich in Geschenkpapier eingewickelte Gymnastikbälle. Die unterschiedlich großen Kugeln weisen sogar – wie echte Christbaumkugeln – Halterungskrönchen auf. Zwischen den überdimensionalen Kugeln kleben riesige Zuckerstangen an der Fassade. Auch vom Bäumchen vor dem Haus hängen kleinere, fußballgroße Kugeln. Zusätzlich grüßt der Lebkuchenmann vom Baum aus. Um das Gesamtwerk abzurunden, stehen auf dem Boden direkt vor der Hauswand, mit Luft gefüllt und lebensgroß freudvoll winkend, ein Schneemann, Santa Claus und die berühmte blaue Lok mit dem netten Gesicht: Thomas, die kleine Lokomotive. Sie teilen sich den Bürgersteig mit zwei Weihnachtsbäumen, die ebenfalls mit Luft gebläht sind.
Als ich mir das Haus später noch einmal bei Google Maps anschaue, stelle ich amüsiert fest, dass die Bewohner es auch für Ostern herrichten. Nicht so spektakulär wie ihre Weihnachtsdeko, aber wer schmückt denn bitte überhaupt zu Ostern?
Die Anwohner der 6th Avenue scheinen generell viel Wert auf untypische Belebungen ihres Straßenbilds zu legen. Direkt an der Kreuzung zur Irving Street hat man eine mit Herzen bemalte Parkbank aufgestellt. Ein Schild begrüßt die vorbeikommenden Passanten: Man soll doch bitte Platz nehmen, aber dabei bitte die Klappe halten und aufs Rauchen verzichten. Die beiden Bäume hinter der bunten Bank sind mit einem Lichtschlauch umwickelt. Aus Ton gefertigte Figürchen zieren die kleine Grünfläche um den ersten Baum. Unter anderem fährt ein Krokodil mit blauem Hut und gewagter Jacke im Bienenmuster in einem Fischauto umher, während nur wenige Zentimeter daneben ein kahlköpfiger Albino mit Flügeln und Spazierstock ein Schwein reitet. Da stellt sich unweigerlich die Frage, ob der Schöpfer dieses kleinen Fantasiegartens naiv ist oder eventuell anonym Weihnachtsgeschenke verteilen will. Oder lässt man in San Francisco solche Funde etwa tatsächlich stehen? Kein Diebstahl? Kein Zertrümmern? In Berlin looft dit so nich, Keule!
Am interessantesten finde ich ein Geschäft für Damenmode. Sagenhaft. Der Laden verkauft Klamotten im Stile der 50er Jahre. Dementsprechend sehen auch die Schaufensterpuppen und die Deko der Ausstellungsfenster aus. Sehr retro und somit ziemlich cool.
In einem anderen Laden namens Happy High Herbs werden Kräuter verkauft, die dem Konsumenten laut Werbung dabei helfen, happy, healthy, horny and naturally high zu werden. Darunter ist eine blaue Comicfigur mit Rüssel und schwarzem Zylinder gemalt, die auf einem Fliegenpilz sitzend ein Heißgetränk zu sich nimmt.
Eine Haustür wurde mit San Franciscos Antwort auf die Bremer Stadtmusikanten bepinselt: In Kalifornien wird ein Elefant von einem Affen, einem weißen Kaninchen und einem blauen Vogel geritten. Verstörend.

Cari entdeckt ihren Lieblingsladen an der Ecke Haight und Masonic. Im Positively Haight Street – der Name wurde augenscheinlich durch Bob Dylan beeinflusst – leuchten die schwarzlichtaktiven Decken und Wände. Es ist ein Klamottenladen – offensichtlich für die Psychedelic Youth.
Da es, um das mal zu erwähnen, bereits halb zehn ist, sind sämtliche Läden geschlossen. Sämtliche Läden? Nein! Ein tapferer Friseur schneidet noch immer die Haare seiner Kunden und bietet außerdem noch seine Fähigkeiten als Psychotherapeut an. Na, wenn das mal nicht ein verdammt cleveres Konzept ist!
Ich erzähle den Mädels vom grandiosen Ausblick, den man vom nahe gelegenen Buena Vista Park hat. Auf dem Weg dorthin treffen wir mehr oder weniger zufällig auf Sam und seine Freundin. Als wir in Hobson’s Choice Bar, einem »Victorian punch house«, Bier und natürlich Punch trinken, erfahre ich, dass Sam früher Caris und Melissas Gras- und Pilzdealer war. Sams Freundin weiß von seiner früheren Profession nichts und soll es möglichst auch niemals erfahren. Um ein Haar verrät er sein Geheimnis aber fast selbst. Er erzählt mir gerade von seiner Zeit als Dealer, als sie plötzlich wieder von der Toilette zurückkommt und ich ihm etwas zu spät gegen das Schienbein trete. Das war knapp.
Als wir das Punch House verlassen, verabschieden sich plötzlich alle. Sam und Freundin wollen ins Bett und Melissa muss ebenfalls die Segel streichen, da sie nun noch eine ordentliche Strecke mit dem Bus zum Hotel zurücklegen muss und sie morgen mit ihrer Familie nach Alcatraz übersetzt – sie haben die ständig ausverkaufte Tour schon vor über einer Woche gebucht.
Cari will erfreulicherweise nach wie vor meinen Lieblingsplatz, die Parkbank im Buena Vista Park kennenlernen. Also spazieren wir zu zweit den dunklen, bewaldeten Hügel hinauf. Sobald man das Waldstück betritt, gibt es keine Laternen mehr. Der noch immer sehr große Mond am unbewölkten Himmel dringt hier und da durch die Blätter und weist uns den Weg. Wir erreichen die Bank und meine Versprechungen waren offensichtlich nicht übertrieben: Cari ist sehr angetan. Tagsüber ist der Blick allerdings noch schöner, da man die Golden Gate Bridge besser sieht.
Plötzlich hören wir links von uns ein Geräusch. In der Dunkelheit kann ich den Umriss einer Person ausmachen. Das ist durchaus etwas unheimlich.
»Whatever you’re doing: Keep going, guys. You’re actually on my bed, but I can wait. Keep going!«
Oha, ein Obdachloser mit einem Sinn für schöne Plätze. Wir beschließen zu gehen und spazieren auf den Mann zu. Er sieht überhaupt nicht aus wie ein Obdachloser, ist gut gekleidet, fast schon wie ein Bohemien. Sind das Spitzen an seinen Hemdsärmeln? Er lächelt uns an und fragt mit rollendem »R«, ob wir uns nicht noch etwas zu ihm setzen und ein Pfeifchen rauchen wollen. Klar, warum eigentlich nicht. Keine fünf Meter vom Wegesrand entfernt liegen seine wenigen Habseligkeiten: ein Schlafsack, eine Decke und ein Rucksack.
Der Fremde kommt ursprünglich aus Belfast. Das erklärt dann wohl auch seinen Dialekt. Als er hört, dass ich mit dem Rucksack unterwegs bin und Cari und ich nun ein wenig gemeinsam reisen, erzählt er uns, dass er ebenfalls ein Reisender ist – wie so viele der Obdachlosen, die ich auf meiner bisherigen Reise kennengelernt habe. Dieser Kollege stellt mit seiner Geschichte aber alle anderen in den Schatten: Spange – so der seltsame Name des gut gekleideten Obdachlosen – reist seit 16 Jahren. Er ist 30. Mit zwölf Jahren kam er mit seiner Mutter nach Amerika. Zwei Jahre später starb sie – seine einzige Verwandte. Er fragte sich, was er denn nun machen solle und beschloss, loszuziehen. Seitdem pendelt er zwischen Amerika und Europa hin und her. Ich bin verdutzt und frage ihn, ob er arbeiten geht oder wie er seine Flüge finanziert.
»I never worked a single day in my whole life and I never entered an airplane.«
»On ships?«, fragen Cari und ich zeitgleich.
»Yes, I hitchhike on container ships.«
»And is it easy to get a ride?«, will ich wissen.
Der Kapitän will einen intelligenten Menschen um sich haben, der mit ihm erzählen kann, erklärt Spange, dem es an Selbstbewusstsein ganz gewiss nicht mangelt: »The captain is an intelligent man, but the crew mainly consists of less intelligent people and idiots. I go to the captain and tell him an interesting and smart story, let him know that I’m good at chess and recite him one of my poems. My IQ is 174.«
Bis auf den IQ-Kram bin ich ernsthaft fasziniert … doch dann packt Cari den Holzhammer aus: »Those IQ tests are worth a shit.«
Höhö, was ich mir dachte, packt Cari eiskalt auf den Tisch. Deswegen mag ich sie so. Spange kommt dadurch aber nicht ins Straucheln. Er gibt ihr recht und verweist darauf, dass es bei den Kapitänen trotzdem gut ankommt … und mit ein bisschen Glück, dachte er sich vermutlich, hätte es wohl auch bei uns zur ehrfürchtigen Verbeugung gereicht.
Ich mag Spange. Er ist sehr interessant und für einen, der sich seit seinem 15. Lebensjahr offensichtlich alles selbst beigebracht hat, wirklich sehr intelligent … aber auch arg strange.
»Wanna hear one of my poems?«
»Sure!«
Er rezitiert aus dem Stegreif ein selbst verfasstes Gedicht. Es ist wirklich gut. Danach diskutieren Cari und Spange über Autoren und Bücher. Da kann ich nicht mitreden. Ich schreibe mehr, als dass ich lese. Bei den ethischen Fragen und philosophischen Gedankenspielen steige ich wieder mit ein. Es geht ums Töten. Wären wir etwas ängstlicher oder zartbesaiteter, könnten wir den Verdacht bekommen, er wolle uns im Anschluss an unsere lustige Diskussionsrunde abmurksen. Meine Intuition spricht allerdings dagegen, weswegen wir entspannt übers Töten weiterphilosophieren. Es sind ja allesamt nur hypothetische Fragen und – so viel sei verraten – er lyncht uns nicht, versucht es noch nicht einmal. Trotzdem machen wir uns kurz darauf auf den Weg nach Hause. Wie gesagt: nett, aber ganz schön merkwürdig unser nordirischer Zeitgenosse.
Wir stehen an der Bushaltestelle. Der Bus kommt … und biegt 50 Meter vor uns von der Haight Street in die Cole Street ab. Das war also die falsche Haltestelle. Wir rennen dem Bus hinterher, erwischen ihn aber nicht mehr, da er keine drei Sekunden stoppt. Liegt wohl daran, dass keiner zusteigt. Vielleicht liegt’s aber auch an den Damen und Herren, die sich auf der anderen Straßenseite befinden. Die warten zwar auch auf etwas, allerdings nicht auf den Bus und auch nicht im Stehen. Sie liegen und warten auf ihre Drogen oder darauf, dass sie wirken oder wieder aufhören zu wirken oder was auch immer. Die Leute auf der anderen Straßenseite konsumieren definitiv die falschen Drogen. Ausgerechnet der Aggressive aus der Truppe verirrt sich rüber auf unser »Ufer« und setzt sich 20 Meter von uns entfernt auf den Boden. Er umfasst mit seinen Händen seinen Kopf und fährt einen ganz üblen Film. Zuvor hat er schon auf der gegenüberliegenden Straßenseite mächtig Krawall gemacht. Erst dachte ich, er hätte einen Gegenstand verloren, sucht, aber findet ihn nicht mehr. Nach mehreren wirren Brüllern des gebückt Umherirrenden wurde mir aber klar, dass er nur seinen Verstand verloren hat. Nun sitzt er also unweit von uns und macht jeden dumm an, der ihm zu nahe kommt oder zu laut ist: »Get away from me! Get the fuck off!«
Der Typ ist fast schon besser als der Bushman. Zumindest lässt er die wenigen Passanten, die sich zur späten Stunde in diese Straße verirren und an ihm vorbeikommen, vor Schreck auf die Seite springen. Kurz bevor die halbe Stunde des Wartens vorbei ist und der Bus endlich aufkreuzt, bemerke ich, dass wir genau gegenüber des Pfeifenladens stehen, in dem ich vor Wochen mit Ford und dem alten Meth-Junkie Art stand, während wir von einer penetranten Crackhead-Dame terrorisiert wurden: »Open the fucking store! I don’t trust you! Give me a pipe and I’ll show you my fucking money!«
Zuhause angekommen finden wir die zuvor von Casey bereits angekündigten neuen Mitbewohner vor. Sie schlafen bereits. Von Caseys eigentlichen Mitbewohnern haben wir übrigens bislang noch herzlich wenig bis gar nichts mitbekommen. Die Neuen heißen Manton und Jill, sind verheiratet und haben »vorher reserviert«. Deswegen bekommen sie auch die Couches, die wir nach dem Auszug der Australier erobert hatten, während wir wieder auf den Boden umziehen müssen …
Ach, was sind das tolle Fotos vom Sonnenuntergang am pazifischen Ozean und das spektakuläre Weihnachtshaus mag ich auch!