Tag 51: Pizza, Darts, Krieg und Tränen

Serendipity – Teil 1

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Sonntag, 30. Dezember 2012
San Francisco

Unsere Mischung aus Frühstück, Brunch und Mittagessen haben wir an diesem sonnigen Tag im Judahlicious an der Ecke Judah Street und 44th Avenue. Im echt leckeren Restaurant gibt es raw and vegan food.

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Wir haben uns für heute nichts Besonderes vorgenommen, wollen dem mitgebrachten Zelt aber einen Sinn geben. Also beschließen wir, einen Strandtag mit Windschutz zu machen. Da es auch schon wieder nach eins ist, dauert es nicht mehr lange, bis die Sonne wieder untergeht.
Wir bauen das Zelt auf einer Düne auf und beobachten die Menschen, die mit ihren Hunden, der Familie oder alleine spazieren gehen. Nachdem die Sonne wie immer spektakulär untergegangen ist, bauen wir das Zelt wieder ab. Wir sind hungrig.

An der Ecke Noriega und 46th befindet sich die Pizzeria mit dem außergewöhnlich kreativen Namen »The Pizza Place on Noriega«. Ich freue mich darüber, dass eine Pizza mit veganem Pesto angeboten wird und frage Cari, welche Pizza sie sich bestellen wird.
»Do you want a whole pie for yourself?«, fragt sie mich entgeistert.
»Uhm … of … course … not? – How do you eat pizza here?«
Die Amis essen Pizza auf eine durchaus gewöhnungsbedürftige Weise. Okay, dass man sich einfach nur einzelne Stücke kaufen kann, ist spätestens seit Pizza Hut auch in Deutschland keine außergewöhnliche Sache mehr. Dass man sich eine in Scheiben geschnittene Pizza teilt, die auf einem Teller liegt, der wiederum auf einem Metallgestell in der Mitte des Tisches steht, ist mir bisher allerdings noch nie untergekommen. Das ist eine seltsame, aber nicht uncoole essenskulturelle Vermischung, die mich an das Miteinander spanischer Tapas oder – aufgrund der Präsentation mit dem Gestell in der Tischmitte – eher an ein schweizerisches Fondue erinnert. Es wird aber eben eine italienische, naja: italo-amerikanische Pizza serviert. Für die vom Gestell genommenen Scheiben hat man Tellerchen vor sich, die nur etwas größer als Unterteller sind. Mehr braucht man aber auch nicht für die Pizzastücke. Es ist eine interessante, eben eine amerikanische Pizza mit veganem Pesto. Die normal große Pizza reicht am Ende tatsächlich aus, um uns beide satt zu machen. Die nächstgrößere Pizza ist tischgroß.

Heute ist unser letzter gemeinsamer Abend. Cari wird morgen früh mit Melissa und deren Familie zurück nach Portland fahren. Das ist verdammt traurig. Unsere gemeinsame Zeit war so großartig … Darauf möchten wir anstoßen: »Vino, per favore!«
Nach dem Wein rauchen wir in der Bushaltestelle vor der Pizzeria ein Pfeifchen und überlegen, was wir zum krönenden Abschluss noch erleben wollen. Da das Gras und der Wein Laune machen, beschließen wir, noch etwas trinken zu gehen. Quasi direkt neben der Pizzeria ist Flanahan’s Pub. Die Bar ist schmal und eng. Im schlauchförmigen Raum befinden sich lediglich der Tresen mit den dazugehörenden Hockern und kleine aus der Wand ragende Holztischchen. Es läuft keine Musik und das Publikum sieht weniger nach Stadt als vielmehr nach tiefstem Wald aus. Es riecht nach Alkohol, nach potenzieller Gewalt und rechtskonservativen Republikanern. Es ist schlichtweg ziemlich unsympathisch.
Also an manchen Tagen finde ich solche Kneipen super. Heute ist so einer … und Cari geht’s genauso.
»Cool, darts!«, jubelt sie plötzlich.
Oha, das schreit nach … Competition!
Ich bin schon schwer am verlieren, als plötzlich ein Typ neben uns steht. Ich kenne das aus Filmen – und diese Reise ist ein Film. Mir ist also vollkommen klar, was nun kommen muss. Da es keinen Billardtisch gibt, werden wir uns wohl keine Queues um die Ohren hauen. Dartpfeile und Barhocker werden unsere Waffen sein, die zu Narben führen, die wir noch den Enkelkindern unserer Nachbarn voller Stolz zeigen werden. Der Mann dürfte wenige Jahre älter sein als ich. Vielleicht ist er aber auch fünf Jahre jünger. Ich verschätze mich gerne, wenn’s ums Alter geht. Ich lege mir Angst einflößende Bud-Spencer-Sprüche zurecht: »Hat dir eigentlich schon mal einer mit ’nem Vorschlaghammer ’nen Scheitel gezogen?«
Was heißt »Vorschlaghammer« auf Englisch? Und »Scheitel«? Verdammt. Angespannt suche ich nach den passenden Vokabeln, als der Feind plötzlich die ungeschriebenen Konventionen einer filmreifen Kneipenschlägerei bricht und sich uns höflich vorstellt: Andrés heißt er und kommt aus Nicaragua. Ich schüttle ihm freundlich verwirrt die Rechte. Kaum fertig geschüttelt kommt auch schon was angeflogen. Es ist keine Faust … nein, es ist … ein Kompliment … für Cari. Sie sei eine grandiose Frau, meint Andrés. Ich zucke mit den Schultern und zeige auf die Tafel, auf der unser Zwischenstand beim Darts steht. Cari lacht dreckig, wirft den nächsten Pfeil und führt mich weiter vor. Ja, voll grandios.
Andrés beginnt uns seine Lebensgeschichte zu erzählen: Andrés lebte in Nicaragua, als dort der Contra-Krieg wütete. Jener Krieg, der von 1981 bis 1990 das Land zerrüttete und das Ziel hatte, mit freundlicher Unterstützung der USA, die sandinistische Regierung zu stürzen. Andrés Onkel, so erzählt er uns, war ein toller Mann. Seine Stimme zittert und sein Redefluss gerät leicht ins Stocken. Er sucht nicht nach den Worten, die er aussprechen möchte. Er kennt die Worte, doch sie belasten ihn offensichtlich. Er sammelt sich kurz und berichtet mit Tränen in den Augen, dass sie seinen Onkel erhängt und auf ihn geschossen haben. Auf einmal bricht Andrés in Tränen aus und ich habe plötzlich nicht mehr Cari, sondern den Mann aus Nicaragua im Arm. Er weint mir ins T-Shirt, während ich versuche ihn zu trösten. Ein anderer, der die Geschichte und die tränenreiche Seite Andrés’ bereits zu kennen scheint, redet unter dem starken Einfluss einiger Biere mehr oder weniger tröstend von hinten auf ihn ein: »But you survived, my friend! It’s a long time ago. You’ll get over it. Come on, boy …«
Nachdem er sich beruhigt hat, will er uns einen ausgeben. Wir lehnen dankend ab. Das muss er nun wirklich nicht machen. Als er uns aber zum dritten Mal: »What do you want to drink?«, fragt, geben wir doch noch nach.
Für mein Trösten habe ich wohl den einen oder anderen Punkt auf mein Karmakonto bekommen und gewinne, nein: zerstöre Cari am Ende doch noch beim Darts. Wir stoßen zu dritt an: auf eine gute Zeit, den guten Andrés mit seinen heruntergelassenen Spendierhosen und schließlich auch auf Cari als grandiosen Menschen. So endet ein schöner Abend in einer hässlichen Kneipe voll netter Leute.
Als ich bei Casey die Tür öffne, stoppt mich Cari plötzlich. Was ist los? Sie hat in diesem Moment eine SMS von unserem Gastgeber bekommen: Wir dürfen nicht rein. Einer seiner Mitbewohner ist von sonst wo zurückgekommen und weiß noch nichts von uns. Wir sollen daher auf Casey warten – was noch dauern kann. Also geht’s in eine andere Bar. Eine Bar, die Casey uns ebenfalls per Textnachricht empfiehlt. Da wir mittlerweile schon breit genug sind, wollen wir aber nichts mehr trinken. Glücklicherweise kreuzen kurz nach unserer Ankunft in der Bar auch schon Casey und unsere neuen Mitbewohner auf. Somit müssen wir nichts bestellen und es geht kurz darauf nach Hause … auf den Boden. Gute Nacht.

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