Tag 7: Der Traum eines Trampers

Serendipity – Teil 1

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Freitag, 16. November 2012
Pacific Grove – Carmel – ???

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Entweder habe ich es wieder vergessen oder es hat mir keiner gesagt: Ich habe keinen Plan bis wann ich meinen Palast gerĂ€umt haben muss. Beim FrĂŒhstĂŒck vermutet die Kellnerin stark, dass ich bis halb zwölf draußen sein muss. Dann wird’s wohl stimmen. Ich packe also meine sieben Sachen und verlasse beinahe pĂŒnktlich die Lighthouse Lodge & Cottages. Auf der Hauptstraße begegne ich zwei Rehen und ich beschließe, dass mein Ziel des Tages sein wird, Clint Eastwood in Carmel-by-the-Sea ĂŒber den Weg zu laufen, jenem kleinen KĂŒstenort in dem der coolste Cowboy aller Zeiten von 1986 bis 1988 BĂŒrgermeister war. Wie bereits erwĂ€hnt, hat ihm das aber anscheinend nicht ĂŒberall Sympathien eingebracht. Im Kino hat mich gestern eine Frau auf mein »The Good, the Bad and the Ugly«-T-Shirt angesprochen. Sie meinte, dass es ja bis auf »The Good« ein wirklich cooles Shirt sei. Hm â€Š
Ich erkundige mich im CafĂ© gegenĂŒber des Kinos, wo der Bus nach Carmel abfĂ€hrt. Der mĂŒsste schrĂ€g gegenĂŒber abfahren. Ich werde allerdings nicht so ganz schlau aus dem Fahrplan und mĂŒsste wohl erst mal nach Monterey und dort umsteigen. Dann probiere ich es doch lieber mal mit Trampen. Carmel ist ziemlich genau zehn Kilometer von Pacific Grove entfernt. Die Gegend ist wesentlich hĂŒgeliger als ich mir das vorgestellt hatte â€“ und mein Rucksack wiegt schon ein paar Kilo mit dem Notebook und der Kamera darin. Mein RĂŒcken ist daher nach den ersten Kilometern schon gut am Schwitzen. Und dann geht’s auch noch richtig fies bergauf. Ich ĂŒberhole einen vollbĂ€rtigen Mann mit einem recht schwer wirkenden MĂŒllsack auf der Schulter.
»I hate this fucking mountain!«, meckert er. »Once a week! I have to climb this fucking mountain once a week!«
Ich verlangsame meine Geschwindigkeit und besteige mit dem knapp 55-JĂ€hrigen die Forest Avenue.
»Where do you go? Big Sur?«
»No, Carmel. What is Big Sur?«
»You don’t know Big Sur? You have to go there. Redwoods! Beach! It’s fantastic!«
Klingt nach einem weiteren Ort, den ich auf meine Liste schreiben sollte. Der Mann empfiehlt mir, bei der nĂ€chsten Bushaltestelle auf den Bus zu warten. So wird’s gemacht. An der Haltestelle, die direkt an einer Tankstelle ist und lediglich aus einem Schild besteht, gibt es jedoch keinen Fahrplan. Also halte ich den Daumen raus. Vielleicht hĂ€lt ja jemand an, bevor der Bus kommt â€Š wenn er denn kommt. Ich stehe keine zehn Minuten, als plötzlich ein Auto â€“ aus Richtung Carmel kommend â€“ langsamer wird. Ein MĂ€dchen, Mitte Zwanzig, sitzt am Steuer und ruft: »Where do you wanna go?«
»Carmel.«
»Okay.«
Sie dreht ihren Wagen an der Tankstelle und lÀsst mich einsteigen.
»It’s my lunch break and I saw you standing there«, fĂ€ngt Melissa an. Sie habe daraufhin ihren Boss angerufen und gefragt, ob sie 15 Minuten spĂ€ter aus der Mittagspause zurĂŒckkommen kann, um mich aufzugabeln. Der habe damit kein Problem, berichtet sie und schon hat sie gedreht. Ähm, wow.
»So, you work in Carmel or why do you go there now?«
»No, I work in Pacific Grove.«
»And â€Š why do you go to Carmel now?«
»Because you want to go there.«
Ach so. Klar, logisch. Wahnsinn.
Wir unterhalten uns gut. Sie erzĂ€hlt mir, dass gerade Haisaison ist und es in den letzten drei Wochen bereits drei UnfĂ€lle in Kalifornien gab. Der tödliche von den dreien ist â€“ wenn sie sich nicht irrt â€“ in Carmel passiert. Hm. Ich erzĂ€hle ihr unter anderem, wie ich in Amerika umherreise und dass ich womöglich fĂŒr heute noch keine Unterkunft habe, weil sich Cecilys Vater noch nicht gemeldet hat. Wenige Minuten spĂ€ter erreichen wir Carmel. Die Fahrt ist aber noch nicht vorbei. Die Physiotherapeutin fĂ€hrt mich erst einmal runter zum Strand und dann wieder hoch in die Downtown. Jetzt habe ich also einen Überblick und kann umherwandern.
»Do you need a ride back?«
»I don’t know yet. I’ll also try to find a place to sleep in Carmel, I guess.«
»If you don’t find a place, give me a call. I can pick you up and you can stay at my place in Santa Cruz.«
Als Melissa wieder losgefahren ist, dauert es keine zwei Minuten, bis ich in die nÀchste Unterhaltung verstrickt bin. Ich passiere gerade ein TouristenpÀrchen so um die 50, als ich ihn zu seiner Frau sagen höre: »Is that a real backpacker?«
Dann wendet er sich direkt an mich: »Are you a real backpacker?«
»Yes, Sir«, lautet meine geschmeidige Antwort, wÀhrend ich stolz meinen Rucksack enger ziehe.
»Where do you come from?«
Die ĂŒbliche, aber durchaus immer wieder unterhaltsame GesprĂ€chsrunde beginnt. Ihre Tochter zieht ĂŒbrigens bald nach Frankfurt. Jo.

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Carmel ist niedlich, aber touristischer und noch nobler wirkend als Pacific Grove. Der unbekanntere Nachbarort ist mir sympathischer als Carmel. In Carmel scheint alles noch einmal einen Zacken teurer zu sein als in Pacific Grove. Der Ort ist auf Tourismus ausgelegt und besteht daher primĂ€r aus vielen kleinen Restaurants, FeinschmeckerlĂ€den, Modeboutiquen und Ähnlichem. Die HĂ€user sind in Carmel allerdings durchaus speziell: Hier gibt es MĂ€rchenhĂ€user! Zumindest sehen manche HĂ€user aus, als seien sie einem MĂ€rchen entsprungen. Neben der Architektur hĂ€lt der kleine KĂŒstenort noch weitere KuriositĂ€ten parat: Es gibt keine Straßenlaternen und keine â€“ wie sonst so ĂŒblich in Amerika â€“ Parkuhren! Außerdem hat man wohl erst sehr spĂ€t den Straßen Namen verpasst. Die KĂŒnstler, die in Carmel die ersten HĂ€user errichteten, gaben lieber den HĂ€usern Namen als den Straßen. Deswegen wird heute noch kaum ein Haus in Carmel mit Post beliefert. Die Einwohner mĂŒssen sich ihre Post abholen. Leuchtreklame gibt es auch keine und wer High Heels tragen will, muss sich dafĂŒr eine kostenfreie Genehmigung beim Amt abholen. Man wird aber mit High Heels eher selten bis nie verknackt. Dieses krude Gesetz wurde seinerzeit verabschiedet, um Klagen von in Carmel Verunfallten easy abweisen zu können. Geschickt. Außerdem gibt es noch den 17-Mile Drive, eine Rundstrecke zwischen Pacific Grove und Pebble Beach, die sehr schön sein soll. Allerdings muss eine MautgebĂŒhr gezahlt werden.
Ich kaufe mir in einem stylishen italienischen Delikatessenladen ein Ciabatta, ein Brötchen und ein Wasser und setze mich auf eine Bank. Plötzlich schwebt ein Kolibri keine zwei Meter entfernt von mir vor einem Ast. Ja, Wahnsinn! Leider ist der Vogel schneller wieder verschwunden als ich meine Kamera herauskramen kann.
Durch Carmel zu spazieren ist eigentlich nett, weil das Dörfchen mit seinen vielen BĂ€umen noch sehr naturverbunden wirkt. Dennoch wirkt der Ort auf mich zu aufgesetzt. Ich spaziere zum Strand hinunter, der wiederum vollends ĂŒberzeugt. Der weiße Sand zieht sich ewig weit von Nord nach SĂŒd. Auch in der Breite ist der Strand nicht zu verachten. Hier mĂŒssen schon gnadenlos viele Sonnenanbeter, Surfer und Schwimmer antanzen, um diesen Strand zu fĂŒllen. Die Wellen sehen super aus, angeschwemmtes Kelp liegt auf dem Sand, Hunde tollen umher, Möwen schauen in die Ferne und Pelikane ziehen ihre Kreise.

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Ich besteige eine SanddĂŒne, auf der ein schöner Baum steht. Als ich mich nĂ€here, sehe ich ein ziemlich ulkig aussehendes Eichhörnchen. Okay, die grĂ¶ĂŸten Unterschiede zu einem »gemeinen Eichhörnchen« sind die Fellfarbe â€“ das »Carmelhörnchen« wartet mit weißen Flecken auf â€“ und die Schwanzdicke, die beim Vertreter aus Carmel einfach wesentlich dĂŒnner ist. Ein EhepĂ€rchen kommt auf den Baum, Scrat und mich zu. Als die beiden das sĂŒĂŸe kleine Wesen sehen, packen sie sofort etwas KnĂ€ckebrot aus. Das Tierchen ist erstaunlich furchtlos und nimmt ziemlich entspannt das Leckerli aus der Hand. Daraufhin lĂ€sst es sich problemlos und aus einer optimalen Entfernung ansehen und fotografieren. Yeah!

Ich laufe mit meinem Rucksack zurĂŒck zur Downtown. Am Fuße des HĂŒgels, der hinauf in die Downtown fĂŒhrt, gibt es ParkplĂ€tze. Eine Dame möchte Gebrauch von einer der mannigfaltigen Parkmöglichkeiten machen. Viele PlĂ€tze sind nicht belegt, sie hat also eine gute Auswahl. Nennt es faul, nennt es geschickt: Sie entscheidet sich fĂŒr die dem Strand nĂ€chstgelegenste LĂŒcke. Jetzt nenne ich es aber auf jeden Fall ungeschickt, wenn nicht sogar total behĂ€mmert: Die letzte eingezeichnete ParkflĂ€che ist auf der Beifahrerseite begrenzt â€Š von einem 30 bis 40 Zentimeter hohen MĂ€uerchen. Alle anwesenden Personen drehen sich unweigerlich in die Richtung, aus der das fiese Kratz- und SchleifgerĂ€usch kommt â€“ also in Richtung Parkplatz. Die Heldin sitzt â€“ wo auch sonst â€“ am Steuer ihres Sportwagens und versucht unbeeindruckte Miene zum durchaus beeindruckenden Schauspiel zu machen: Sie schwebt. Zumindest ein bisschen und auch nicht immer gleichmĂ€ĂŸig. Ein Reifen findet immer mal wieder den Kontakt zum Boden. Blöderweise sind das eher selten die HinterrĂ€der. Die Flucht nach hinten mit angehobener Front wĂ€re die gesĂŒndeste Lösung fĂŒr dieses Ă€ußerst bizarre Dilemma. Neben mir sitzt ein mittelamerikanisch aussehendes PĂ€rchen. Der Typ beginnt fies zu lachen, fĂ€ngt sich aber sofort wieder, schaut mich an und fragt: »Should we help?«
Ich nicke grinsend zurĂŒck und schon marschieren wir schnellen Schrittes auf die FahrkĂŒnstlerin zu. Ein dritter Mann kommt hinzu. Kaum wollen wir das Auto an der Motorhaube anheben, damit der Bodenkontakt der Hinterreifen hergestellt werden kann, als die Frau mit dem seltsamen Fahrverhalten die noch seltsamere Idee bekommt, einfach den kompletten Weg ĂŒber die Mauer zu nehmen und vorwĂ€rts zu fahren. Wir drei schlagen im Stile von Synchronschwimmern unsere HĂ€nde ĂŒber den Köpfen zusammen und weinen: »Oh, no! No! No!«
Die Steuerfrau bleibt bei ihrer valiumartigen »Ja, wat denn?«-Miene und setzt leger wieder zurĂŒck. Die Anwohner Carmels, sĂ€mtliche Touristen, die Bewohner der Meere und die Tiere des Waldes versammeln sich, um des Schauspiels Zeuge zu werden. Wir versuchen erneut, die Motorhaube zu ergreifen, um besagten Plan auszufĂŒhren. Kaum haben Mann 3 und ich das GefĂ€hrt an seinen Hörnern, denkt sich die Bomberpilotin: »Schwubbeldiwubbel, hackeldiewutz!«, und haut mal eben den RĂŒckwĂ€rtsgang im Kavalierstil rein. FĂŒnf Sekunden spĂ€ter ward niemand mehr gewiss, ob er der GötterdĂ€mmerung Zeuge wurde, ob das alles nur ein Bluff aus Hollywood war und ob die bergauf verschwundene Teufelsreiterin ĂŒberhaupt jemals existiert hat. Es ist seltsam.
Ich setze mich neben das vermutlich mexikanische Paar. Wie das so ĂŒblich ist, ist es ĂŒberhaupt kein Problem, eine Unterhaltung mit Wildfremden anzufangen; speziell dann nicht, wenn man gerade Zeuge einer solchen Show geworden ist. Die beiden kommen nicht aus Mexiko, sondern aus San Francisco, wollen mal Abstand von der Stadt und finden meine Art zu reisen verrĂŒckt. Besonders als sie hören, dass ich hierher getrampt bin, gehen die Augen weit auf. Ich habe bislang ausschließlich liebe, nette und friedliche Menschen getroffen. Woher kommt denn diese enorme Paranoia, wenn es ums Trampen geht? Naja, die Unterhaltung mit den beiden ist lustig und nett. Besonders amĂŒsiert mich die Tatsache, dass der Kerl mich ungemein an meinen Berliner Kumpel Erik erinnert.
Es geht wieder bergauf. Ich muss einen Wi-Fi-Spot finden, um einen Übernachtungsplatz klarzumachen und ich muss meinen Tauchbuddy Jesse kontaktieren, um zu erfahren, wann ich morgen wohin kommen soll. In einem SeifengeschĂ€ft frage ich die VerkĂ€uferinnen, wo es ein InternetcafĂ© oder Ähnliches gibt. Ich soll einfach das Netz vom benachbarten Hotel nutzen. Das machen die beiden genauso, sagt eine von ihnen und gibt mir das Passwort: »Carmel«. Ausgefallen.
Blöderweise hat das Hotel keine Café-Terrasse, was bei den Preisen, die ich bisher in Carmel gesehen habe, aber durchaus ein Vorteil sein kann. Eine Parkbank? Fehlanzeige. Wo setze ich mich am besten hin? Ich entscheide mich dazu, mich einfach mal im Hotel umzusehen. Kaum betrete ich die rote Lobby, stehe ich auch schon neben dem Rezeptionisten. Hm. Na, dann frage ich ihn einfach direkt: »Can I just sit here for a while?«
»Sure. Welcome.«
Fett. Nett. Ich packe meinen Computer aus und fange an, bei couchsurfing.org zu suchen. Allzu viele Couchsurfer gibt es in dieser Gegend nicht. Jesse hat mir noch nicht geantwortet und von Cecily oder ihrem Vater habe ich ebenfalls noch keine News. Was mache ich? Bald geht die Sonne unter. Ich hĂ€tte auch kein Problem damit, in Pacific Grove oder Carmel unter freiem Himmel zu kampieren. Blöderweise schlĂ€gt das Wetter aber seit heute etwas um. Ich dĂŒrfte in der Nacht also nass werden. Ich packe mein Zeug zusammen und beschließe, nach Pacific Grove zurĂŒckzutrampen. Dort finde ich sicherlich eher etwas als hier. Und dann wĂ€re da ja noch Melissa â€Š WĂ€re es unverschĂ€mt zu fragen, ob ihre Einladung noch gilt? Nein. WĂ€hrend ich bergauf zum Cabrillo Highway steige, schreibe ich ihr eine SMS.
Am Highway dauert es wieder keine zehn Minuten, bis mich ein rund 80-jĂ€hriger Opa in seinem alten Jaguar mitnimmt. Kaum sitze ich, bekomme ich Antwort von Melissa: Ihr Angebot steht noch. Großartig!
»I didn’t see Clint Eastwood«, teile ich dem Opa mit.
»He’s living in Pebble Beach. Did you go to his restaurant?«
»No, which one is it?«
»The Ranch. Well, it’s called Mission Ranch Restaurant. You get to see him there from time to time. He sometimes plays the piano. I brought a tourist there once. She was a big fan but didn’t dare to talk to him. So I had to take her and introduce her to him. That made her whole holiday!«
Der Mann ist nett. Ich will auch, dass er mich zu Clint bringt! Er erzĂ€hlt Anekdoten von seiner Zeit als Statist bei einem Film mit Anthony Quinn: »The movie’s called â€șR.P.M. â€“ Revolutions per Minuteâ€č!«, lacht er. Dann berichtet er von seinem Flugzeug, das er als Wrack gekauft und dann wiederhergerichtet hat.
»Did you have a test pilot or did you risk your own life?«
»There was a pilot.«
Höhö.
Vor kurzem wollte er dann mal wissen, ob sein Baby noch irgendwo in Nutzung ist. Im Internet hat er nach der Registrierungsnummer gesucht und tatsÀchlich herausgefunden, dass seine Maschine in Alaska noch aktiv ist. Er hat den neuen Besitzer per E-Mail kontaktiert, aber noch keine Antwort erhalten.
Er lĂ€sst mich in der Lighthouse Avenue raus. Optimal. Ich gehe ins CafĂ© gegenĂŒber des Kinos und schreibe Melissa, wo ich bin. Einen halben Kaffee spĂ€ter steht sie vor mir: Ab geht’s nach Santa Cruz!

Pacific Grove – Carmel – Santa Cruz

Melissa ist 26, Ă€ußerst entspannt und wir können uns auf Anhieb flĂŒssig unterhalten. Sie arbeitet als Physiotherapeutin in Pacific Grove. Wir mĂŒssen zunĂ€chst bei ihren Eltern anhalten und BettwĂ€sche fĂŒr mich mitnehmen. Meine Gastgeberin fĂŒr die Nacht regt sich ĂŒber bekloppte Autofahrer auf, von denen es viel zu viele gibt. Sie hat auch nicht ganz unrecht. StĂ€ndig kleben Autofahrer auf der linken Spur, obwohl sie kaum vorwĂ€rts kommen und rechts niemand zum ĂŒberholen ist.
Melissa telefoniert mit ihrem Vater und erzĂ€hlt ihm, dass einer ihrer besten Freunde vor wenigen Tagen Opfer eines Unfalls mit Fahrerflucht wurde. Irgendein besoffenes Arschloch hat ihn am helllichten Tage ĂŒberrollt. Eine HĂ€lfte des Gesichts ist eingedrĂŒckt und muss mit Metall stabilisiert werden, ein Auge hing aus dem SchĂ€del und â€Š bĂŒĂ€h! Es klingt ĂŒbel, was sie erzĂ€hlt. Der Clou ist aber, dass der Kollege schon wieder am Arbeiten ist! Das amerikanische Gesundheitssystem â€Š
Wir passieren die wohl abgefahrenste Ausfahrt aller Zeiten: »Next Exit: Freedom« steht mit weißen Lettern auf dem grĂŒnen Schild. Ich frage Melissa, ob wir die nicht nehmen können. Nicht jetzt, meint sie.

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In Santa Cruz angekommen, geht’s erst mal zu Target. Das ist wie Wal-Mart, nur cooler, erklĂ€rt Melissa. Der Laden ist krass: ein riesengroßes Einkaufszentrum mit allem, was man aus US-Filmen so kennt. Das fĂ€ngt mit Apotheke an und hört mit Fotostudio auf. Nichtsdestotrotz ist das keine Mall, sondern ein Supermarkt. Oder nennt man so etwas Megamarkt? Ich versuche gerade meine ReizĂŒberflutung in den Griff zu bekommen, als uns auf einmal und einfach so ein Megasupermarktangestellter anspricht: »Do you find everything? Do you need help?«
Ich lasse Melissa wissen, dass man in Deutschland sicherlich niemals von einem Angestellten im Supermarkt so freundlich und hilfsbereit angesprochen wird.
»That’s why I like Santa Cruz. The people here are the most friendly people.«
An der Kasse darf ich mein Zeug nicht bezahlen. Das will sie machen und da besteht sie drauf. Immerhin kann ich ihr mit etwas Kampf die EinkaufstĂŒten abnehmen und zum Auto tragen. Wir steuern die nĂ€chste Station an: Melissa braucht Gras. Wenig spĂ€ter halten wir auf einem Parkplatz vor einem kleinen GeschĂ€ft, dem Herbal Center.
»Here we are.«
»Wait a second. You buy your weed in that store?«
»Sure.«
»???«
»What?«, fragt sie mich lÀchelnd.
»You have coffee shops? Like in the Netherlands?«
Sie lacht: »Sort of. Yes. You need this.«
Sie zeigt mir ein KÀrtchen, das wie ein KrankenversichertenkÀrtchen aussieht.
»It’s your medicine?«
»I have a horrible insomnia!«, strahlt sie mich an. Zehn Minuten beziehungsweise einen Countrysong und etwas US-Radio-Werbung spĂ€ter kommt sie aus ihrer Apotheke zurĂŒck. Sie kann hier jeden Tag Gras kaufen. Allerdings nicht mehr als 28 Gramm, wenn ich mich nicht irre. Es kontrolliert aber auch kein Arsch, wie viel sie wo kauft. Sie könnte â€“ nach eigener Aussage â€“ wohl problemlos von Herbal Center zu Herbal Center und sich tĂ€glich ordentlich zudecken, ohne dass ein Hahn danach krĂ€hen wĂŒrde: staatlich kontrolliertes Marihuana, abgegeben von Freiwilligen, die keinen Lohn fĂŒr ihre Arbeit bekommen. Ein Freund Melissas ist staatlich anerkannter Haschproduzent. Was es in Amerika fĂŒr Sachen gibt â€Š
Melissa wohnt in einem seltsamen Komplex. Solche Anlagen kennt man durchaus aus Filmen. Dort sind es dann aber gemeinhin Motels. Im Erdgeschoss des tĂŒrkisen GebĂ€udes befinden sich diverse GeschĂ€fte und im Obergeschoss sind Wohnungen. Die HĂ€user mit den dunklen GiebeldĂ€chern sind primĂ€r aus Holz, alle miteinander verbunden und stehen quasi auf einem riesigen Parkplatz. Melissa hat eine Katze, die sie nach Uma Thurmans Charakter in »Pulp Fiction« benannt hat. Mia ist sĂŒĂŸ und strahlend weiß. Melissas Wohnung ist pures Chaos und mit verschiedenen Pfeifchen und einem abartig großen Flachbildfernseher ausgestattet. Melissa kann ĂŒber eine Video-on-Demand-Flatrate, die sie bei der Online-Videothek Netflix hat, aus einer riesigen Auswahl direkt Filme auf ihren Fernseher laden. Im Internet surfen kann sie mit dem Monster natĂŒrlich auch.
Wir bestellen uns was beim Chinesen im Erdgeschoss. Ich darf schon wieder nicht zahlen. Ich zeige Melissa stolz mein Video vom Seahorse Captain. Sie lacht TrĂ€nen und sagt, dass sie sich noch nie in ihrem Leben wegen etwas so bepissen konnte. Melissa bringt ihre BettwĂ€sche samt Matratze zum Riesenfernseher. Wir stopfen uns noch ein Pfeifchen, entzĂŒnden es mit ihrer Hanfwolle â€“ Feuerzeuge mag sie nicht, weil sie das Gas schmecken kann â€“ und machen es uns gemĂŒtlich: der Traum eines jeden Trampers. Dann lĂ€uft »Jackass 3« â€Š

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