Tag 8: Big Sur

Serendipity – Teil 1

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Samstag, 17. November 2012
Santa Cruz – Big Sur – Santa Cruz

Hm, das Fenster stand die ganze Nacht über offen und ich habe mich erkältet. Verdammt. Melissa ruft eine Freundin an, der sie offensichtlich am Vortag noch mitgeteilt hat, dass sie einen hitchhiker mit nach Hause genommen hat. Ich vernehme laut und deutlich die Stimme von Melissas Freundin aus dem Telefon: »So you’re still alive!«
Jawohl, ist sie. Und sie hat einige Erledigungen zu machen. Daher fragt sie mich nach meinem Tagesplan. Jesse hat mir mittlerweile eine Absage fürs Tauchen erteilt. Das dachte ich mir seit gestern schon fast. Wir können es aber morgen noch einmal versuchen, meint er. Na, ich bin skeptisch. Ich habe also keinen festen Plan für heute und beschließe, Melissa bei ihren Erledigungen zu begleiten. Als erstes steht ein Friseurbesuch an. Und das ist toll! Wir befinden uns in Seaside, einem kleinen Ort nordöstlich von Monterey, als Melissa den Wagen vor einem ebenerdigen, kleinen blauen Häuschen parkt. Durch das Fenster kann man die Asiatinnen bereits bei der Arbeit sehen. Ein blonder Junge sitzt auf dem Stuhl am Fenster. Wir betreten den kleinen barbershop. Melissa kommt immer hierher, obwohl es von Santa Cruz nach Seaside gut 65 Kilometer sind. Sie erledigt ihre Friseurbesuche wahrscheinlich, wenn sie von der Arbeit in Pacific Grove nach Hause fährt. Der Friseurbesuch ist wie im Film. Buck, ein kräftiger Asiate und Vater eines Sohnes und einer Tochter, kommt mit Jack ins Gespräch. Auch Jack hat seine Kinder dabei: Seine Tochter macht Quatsch mit ihm und der Sohnemann wird gerade auf dem Stuhl am Fenster frisiert. Buck, der in einem Sushi-Restaurant arbeitet, wartet mit seiner Frau und seinen Kindern darauf, den Platz von Jacks Sohn einzunehmen. Die Männer auf den anderen beiden Frisierstühlen sind nicht so interessant. Als Jacks Sohn fertig ist, werden – wie hier so üblich – noch schnell die Namen und Visitenkarten getauscht und schon düsen Jack und seine Kinder von dannen. Buck bekommt nun den military haircut verpasst: Topf auf’n Kopf und drumherumsäbeln. Zumindest sieht diese grässliche Frisur am Ende so aus. Buck unterhält sich mal mit seiner Friseurin, mal mit seiner Frau und zwischendurch auch gerne noch mit der Allgemeinheit. Zwischendurch ruft er dann: »Son!«, woraufhin der Sohnemann aufspringt und zum autoritären Papa rennt. Der zweite liebevolle Befehl lautet: »Kiss!«, und schon gibt’s einen Schmatzer auf Daddy’s Backe. Sweet.
Ein weiteres Pärchen betritt die Szenerie. Pummelchen und seine Freundin warten auf Bucks Stuhl. Als der leer wird, gibt’s einen weiteren Military Haircut. Der dicke Teddy sieht plötzlich gar nicht mehr so sympathisch aus. Ich überlege ja auch, mir einen neuen Haarschnitt verpassen zu lassen. Bevor ich dann aber so aussehe, lasse ich es lieber bleiben. Vielleicht machen und beherrschen die Damen des Hauses überhaupt keine anderen Frisuren? In Monterey gibt es nämlich eine ziemlich große Kaserne. Womöglich ist der Kollege auf dem Stuhl also tatsächlich Soldat. Veteranen und das Militär im Allgemeinen werden übrigens von vielen Geschäften mit Begrüßungsaufklebern oder gar Preisnachlässen gefeiert.
Melissa ist am Ende 18 bucks los und sieht aus wie zuvor. Nun gut, sie hat jetzt möglicherweise etwas mehr Volumen im Haar. Morgen geht sie im Übrigen mit einem Verehrer in die Oper nach San Francisco. Da muss man sich schon schick machen. Meine brünette Gastgeberin muss deswegen auch noch Klamotten kaufen. Darauf hat sie plötzlich aber so überhaupt keine Lust mehr und fragt, ob sie mir nicht besser Big Sur zeigen soll. Klar soll sie das!
Wir fahren den Küstenhighway 1 in Richtung Süden. Die wunderschöne bergige Landschaft erinnert mich ein wenig an Andalusien. Die Küste ragt steil aus dem Meer hinaus und geht direkt in ein Gebirge, die Santa Lucia Range, über. Die Straße führt direkt am Abhang entlang. Hier stürzen laut Melissa jährlich mehrere Autos ab. Die Überlebenschance liegt nur wenig über Null. Vier Surfer zwischen 16 und 17 sind vor ein paar Jahren an der Stelle, die wir gerade passieren, abgestürzt. Zwei sind ertrunken, die anderen beiden konnten sich retten.
»You can’t see it from here, but down there is the house they shot ›Basic Instinct‹«, wechselt Melissa das Thema. Yeah!
Wir kommen an eine Brücke, von der ich vorher schon ein Foto gesehen hatte: die 85 Meter hohe Bixby Creek Bridge.

<center>Bixby Creek Bridge</center>
Die Bixby Bridge ist eine sehr schöne Steinbogenbrücke aus Eisenbeton. Sie wurde nach 14-monatiger Bauzeit im November 1932 eröffnet und zieht sich über eine 218 Meter breite Schlucht. Davor mussten die Menschen, die von Carmel in Richtung Big Sur unterwegs waren noch einen 18 Kilometer langen Umweg ins Landesinnere machen. Die einspurige und wohl auch ziemlich raue Straße musste im Winter oft gesperrt werden. Mitunter mussten die Küstenbewohner dann mit gefährlichen Bootstrips die Verpflegung ranschaffen oder aus Monterey und San Francisco liefern lassen. So war das damals …

Melissa ist mal mit Freunden fröhlich betrunken die Schlucht hinabgestiegen. Die ist steil … und tief. Auf dem Rückweg hat eine ihrer Freundinnen einen anderen Weg genommen, ist durch irgendwelche Pflanzen gelaufen und hatte dann vier Wochen lang Ganzkörperhautausschlag. Autsch.

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Wir stoppen bei einer kleinen Souvenirladen- und Restaurantsiedlung. Das ist Big Surs Downtown, mutmaße ich. Seit Carmel sind wir weit und breit an keiner Siedlung vorbeigekommen – und Carmel liegt schon 37 Kilometer hinter uns. Melissa klärt mich darüber auf, dass Big Sur gar kein Dorf oder Städtchen ist, sondern den knapp 100 Kilometer langen Küstenabschnitt zwischen Carmel im Norden und San Simeon im Süden bezeichnet. Der Name Big Sur ist eine krude Mischung aus Englisch und Spanisch und bedeutet »Großer Süden«. Die Namensmixtur rührt daher, dass dieser Teil Kaliforniens einst als Alta California eine spanische Kolonie war.
Melissa erzählt, dass man an den Stränden von Big Sur Jade finden kann! Da halte ich doch mal die Augen offen. Außerdem soll der Strand stellenweise purpurfarben sein. Wow, ich habe auf meinen Reisen bereits weißen, gelben, schwarzen und grünen Sand gesehen, aber lila ist mir noch nie untergekommen. Ich bin gespannt.
Wir fahren den Highway weiter. Melissa zeigt auf einige Berge und erklärt mir, dass hier vor vier Jahren ein Waldbrand wütete, der alles niederbrannte. Die Berge sehen dennoch toll aus: Sie sind rot! Melissa scheint dasselbe zu denken und beschließt, dass wir sofort in einen in Richtung Küste führenden Waldweg abbiegen. Irgendwo hier unten hat einer von den Beach Boys ein Haus, weiß meine Fremdenführerin. Es sind nur zwei Meilen, aber die Straße ist nicht so gut, als dass man sie zügig befahren könnte. Es dauert daher eine Weile, bis wir das Ziel des Weges erreichen: ein Kassenhäuschen. Melissa hat jedoch – woher auch immer – einen Parkschein für diesen Parkplatz des Pfeiffer Big Sur State Park. Wir parken den Wagen also kostenlos. Melissa bringt den Parkschein so an, dass er nicht entwertet werden kann, ich mache derweil Pipi und schon geht’s an den Strand.
Die Sonne geht langsam unter – wobei das in Kalifornien ganz schön schnell geht. Auf jeden Fall ist das Licht, das durch die Äste der Bäume fällt, wunderschön. Der Waldweg zum Strand leuchtet golden. Der Blick auf den Ozean, der sich uns wenige Meter später auftut, wird von einem gigantischen Felsblock im Wasser versperrt. Die Wellen brechen sich spektakulär an ihm. Noch beeindruckender ist allerdings der wie ein Portal aussehende Tunnel, der mitten durch den Felsen geht. Die Sonne leuchtet warmes Licht in die Pforte und die Wellen schlagen durch sie hindurch. Es sieht absolut genial aus. Passiert man den Felsen, öffnet sich einem die komplette Bucht mit ihrem langen weißen Strand, dem Pfeiffer Beach. Melissa ist ein wenig enttäuscht, da man heute wohl weniger purpurfarbenen Sand sieht als sonst. Es gibt ihn aber tatsächlich stellenweise für wenige Quadratmeter. Die Sonne versinkt rot leuchtend im Meer und es wird kalt. Also halten wir uns vor einer epischen Kulisse gegenseitig warm …

Auf dem Rückweg begegnen wir Blaulicht. Ein Baum ist auf die Straße gestürzt, auf der wir vor ein, zwei Stunden noch gefahren sind. Mit dem leicht aufgekommenen Nebel und den auf der Straße verteilten roten Signalfackeln schaffen die Cops durchaus eine weitere filmreife Szene auf meiner Reise.
Ohne weitere Zwischenfälle und erneut ohne die Ausfahrt Freedom zu nehmen, erreichen wir wieder Santa Cruz. Melissa möchte mir den Biosupermarkt New Leaf präsentieren. Der kann auch durchaus beeindrucken. Neben dem üblichen aber sehr üppigen Sortiment eines Biomarkts, gibt es noch einen deli, der diverse Speisen und Pröbchen anbietet. Lecker! Beim Zahlen sage ich dem Kassierer, dass er kein Geld von Melissa annehmen darf. Er befolgt die Order und so kann auch ich, nach all den Einladungen der letzten Tage, endlich einmal Geld ausgeben.
Nach dem Abendessen haut Melissa zu ihrem böse verunfallten Freund ab und erledigt ihr Opernklamottenshopping. Ich denke mir, dass ich ja mal etwas Gutes und Nützliches tun kann und spüle ihr, in erschreckend großer Menge vorhandenes, dreckiges Geschirr ab. Als sie wiederkommt, bin ich gerade am Abtrocknen. Sie freut sich, während ich das letzte Weinglas durchbreche und mir die rechte Handfläche aufschlitze. So eine Scheiße …

Quellen
Für so manche Information über Carmel und Big Sur: Wikipedia

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