Tag 9: The Lost Boy

Serendipity – Teil 1

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Sonntag, 18. November 2012
Santa Cruz

Die Oper fängt schon um 14 Uhr an, weswegen Melissa bereits um elf Uhr aufbrechen muss. Ich habe derweil die Qual der Wahl: Fahre ich ebenfalls nach San Francisco oder schaue ich mir Santa Cruz an. Die Entscheidung fällt recht schnell. Natürlich schaue ich mir die »Surf City USA«, wie Santa Cruz auch genannt wird, genauer an. Melissa fährt mich noch zur Pacific Avenue in die Downtown, bevor wir uns voneinander verabschieden. So schön bin ich noch nie getrampt …
Ich spaziere die Pacific Avenue, Santa Cruz’ belebteste Straße, entlang. Die 55.000-Einwohner-Stadt, die rund 100 Kilometer von San Francisco entfernt ist, hat wieder ein höheres Aufkommen an Obdachlosen. Auf mich wirken viele der Obdachlosen wie Surfer, die den Absprung nicht mehr geschafft haben beziehungsweise einfach das Leben auf der Straße in Santa Cruz zu genießen scheinen. Nach Backpackern sehen die Leute allerdings nicht aus. In der schönen Pacific Avenue reihen sich Cafés an Restaurants und Surfshops. In einem dieser Cafés, der Santa Cruz Coffee Roasting Company, schreibe ich die ersten Couchsurfer an. Dann erkunde ich weiter die City. Ich bekomme Hunger und esse eine Riesenportion süßen Curry Tofu bei Hula’s, einem hawaiianischen Restaurant. Danach kann ich kaum noch laufen.

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Es ist übrigens ganz interessant, dass Restaurants und Cafés entweder nur über eine Toilette in einem stets unnötig großen Raum verfügen oder die Kabinen – wie ich bereits bei meiner Ankunft am Flughafen amüsiert feststellte – so scheiße zusammengeschraubt sind, dass man den Leuten durch zentimeterdicke Schlitze bei ihren Geschäften zugucken kann. Ich habe mir mittlerweile angewöhnt, meinen Kapuzenpulli so über die Tür zu hängen, dass der Schlitz verdeckt ist. Aber das nur nebenbei. Ich bummle in Richtung Süden. Dorthin, wo das eigentliche Herz der Stadt schlägt: an den Strand.

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1885 wurde erstmals in Santa Cruz gesurft. Seither ist dies der Lifestyle No. 1 hier. Die T-Shirts mit dem gelben »Santa Cruz«-Schriftzug auf einem rotem Kreis dürften bekannt sein. Neben dem Surfen ist die Universität ein wichtiges oder das wichtigste wirtschaftliche Standbein der Stadt. Die Uni hat aufgrund ihrer Liberalität einen guten Ruf bei Hippies, Homosexuellen und Linken.
Ich komme zunächst an fröhlichen Salsatänzern und einigen Beachvolleyballplätzen vorbei, bevor ich mit dem Santa Cruz Beach Boardwalk ein weiteres Highlight der bunten Stadt erreiche.

<center>Santa Cruz Beach Boardwalk</center>
Der Boardwalk ist Kaliforniens ältester Vergnügungspark, der direkt am Strand liegt! Die berühmteste Attraktion dürfte der »Giant Dipper« sein, eine Holzachterbahn aus dem Jahre 1924, die auch in diversen Filmen Verwendung fand. Einer dieser Filme war der 1987 erschienene »The Lost Boys«, der in Santa Cruz einen gewissen Kultstatus zu genießen scheint. Der Film von Joel Schumacher mit Kiefer Sutherland in der Hauptrolle wurde in Santa Cruz gedreht und kombiniert Vampirfilm mit Jugendfilm; quasi das »Twilight« der 80er Jahre … nur wesentlich cooler.

Ich betrete Neptune’s Kingdom: »Miniature Golf, Games, Restaurant and Pool«, wird dem Besucher in diesem quietschbunten Gebäude versprochen. Und das scheint nicht übertrieben zu sein, denn sobald man Neptuns Reich betritt, steht man in einer Piratenwelt. Lebensgroße Piratenpuppen seilen sich von der Decke ab oder strecken ihren Kopf aus Fässern, Kanonen krachen von Zeit zu Zeit und stoßen Rauch in den Raum und schaut man sich die Wand an, sieht man das große Piratenschiff neben einem Feuer speienden Vulkan in der Bucht vor Anker liegen. Dazwischen wird tatsächlich Minigolf gespielt und gegessen. Für einen Dollar kann man zudem das zwielichtige »Brain«, eine schräge Puppe mit Monokel, die in einem Kasten aus Metall und Glas sitzt, um Rat fragen. Reizüberflutung.

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Ich spaziere lieber wieder draußen weiter. Bei einem Stand, »Stinky Feet« heißt er, kann man sich auf Kloschüsseln setzen und mit einem Wasserhahn Wasser auf offensichtlich stinkende Füße schießen. Hinter mir schreien sich die nächsten Mutigen ihre Seele aus dem Leib, als der »Free Fall Tower« den Sturz nach unten antritt. Dieser »Free Fall Tower« ist übrigens recht fies: Kaum ist man unten angekommen, schleudert er die Sitze wieder nach oben, nach unten, nach oben, nach unten und so weiter. Ich laufe über den Strand zurück und beobachte einen Typen, der mit einem Metalldetektor nach Schätzen sucht. Kinder spielen mit den Wellen und die Möwen versuchen, sich von den Kindern nicht zu sehr nerven zu lassen. Ich schlendere die Municipal Wharf entlang, von wo aus man einen schönen Ausblick über den Strand hat und beobachte die Surfer vor dem West Cliff Drive, der auf der anderen Seite des Kais gelegen ist. Die Sonne geht unter und die Surfer verlassen langsam das Wasser. Auch ich sollte mal wieder in Richtung Innenstadt gehen, um zu sehen, ob ich einen Übernachtungsplatz habe.

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Ich laufe einen anderen Weg als zuvor – schließlich will ich mit jedem Schritt etwas Neues sehen. Tja, und das lohnt sich auch! Ich passiere die Progressive Missionary Baptist Church und vernehme laut und deutlich Gospel. Geil, »Sister Act«! Ähm, »Blues Brothers« meine ich natürlich. Wie auch immer: Die Gemeinde feiert ihr 50-jähriges Bestehen. Also: rein da! Ich soll meinen Rucksack im Vorraum ablegen. Gerne doch. Im Gebetssaal werde ich freundlich vom Türsteher (!?) begrüßt. Er trägt einen schwarzen Anzug und weiße Handschuhe. Außer mir sind noch drei bis fünf andere Weiße anwesend. Der Rest der Gemeinde besteht aus Afroamerikanern. Es ist ein weiteres Mal wie im Film: Die Leute toben! Es wird getanzt, geklatscht, gerufen und gesungen. Ein Glück ist die Kirche in Europa so ungeheuerlich mittelalterlich. Nicht auszudenken, zu was die Kirche fähig wäre und wie viele Menschen sie anlocken könnte, würde sie solch einen Gottesdienst veranstalten. Es macht Spaß! Ich bin mir zwar sicher, dass der Text des Songs Quark ist, die Atmosphäre aber ist absolut beeindruckend. Das Lied ist vorbei, die Cheerleader packen ihre Fahnen ein, die Türsteher mit den weißen Handschuhen besinnen sich wieder auf ihre Contenance und die Gemeinde setzt sich. Nein, die Fantasie geht nicht mit mir durch: In dieser Kirche gibt es tatsächlich fahnenschwingende Cheerleader!
Der Prediger betritt die Bühne. Der Mann ist eine coole Sau, redet extrem gechillt und mit bewusst tiefsanfter Stimme: »I wanna thank you, Lord. I wanna thank YOU, Lord. LORD, I wanna thank you!«
Er bedankt sich auch noch bei anderen, tatsächlich existierenden Menschen. Das für mich Amüsante ist jedoch der Kollege zwei Reihen vor mir. Der kommentiert nämlich jede Danksagung ungefähr so: »Yeah! Oh, yeah! Thank you! Yeah!«
Das erinnert mich wiederum an die Band aus dem Saloon in San Francisco. Ob ich wohl freundlich: »Shut up! Shut the fuck up!«, rübersäuseln soll? Der preacher lässt sich davon nicht beeindrucken. Sicherlich ist er es gewohnt und ich gehe stark davon aus, dass solche Reaktionen gewollt sind. Es ist ja auch wirklich lustig. Auch ulkig ist der Wunsch des Predigers, dass sich die Gemeinde ständig erhebt und wieder setzt: »Come on, come on: Stand up«, sagt er in diesen Momenten und macht mit seiner Hand die entsprechende »Hoch mit euch«-Bewegung. Nach drei Minuten und zehnmaligem Aufstehen ist die Dankesrede vorbei und das nächste Highlight folgt: das Gebet. Hierfür faltet man aber nicht einfach seine Hände und wiederholt das ewig gleiche Vaterunser. Nein! Hier faltet man die Hand des Nachbarn und sagt zwischendurch: »Yeah!«
Ich habe keinen wirklichen Nachbarn, weil ich mich freiwillig etwas in die Ecke dränge. Damit komme ich aber nicht durch: Sofort kommt der Türsteher und drückt mir seine Hand in die Rechte und weist mich daraufhin, dass ich mir mit meiner Linken die Hand vom Opa vor mir schnappen könne beziehungsweise müsse. So wird’s gemacht und schon stehe ich in zentraler Position im Gang und biege mich zwischen dem Türsteher und dem Opa zurecht. What a show! Danach ist der Gottesdienst vorbei und wieder einmal wird sich bedankt. Diesmal gilt der Dank aber jedem, der einem gerade über den Weg läuft. Jetzt haue ich besser ab. Allerdings überlege ich kurz, ob ich die christliche Nächstenliebe ausnutzen und darauf hinweisen sollte, dass ich noch kein Bettchen für die Nacht habe. So ein Arsch bin ich dann aber doch nicht. Ab ins Café.
Ich muss natürlich auch etwas konsumieren, um das Internet nutzen zu dürfen. Gleichzeitig benötigt man einen Code, um die Unisex-Klotür öffnen zu können. Ich bestelle mir daher einen Kaffee, lasse mir den Code geben und mache es mir bequem. Sonderlich gemütlich wird es aber leider nicht. Kaum sitze ich, höre ich von draußen: »Americano for Dennis! Americano for Dennis! Dennis! Dennis?«
Ähm … drei Minuten? Jetzt tippt auch noch jemand von draußen den Code ein. Habe ich den Riegel auch vorgeschoben oder sitze ich gleich in der Öffentlichkeit? Gut, der Riegel hält. Kurz darauf hole ich meinen Americano ab. Der Witzbold hinterm Tresen, bei dem ich mir sowohl den Kaffee bestellt als auch den Code erfragt habe, grinst nur breit.
Verdammt, ich habe kein Glück mit den Couchsurfern in Santa Cruz. Passenderweise schreibt mir Melissa plötzlich eine SMS: »Where are you now?«

Quellen
Für die ein oder andere Info über Santa Cruz: Wikipedia

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