Tag 53: Drei Einladungen

Serendipity – Teil 2

2013 01 01 17.18.18

Dienstag, 1. Januar 2013
San Francisco

Ich verbringe den halben Tag vor meinem Computer. Ich schreibe ein wenig und mache mich vor allen Dingen auf die Suche nach einer neuen Couch. Einer von Caseys Mitbewohnern hat wohl langsam genug von der Massenbelagerung des Wohnzimmers.
Casey und ich gehen zu Safeway in der Noriega Street. Ich kaufe mir mal wieder Dave’s Killer Bread und Hummus. Bei Safeway werden sehr viele Produkte für Besitzer der Safeway Club Card verbilligt angeboten. Das sind teilweise ganz schön ordentliche Preisunterschiede. Ich frage Casey, wie man Mitglied im Safeway Club wird und was die Bedingungen für eine Mitgliedschaft sind.
»Actually nothing. You just have to fill out a form with your address.«
Aha. An der Kasse frage ich nach dem Formular. Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Kassierer meinen Akzent sofort hört. Okay, ich könnte ja zugezogen sein. Ich überlege wohl einen Moment zu lange, als ich eine Adresse erfinden will, denn der Kassierer meint sofort zu mir: »Just write anything. They don’t send you any letters.«
Also trage ich einfach meine Berliner Adresse in das Formular ein. Bei »State« schreibe ich »BE« und die Telefonnummer passt in keiner Weise in die vorgegebenen Felder.
»Fantastic«, sagt er und händigt mir umgehend meine neue rote Safeway Club Card aus. Von jetzt an kann ich also bei unzähligen Produkten gut und gerne 25 % sparen. Feine Sache.
Wir schlendern zum Strand. Es darf geraten werden … Richtig: Die Sonne geht unter. Casey ist ein wirklich großartiger Mensch. Ich mag seine Einstellung und die Tatsache, dass ihn anscheinend nichts aus der Ruhe bringen kann. Aus einer Emergency Couch wurden letztlich sechs Übernachtungen. Casey ist kein Ford. Ford wollte jeden Moment mit mir verbringen und mir stolz sein San Francisco zeigen. Mit ihm war ich mehr der Geführte, ein Schüler. Casey hingegen lebt sein Leben vielmehr so weiter, als gäbe es gar keine Veränderung durch die Wildfremden auf seinem Sofa. Er kümmert sich zweifellos stets darum, dass die Leute es bei ihm schön und gemütlich haben. Man fühlt sich mehr als willkommen und er unterhält sich auch gerne. Die meiste Zeit des Tages überlässt er seine Gäste aber sich selbst und zelebriert lieber einen weiteren »Adventure Time«-Marathon. Wie viele Folgen gibt es von dem Quatsch eigentlich? Zu gerne würde ich Casey einmal erleben, wenn seine Schule losgeht, der »Ernst des Lebens« quasi bei ihm Einzug hält. Trotz seiner Pfeifchen und »Adventure Time« würde ich Casey als seriösen Menschen charakterisieren: Er blödelt nicht herum, hat seine eigenen Meinungen und ist ein sehr guter Gesprächspartner. Und da schließt sich dann doch wieder ein Kreis mit Ford: Casey könnte ein echter Freund werden. Verdammt, ich will hier wohnen.

Casey macht mir in seiner Wohnküche einen Tee. Das hat er vor einigen Tagen schon einmal gemacht. Nachdem ich ihn ausgeschlürft hatte, zog ich mir mein Hemd über den Kopf und dachte, mein Name sei Cornholio. Okay, wer »Beavis und Butt-Head« nicht kennt, denkt jetzt, dass es um Drogen geht … Die Droge ist in diesem Fall Zucker. Caseys Tees sind so etwas von pappsüß, dass man das Gefühl bekommt, flüssigen Zucker zu sich zu nehmen und auch als Nicht-Diabetiker einen kleinen Schock bekommt: »I am the Great Cornholio! I need TP for my bunghole!«
Ich habe eine Antwort auf meine öffentlich gepostete Couchanfrage erhalten: Tracy aus Antioch lädt mich zu sich ein. Wo liegt denn Antioch? Ich suche doch nach einer Couch in San Francisco? Antioch liegt gute 70 Kilometer östlich von San Francisco. Das ist eher suboptimal. Noch suboptimaler ist allerdings die Bedingung, die mir Tracy zur Erfüllung stellt, um bei ihm übernachten zu dürfen: Ich soll mich – die Betonung liegt auf »komplett« – nackig machen und es mir auf seinem Massagetisch bequem machen. Das ist nämlich sein großes Hobby. Aha. Hm. Nein, lass ma’ gut sein. Die Couchsurfer der Bay Area haben rund um Weihnachten und Neujahr wohl einen Hang zur körperlichen Nähe, wie es scheint …
Wir bringen Jill und Manton zu ihrem Bus. Die beiden übernachten heute in einem Hostel in Downtown. Private Manton muss morgen früh zurück zu seiner Kompanie nach Reno, Nevada. Kaum haben wir die beiden winkend verabschiedet, meldet sich Brian bei mir: »Dennis, are you in the Bay Area?«
»I am. You’re in Portland?«
»No, I’m in Hillsdale.«
»Uhm … aha.«
»I’m at my father’s house.«
»Wait, didn’t you tell me that your father lived in San Francisco?«
»South of it.«
»You’re in the Bay Area? How cool is that?«
Dass ich Brian noch einmal zu Gesicht bekommen würde, hätte ich nicht mehr für möglich gehalten. Ich freue mich! Großartig! Brian lädt mich dazu ein, bei ihm übernachten zu können. Fett! Allerdings ist meine letzte Möglichkeit, dorthin zu gelangen, bereits um 21 Uhr. Er selbst möchte heute nicht in die Stadt kommen. Hm, das finde ich nicht so gut. Wenn Brian im Hause seines verstorbenen Vaters sitzt, könnte das bedeuten, dass er sehr schnell wieder in seine Depression verfällt und ich plötzlich alleine dasitze, während mit ihm nichts mehr anzufangen ist. Casey meint zudem, dass im knapp 35 Kilometer entfernten Hillsdale – einem Stadtteil von San Mateo – nichts geht. Ich überlege, was ich machen soll, als Casey mir offenbart, dass der Mitbewohner, der seine Ruhe haben möchte, heute sowieso nicht da ist und ich problemlos noch eine Nacht hier im Sunset District verbringen kann. Perfekt.
Als Nächstes schaue ich mich nach Zug- und Bustickets und Mitfahrgelegenheiten um. Ich plane, in den nächsten Tagen San Francisco in Richtung Yosemite National Park zu verlassen. Ich will wandern, Baby! Ich schaue bei Amtrak, Greyhound, Craigslist, bla und blub und hier und da. Eigentlich hatte ich mich heute – wie auch gestern bereits – mit meinen beiden obdachlosen Freunden, den »Freebies« Joshua und Keegan verabredet. Gestern haben sie mich versetzt, heute bin ich der Arsch. Zunächst die nervige Couch- und danach die dämliche Ticketsuche dauern einfach zu lange. Dafür verabreden Joshua, Keegan und auch Brian uns für morgen. Zumindest mit Brian ist die Verabredung fix. Von Joshua und Keegan höre ich heute nichts mehr. Das ist typisch für die beiden. Entweder antworten sie direkt oder es dauert Stunden, wenn nicht sogar Tage, bis mal eine Antwort kommt.
Eine Antwort kommt auch von einer weiteren Couchanfrage: Joey aus Merced – das liegt in der Nähe des Yosemite National Park – lädt mich zu sich ein … ohne Massage oder flotten Dreier. Yeah! Jetzt sollte ich schnell ein Ticket buchen, damit ich die Einladung am 4. auch wahrnehmen kann. Die bislang einzige Einladung aus dieser Ecke Kaliforniens möchte ich nicht versieben. Ich entscheide mich für den Zug. Auf der Website von Amtrak heißt es aber auf einmal, dass ich kein Ticket online buchen kann. Meine geplante Reise sei zu kurzfristig, weshalb Amtrak mir kein Ticket mehr zukommen lassen könne. Im Jahr 2013 wollen die mir ein online gebuchtes Ticket mit der Post schicken? In Amerika? Eine Druckversion des Tickets gibt es nicht. Was ist das denn für ein Schwachsinn? Ich probiere die Telefonbuchung aus und scheitere kläglich an der Computerfrau, die meine tadellose Aussprache einfach nicht verstehen möchte. Boah, das nervt. Ich werde auch nicht zu einem Angestellten weitergeleitet, sondern muss die komplette Buchung mit der Computerstimme abklären. Als ich es letztlich zum letzten Punkt, der Auswahl des Zuges schaffe, bekomme ich eine ganz andere Zugnummer genannt als auf der Website. Das ist mir zu riskant. Am Ende buche ich einen falschen Zug, weil die Computerstimme mein Englisch nicht versteht. Da gehe ich besser morgen zum Schalter …
Casey macht sich auf durchaus doppeldeutige Art und Weise auf der Couch breit und schaltet »Adventure Time« ein.

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