Tag 54: Das Brian’sche Abendmahl
Serendipity – Teil 2

Mittwoch, 2. Januar 2013
San Francisco
Ich packe meinen Rucksack und plane den Abflug. Ich bin mit Brian und auch mit Joshua verabredet. Keegan ist wohl ausgeflogen. Casey hat erfreulicherweise Zeit und Lust mitzukommen. Er meint, wir könnten problemlos schwarzfahren. Es würde ja doch nie kontrolliert werden. Wir haben bereits einige Haltestellen der Straßenbahn schadlos überstanden, als sich eine Stimme durch die Lautsprecher zu Wort meldet: »Be sure to have your ticket ready to show.«
Ready to show? Casey reagiert überhaupt nicht. Ich glaube, er hat aber auch nicht hingehört, weswegen ich ihn darauf hinweise, dass das gerade so klang, als würden die lustigen Muni-Leute einen Kontrolletti ankündigen. Casey schaut mich in einer Mischung aus Konzentriert- und Verwirrtheit an und schlägt vor, besser mal schnellstens auszusteigen. Die Bahn hält, wir springen raus, kein Kontrolleur steigt ein – vermutlich. Na, sicher ist sicher. Und beim Schwarzfahren in Amerika muss ich nun wirklich nicht erwischt werden. Ist ja auch eigentlich Quark: Die Ticketpreise sind in Ordnung und Muni hat uns bereits zwei Tage freiwillig kostenlos transportiert.

Brian zu finden ist nicht leicht. Wir verlassen die Tram an der Embarcadero BART-Station und postieren uns vor dem angeblich hübschen Hyatt Regency an der Ecke Drumm und California. Ich rufe ihn an, um ihm zu beschreiben, wo wir uns befinden. Typisch Brian hört er mir aber nur halbherzig zu und beschreibt mir dafür, wie die Umgebung aussieht, in der er sich befindet: BART-Station. Check. Ferry Building am Ende der Straße. Check. Litfaßsäule. Ja, genau. 20 Meter weiter. Schuhputzer. Ja, zehn Meter. Wo ist der denn? Ah, er ist noch gar nicht bei der Litfaßsäule. Er sieht das alles nur. Gut, dann möge er doch bitte genau da hinkommen. Er ist auf der anderen Straßenseite. Aha. Wie?: »Wo seid ihr?« Wie meinst du das denn jetzt? Wir sind 20 Meter von der Litfaßsäule und zehn Meter vom Schuhputzer entfernt. Nein, nicht auf der anderen Straßenseite. Also, ja … doch: Wenn du auf der anderen Straßenseite bist, dann sind wir dementsprechend auch auf der … Ich winke. Siehst du mich winken? Du siehst uns? Nein? Also, ich … jetzt sehe ich dich aber! Geradeaus, geradeaus … ja, jetzt siehst du mich auch. Aufgelegt. Geschafft.
Brian kommt mit seiner geliebten und mittlerweile offensichtlich zum Markenzeichen avancierten Sonnenbrille und einem kurzärmeligen Hemd auf uns zu. Brr, das muss doch schweinekalt sein! Brian meint, dass es in Hillsdale wesentlich wärmer ist. Vermutlich war es dort auch wesentlich heller, da es bereits ein paar Stündchen her sein dürfte, dass er dort war. Die Sonne geht unter, Brian! Wärmer wird’s heute nicht mehr … Freak.

Er kündigt direkt einmal an, dass Laufen heute nicht so sein Ding ist: Da er auf die glorreiche Idee kam, in Portland von seinem Haus nach Downtown zu joggen, hat er nun fiese Blasen am Fuß. Sportschuhe hat er keine und die Strecke sind lässige zehn Kilometer. Für einen Kerl, der eigentlich nie Sport treibt, ganz schön beachtlich. Dennoch stellt sich mir in großen Lettern die einzig wichtige Frage: »Why?«
»Don’t know. Felt like.«
Ach, ich habe ihn vermisst. Ich drücke ihn zur Begrüßung und lasse ihn wissen, dass ich mich über dieses unerwartete Wiedersehen sehr, sehr freue. Ich stelle Brian und Casey einander vor und schon geht’s los, in einen Tag mit zwei coolen und auf ihre ganz eigene liebenswerte Art und Weise vollkommen bescheuerten Jungs. Der größere Freak ist auf absolut unantastbare Weise mein Freund aus Portland. Der Riese mit dem dichten Vollbart und der dunklen Pilotenbrille ist ein Mann, der wohl aufgrund seines Intellekts, physikalischen und chemischen Wissens und nach eigener Aussage eine Atombombe zusammenbasteln könnte. Die hohe Kunst, 50 Dollar Guthaben auf sein Prepaid-Handy zu übertragen, überfordert ihn jedoch maßlos. Nachdem er minutenlang irgendwelche Tasten drückt und uns dabei ununterbrochen mitteilt, dass es nicht funktionieren will, springt Casey ein und löst das Problem … in 20 Sekunden. Da diese Aufgabe nun also gelöst wurde, kann mir Brian endlich sein wahnsinnig tolles audio recording tool zeigen, das er sich auf sein Smartphone gespielt hat. Sein »Ziel« ist es, einen fetten Film zu drehen und diese Handysoftware für die Tonaufnahme zu verwenden. Meine kritisch nach oben gezogene Augenbraue ignoriert er gekonnt und führt mir die Wundertechnik vor. Ich bin noch immer nicht überzeugt, was ihn aber nach wie vor wenig juckt. Immerhin merkt er dann aber doch noch an, dass die Technik schon noch ein wenig weiter fortschreiten muss. Aber in absehbarer Zukunft, ist er sich sicher, wird man Blockbustersound mit dem Handy aufnehmen können. Irgendwie hoffe ich ja, dass es soweit nie kommen wird.
Joshua meldet sich und lässt uns wissen, dass er im Starbucks »at the Wharf« ist. Das ist ja eine tolle Ortsbeschreibung. Da gibt es doch locker drei bis fünf – wenn nicht noch mehr. Wie so oft werden meine weiteren Textnachrichten von Joshua entweder überhaupt nicht beantwortet oder so, dass keiner versteht, was er damit sagen möchte. Er kürzt Wörter zur absoluten Unkenntlichkeit ab und verwendet eine Grammatik, die von einem anderen Stern, direkt von Meister Yoda zu kommen scheint.
Casey will das Problem per Smartphone lösen und sucht nach sämtlichen Starbucks rund um die Fisherman’s Wharf. Das dauert länger, als einfach mal eine Runde um den Block zu laufen. Joshua antwortet unterdessen, dass er im Starbucks bei den trolleys, also der Straßenbahn, in der Taylor Street ist. Laut Smartphone ist dort aber kein Starbucks, weswegen wir in die Jones Street gehen. Ich bin der Einzige in unserem Trio, der noch nie ein Smartphone besessen hat und somit auch der Einzige, der nicht alles glaubt, was das Smartphone ausspuckt.
»Shouldn’t we just have a look at Taylor?«, schlage ich vor. Schließlich hat Josh uns explizit geschrieben, dass er in der Taylor Street sitzt. Die Jones Street ergibt da irgendwie keinen Sinn. Außerdem kreuzen wir die Taylor Street, bevor wir zur Jones kommen. Keiner hört mir zu. Die App-Entwickler werden schon recht haben. Zur großen Überraschung von Brian und Casey finden wir keinen Joshua im Starbucks der Jones Street vor. Tja. Während ich ihm eine neue Textnachricht schreibe und ihn wissen lasse, dass wir ihn in der Jones Street nicht gefunden haben, kauft sich der mittlerweile frierende Brian den ultimativen Touristenpullover: Die Flagge Kaliforniens ziert nun seine Brust. Joshuas absolut überraschende Antwort lautet indes: »Taylor, not Jones!«
Im Starbucks an der Ecke Taylor und Bay Street finden wir Joshua schließlich. Er begrüßt mich freudig lächelnd und drückt mich an sich. Joshua war sowieso schon der ruhigste und schüchternste der drei Freebies, dennoch fällt mir sofort auf, dass er heute extrem leise spricht und ein bisschen neben der Spur wirkt. Ich sage nichts, behalte sein Verhalten aber im Auge.
Joshua will – der guten alten Zeiten Willen – in die Oz Lounge. Das finde ich mal extrem cool! Casey und Brian haben keine eigene Meinung und mir kommt’s so vor, als hätte ich auch die meiste Ahnung und Orientierung in der City. Zumindest will ich die schlaueren und kürzeren Wege als Casey und sein Smartphone gehen.
Bevor wir in die Oz Lounge spazieren, wollen wir zu Abend essen. Casey schlägt das unweit vom Starbucks gelegene Kennedy's Irish Pub & Indian Curry House Restaurant vor, das den halben dreieckigen Block zwischen der Taylor und Francisco Street sowie der Columbus Avenue einnimmt. Der Laden ist – wie der knackige Name schon vermuten lässt – eine wirklich krude Mischung aus einem düsteren Irish Pub mit Billard und Darts und einem gar nicht einmal so unhübschen indischen Restaurant. Wir setzen uns zunächst an einen viel zu großen Tisch. Die Entfernungen zueinander sind so groß, dass man sich – in Verbindung mit der lauten Pub-Musik – schon gegenseitig anbrüllen muss, um etwas zu verstehen. Da Joshua heute kaum einen Pieps lauter als ein Mäuschen herausbekommt, dafür aber ziemlich gesprächig ist, schlage ich vor, den Tisch zu wechseln. Wir verlassen die Billardecke des Etablissements und setzen uns in den Restaurantbereich. Joshua und ich legen unsere Rucksäcke auf den Boden, während Brian bereits an der Kasse sein Essen bestellt. Ich folge ihm kurz darauf und bestelle ebenfalls. Casey begnügt sich mit einer Vorspeise, während Joshua – wie zu erwarten war – komplett aufs Essen verzichtet.
»Not really«, reagiert Brian. Es klang nur gut und außerdem müssen ja alle satt werden. Fragende Blicke.
»Eat!«, ruft Brian und schiebt sein komplettes Essen in die Tischmitte. Wieder einmal wird mir bewusst, wieso ich diesen Kerl so gerne hab. Er teilt hier jesusgleich und ohne Trara oder jedwede Vorankündigung seine beiden Vorspeisen und seine Hauptmahlzeit und bestellt sogar noch extra Reis nach. Der hungrige Josh ist sichtlich glücklich. Das erinnert mich so sehr an Fords Großzügigkeit. Joshuas Augen leuchten und es ist schön mitanzusehen, wie dankbar, dabei zaghaft, fast schon demütig er sich einen Happen nach dem anderen nimmt. Auf keinen Fall will er sich zu viel nehmen. Dabei weiß jeder in der Runde, dass sein Magen der am wenigsten gefüllte ist. Ich habe Brian und Casey vor unserem Treffen bereits gesagt, dass Joshua obdachlos ist. Die Info ist aber eigentlich vollkommen überflüssig – man sieht es einfach an den schmutzigen Fingern. Umso bemerkenswerter finde ich, dass Brian und Casey so vollkommen gleichgültig damit umzugehen scheinen. Kein einziger überflüssiger Blick fällt auf den selig mampfenden Joshua, kein dummer Spruch, keine überflüssige Frage. Und die Tatsache, dass Brian nicht etwa fragte, ob Joshua hungrig ist, sondern einfach bestellt hat und es dann zum gemeinsamen Verzehr in die Tischmitte stellt, ist so feinfühlig, wie ich es ihm nicht unbedingt nicht zugetraut hätte. Ich danke Brian für diese Lektion in Sachen Menschlichkeit und Respekt. Mein Held des Tages!
Joshua wird sich übrigens noch den ganzen Abend über das Abendessen freuen. In regelmäßigen Abständen wird er zu mir kommen und mich wissen lassen, dass das absolut großartig und lecker war. Zu Brian wird er es seltsamerweise nicht sagen. Ich scheine für ihn die Bezugsperson oder so etwas Ähnliches zu sein. Wohl auch deswegen wage ich es, ihn auf unserem Spaziergang in Richtung Downtown zu fragen, ob er high ist. Bekifft ist er mit Sicherheit nicht. Das sieht nach einer anderen Droge aus. Joshua plaudert aus, dass er nahezu den kompletten letzten Monat auf Meth war, nun aber schon seit einiger Zeit – was auch immer das genau zu bedeuten hat – kein Crystal mehr konsumiert hat. Ach du Scheiße. Ich lasse ihn wissen, dass ich Crystal Meth für eine äußerst beschissene Droge halte und er doch wissen müsste, was es aus den Menschen macht. Er stimmt mir sofort zu. Für mich klingt das aber eher nach dem Opportunismus eines Menschen, der einem Thema ausweichen möchte, als nach wahrer Einsicht. Nach Dana, dem sympathischen, aber orientierungslos auf der Klinge spazierenden Mädel aus dem Bordello, scheint mir Joshua der nächste Patient zu sein, der Hilfe benötigt. Mit Dana stehe ich übrigens seit vorgestern wieder in SMS-Kontakt. Sie fragte, ob ich wieder in der Bay Area bin und sie treffen mag. Eigentlich waren wir für Silvester verabredet. Sie ist aber nicht aufgetaucht. Wir werden noch des Öfteren versuchen, ein Treffen zu arrangieren. Es wird aber nie dazu kommen und ich habe keine Ahnung, was aus ihr geworden ist.
Auch bei Brian läuft es gerade nicht rund: Seine Blasen schmerzen ihn so sehr, dass er das Riesenbaby markiert und mit seinem Humpeln immens das Tempo drosselt. Ob wir die Oz Lounge wohl je erreichen werden?
Wir passieren die eindrucksvolle Saints Peter and Paul Church am Washington Square, die ulkigerweise die Hausnummer 666 hat.

Als wir an der Ecke Columbus und Kearny das schöne Sentinel Building passieren, fragt mich Casey, ob ich weiß, was sich darin befindet. Ich habe keine Ahnung, was sich in dem Flatiron befindet, das ich schon des Öfteren für seine Schönheit bewundert habe.
»It’s the Coppola House.«
Wie jetzt? Das Gebäude heißt entweder Columbus Tower oder Sentinel Building. Coppola House ist mir neu. Allerdings kann ich mir natürlich sofort zusammenreimen, weswegen Casey es so nennt: »Francis Ford Coppola owns it?!«
Also: »Warum lieben Hippies Cord?«
»Because it’s groovy, baby!«
Dass Hippies: »Groovy!«, sagen, wenn sie etwas cool finden, muss ich wohl nicht erklären. Das Nomen »groove« heißt übersetzt jedoch Furche oder Rille – eben so, wie auch Cord rillig ist. Und deshalb ist dieser Witz lustig … und Witzbeschreibungen äußerst erbärmlich.
Cari bekommt als zweiten Witz den von der Vogelscheuche erzählt … und will noch einen Dritten hören. Kenne ich noch einen dritten Witz?
»Joshua! Can you tell me one of Fox’ hippie jokes?«
»How do you describe hippie sex? – Fucking intense.«
Aha … verstehe ich schon wieder nicht. Diesmal liegt’s nicht an den Vokabeln, sondern am Witz als solcher. Was soll’s. Ich rufe Cari an, erzähle ihn und sie lacht: »Oh right! I guess I can’t tell my parents that one …«
Brian hat nicht nur Blasen an den Füßen und muss heute ständig in Restaurants oder Hotels zum Pinkeln verschwinden, nein, er hat auch chronischen Husten. Den hatte er bereits als ich ihn kennengelernt habe und wer weiß wie lange davor schon. Sein chronischer Husten, der wirklich abartig klingt, meldet sich heute sehr lautstark zu Wort. Ich habe das Gefühl, dass er noch schlimmer geworden ist. In Portland konnte er damit bereits die ihn umgebenden Menschen erschrecken. Jetzt kotzt er sich schon fast die Lunge aus dem Rachen. Dass da noch kein Blut herauskommt, ist schon erstaunlich. Cari und ich hatten ihm bereits empfohlen, doch wenigstens Filter in seine selbst gerollten Zigaretten zu drehen oder am besten mal komplett mit dem Rauchen aufzuhören. Krebs habe er keinen, hat er mir nach einer seiner Attacken mal lächelnd erzählt. Das habe ein Arzt festgestellt. Wo sein Husten herkommt, konnte jedoch auch dieser nicht herleiten.
Wir sind noch immer in der Nähe des Columbus Tower, als Brian in eine Buchhandlung will. Na, warum auch nicht. Wir spazieren alle mal kurz durch den netten Laden und warten dann draußen auf den Mann aus Portland. Der kommt irgendwann mit einem äußerst krassen Nerd- und einem Notizbuch wieder heraus. Nun muss er wieder pinkeln. Werden wir denn niemals ankommen? Die 500 Meter zur Oz Lounge hält er nicht mehr aus, meint er. Also verschwindet er zum Pinkeln in einem Restaurant … und braucht Ewigkeiten. Irgendwann wollen wir nicht mehr auf ihn warten, gehen langsamen Schrittes weiter und hoffen, dass er uns von alleine wieder findet. Im Notfall hat er ja auch 50 frische Dollar auf seinem Smartphone.
Während Josh eine Kippe raucht, betreten Casey und ich einen Headshop: Ich möchte mir ein Stück Westküstenkifferkultur leisten. Wie Weinkenner beraten wir, welche Pfeifen in die nähere Auswahl kommen. Formgebung, Farbe und Qualität des Glases werden genauestens unter die Lupe genommen. Der etwas kritisch dreinblickende Verkäufer bekommt den Auftrag, uns drei Auserwählte zu präsentieren. Eine der drei Pfeifen hat praktische Glasnoppen. Das gefällt uns. Speziell Casey ist hin und weg von der guten Griffigkeit des Glaswunders: alles, dank der Noppen. Das Teil wird eingetütet, als Casey auf einmal meint, dass ich ihm einen Namen geben müsse. Ich überlege kurz.
»A German name«, merkt Casey an, »I like … What’s it again? Ganzer, I guess.«
»Ganzer? – Ah, Gunther!«
»That’s it! Yeah, that’s a great name.«
So soll es denn sein. Mein Pfeifchen soll von heute an »Green Gunther« heißen und treue Dienste leisten. Halleluja!
Brian hat uns wieder eingeholt. Wir entern den Tisch vor der Oz Lounge. Wegen Joshs Minderjährigkeit können wir uns nicht mit ihm hineinsetzen. Ich muss direkt feststellen, dass bouncer Matt heute erneut nicht da ist. Das ist schade. Heute dürfte schließlich mein letzter Abend in meiner Lieblingsbar sein. Auch Josh verbindet mit der Oz Lounge gute Erinnerungen. So schwärmt er mir vor, wie sehr er den Abend genossen hat, als wir alle bei Ford pennen durften. Er ist noch heute Ford sehr dankbar dafür und bezeichnet ihn als »caretaker«. Das freut mich. Zwar ist Matt heute nicht anwesend, dafür aber der Kellner, der an jenem Abend in der Oz Lounge gearbeitet hatte. Das ist ein lustiger Zufall, da ich ihn seit besagtem Abend, glaube ich, nur selten, wenn überhaupt noch einmal gesehen habe. Ich frage ihn, ob Joshs Dinner bereits fertig ist. Den Gag hatte Keegan ständig gebracht, als wir drei Tage vor Thanksgiving hier waren. Der junge Kellner überlegt sichtlich angestrengt und fragt: »What did he …?«, als es ihm plötzlich wieder einfällt: »Oh, yeah! I remember that! That’s a long time ago …«
Oh, ja … Die Zeit vergeht einfach viel zu schnell.
Bevor ich nostalgisch werden kann, bekommt Brian einen weiteren extremen und äußerst schrägen Hustenanfall. Er ist gerade auf dem Weg in die Bar, als er zu husten beginnt. Er hält sich mit beiden Händen am Geländer für Gehbehinderte fest, das sich direkt hinter der Eingangstür befindet, und schleudert seinen Oberkörper nach vorne, während er sich die Seele aus dem Leib hustet. Das hat etwas von einem Bessesenen. Sind Exorzisten anwesend? Würde ich Brian und seinen Husten nicht schon kennen … ich wäre fasziniert. Erstaunlicherweise beobachtet ihn aber nur ein einziger Tisch mit geöffneten Mündern. Alle anderen ignorieren ihn offensichtlich lieber.
Ich komme gerade von der Toilette, worüber sich Casey wegen seines immensen Blasendrucks sehr freut, und setze mich wieder neben Joshua an den Tisch, als dieser mich plötzlich völlig paranoid von der Seite anmacht: »Do you really think that I don’t understand what’s happening here?«
Genau genommen verstehe ich nicht, was gerade hier passiert, lasse ich ihn wissen. Ich schaue mich um, um zu sehen, ob ich etwas nicht bemerkt habe.
»Yes, act a little bit«, raunzt er mich an.
»Josh, what’s up? I don’t understand.«
Er lässt mich wissen, dass er kein Depp ist und soeben sehr wohl bemerkt hat, dass erst Brian, dann ich und nun Casey innerhalb kürzester Zeit und direkt hintereinander aufs Klo verschwunden sind. Ach, daher weht der Wind. Josh denkt, dass wir uns irgendwelche Sachen reinpfeifen und ihn außen vor lassen. Herzlich willkommen, liebe Entzugserscheinungen.
»Are you on turkey, Josh?«
Ich möchte wissen, seit wann er kein Crystal mehr geraucht hat. Er will darüber nicht sprechen. Er wird sauer und fühlt sich verarscht. Ich versichere ihm, dass wir keine Drogen konsumieren und ihn auch nicht aus irgendetwas ausschließen wollen. Ich mache ihm deutlich, dass das alles ja auch überhaupt keinen Sinn ergibt. Ich erinnere ihn daran, dass er mir vor wenigen Minuten noch vom Abendessen vorgeschwärmt hat, das Brian ihm bezahlt hat. Ich labere auf ihn ein und seine Gegenargumente werden weniger und leiser. Auf mein Geheiß entfernen wir uns ein wenig vom Tisch, damit Brian und Casey von dem Schwachsinn nichts mitbekommen. Nach ein paar Minuten habe ich ihn endlich überzeugt. Er entspannt sich wieder und verspricht mir, mit dem Quatsch nicht erneut anzufangen und dass er mir glaubt. Bevor wir uns hinsetzen, geige ich ihm aber noch meine Meinung und lasse ihn wissen, dass mir schon den ganzen Abend über auffällt, dass er ganz schön paranoid und total abgekackt wirkt. Ich halte ihm eine respektvolle Standpauke, auf die so manche Eltern vor Neid erblassen würden. Er gibt noch zu, dass er gerade von Speed runterkommt und schon seit mehreren Tagen kein Meth mehr konsumiert hat. Ich hoffe, dass er sich merkt, wie scheiße er heute drauf ist und die Finger von solchen Drogen lässt. Hoffentlich ist er noch nicht abhängig …
Ich muss mal wieder Bier wegbringen. Als ich vom Klo zurückkomme, erfahre ich, dass ich gerade einen Schwarzen verpasst habe, der einen Witz verkauft hat. No way! Das kann doch nicht sein! Ich bin hier mit Josh unterwegs, der mit dem Mann der Witze – dem fantastischen Mr. Fox – die Straßen unsicher gemacht hat … und verpasse diesen Moment? Damn!
Da der Türsteher ja heute frei hat und es keinen Ersatz für den lustigen Iren gibt, beschließen wir, uns trotz Joshuas zarten Alters reinzusetzen. Brian kramt sein frisch erworbenes Notizbuch hervor und teilt uns mit, dass dies sein Adressbuch werden soll. Ich bekomme zudem die Ehre, das Buch zu entjungfern und ihm einen Namen zu geben. Neben den Kontaktdetails muss man sich auch selbst malen. So lauten die Regeln. Ich habe vergessen, ob sie von Brian oder von mir stammen. Nachdem ich mich eingetragen habe, blättere ich zur Titelseite vor und benenne – mit einer alles anderen als mittig platzierten Schrift – Brians Adressbuch »Das Buch der coolen Leute«. Rock und Roll.
Wir bringen Casey zu seinem Bus und suchen zu dritt nach einem Hostel. Brian, der die letzte Bahn nach Hillsdale verpasst hat, baut mal wieder und urplötzlich tierisch ab und jammert wie ein Baby. Wir müssen uns mit dem Finden eines Hostels also beeilen. Im ersten Hostel ist kein Bett frei. Ich will gerade zum nächsten Hostel, das nur wenige Meter entfernt ist, als ich verwundert feststelle, dass Josh aus unerfindlichen Gründen zur nächsten Kreuzung gelaufen ist. Will er abhauen? Ich beobachte ihn. Er bleibt stehen, dreht sich wieder um und kommt zurück. Hm, seltsam. Während ich auf Joshua warte, ist Brian, der eben noch hinter mir stand, plötzlich spurlos verschwunden. Von was für einem Kindergarten bin ich denn hier umgeben? Ich versuche ihn anzurufen, doch er meldet sich nicht. Auf meine »Where are you?«-SMS kommt natürlich keine Antwort. Also vergessen wir ihn und suchen zu zweit weiter. Doch auch Josh dreht mal wieder am Rad und will auf einmal nicht mehr in einem Hostel übernachten. Das ist mir jetzt aber ehrlich gesagt vollkommen egal: Ich will jetzt in eine Herberge und nach Tagen mal wieder in einem Bett schlafen.
Josh zeigt mir das Union Square Backpackers Hostel. Die Übernachtung im Mehrbettzimmer kostet nur 22 Dollar. Na, das ist ja mal geil. Das Hostel sieht sehr einfach aus. Nach den Erfahrungen im Adelaide benötige ich aber keine pseudocoolen Hostels mehr, bei denen man (für ein Doppelzimmer) das nahezu Fünffache zahlt und sich letzten Endes nur aufregt. Bei 22 Dollar im Stadtzentrum erwarte ich schon überhaupt nichts. Was soll da also schiefgehen? Josh meint zudem, dass die Zimmer und Betten sauber sind. Wenn er sich einmal ein Bett leisten kann, kommt er immer hierher. Das Hostel ist in der Derby Street, einer düsteren, kleinen Sackgasse, die zwischen der Geary und der Post Street von der Taylor Street abzweigt. Die Tür ist bereits mit einem massiven, schwarzen Eisengitter abgeriegelt. Ein Angestellter hört uns aber in der Gasse quatschen. Er öffnet ein Fenster in einem der oberen Stockwerke, steckt seinen Kopf raus und fragt uns, was wir wollen.
»A bed«, lasse ich ihn wissen und bekomme kurz darauf aufgeschlossen. Er teilt mir gut und gerne fünfmal mit, dass ich mein Geld nicht zurückbekomme und hochkant rausfliege, falls ich auf die Idee kommen sollte, Joshua mit ins Gemeinschaftszimmer schmuggeln zu wollen.
»I won’t«, verspreche ich dem Mann.
Ich teile mir das Zimmer lediglich mit Cedric, einem Franzosen, den ich zuvor fälschlicherweise mit dem Rezeptionisten verwechselt habe. Er saß lediglich am Computer, um seine Mails zu checken, erklärt er mir. Ich stelle meinen Rucksack ab und ziehe wieder mit Josh los, weiter durch die Nacht. Gegen drei Uhr geht’s dann ins Bett. Ich habe keine Ahnung, wo Josh schlafen wird. Ich soll mich morgen wieder melden, sagt er.