Tag 55: Dennis vs. Cedric – Der aussichtslose Kampf des Anti-Backpackers

Serendipity – Teil 2

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Donnerstag, 3. Januar 2013
San Francisco

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Der Morgen beginnt mit einer SMS von Brian: »U up?«
Brian, der Mann der kurzen Texte.
Ich gehe mit Cedric, dem Franzosen, mit dem ich mir das Zimmer geteilt habe zum Frühstücken. Das ist in den 22 Dollar inbegriffen. Ich esse zwei Bagels mit Erdbeermarmelade. Cedric reist seit eineinhalb Jahren. Er hatte auf einmal keine Lust mehr, auf was auch immer er in Frankreich gemacht hatte, hat sich einen kleinen, einen sehr kleinen Rucksack gepackt und ist losgezogen. Er ist erst gestern oder vorgestern in San Francisco angekommen und kennt die Stadt noch nicht. Ich frage den Franzosen, ob er für heute schon Pläne geschmiedet hat oder ob er mit mir abhängen und sich ein wenig die Stadt zeigen lassen möchte. Er will. Cool.
Bevor wir losziehen, versucht Cedric, der ebenfalls Couchsurfer ist, noch auf meinem Rechner eine Couch für die anstehende Nacht klarzumachen. Cedrics Rucksack ist so klein, dass dort höchstens ein Netbook reinpassen würde. Würde er ein Netbook mit sich herumschleppen, wäre aber wohl nur noch Platz für zwei Unterhosen. Ich frage mich wirklich, wie man mit so wenig Zeug so lange reisen kann. Außerdem hat er noch zwei Stangen Zigaretten aus Malaysia bei sich, die er gewinnbringend verkaufen möchte. Vielleicht hat er in seinem Kinderrucksack ja auch überhaupt keine Klamotten und trägt seit 18 Monaten dasselbe? Schräg.
Mein Tagesplan besteht aus Verabschiedungen: Ich werde heute aller Voraussicht nach meinen endgültig letzten Tag in San Francisco haben, werde Casey, Brian und – falls er auffindbar ist – Joshua verabschieden und um Viertel vor fünf in der Nacht mit dem Bus und danach mit dem Zug nach Stockton und letztlich zu meinem Zielort Merced aufbrechen. Yosemite, ich komme!
Cedric und ich verstauen unser Gepäck im storage, also dem Abstellraum des Hostels. Die Lagerung ist kostenfrei, dafür aber auch relativ diebesfreundlich, weswegen wir kurz überlegen, ob es wirklich die schlaueste Sache ist, die Rucksäcke dort abzustellen. Die Besenkammer befindet sich zwar direkt neben dem kleinen Rezeptionstresen, der allerdings so gut wie nie besetzt ist. Außerdem ist das Hostel so schmal und verwinkelt, dass kein Mensch mitbekommen würde, wenn jemand von draußen reinkäme, die fünf Meter zum Lager schleicht und das dort verstaute Gepäck klaut. Der Verantwortliche meint aber, dass es absolut sicher wäre und hier nichts wegkäme. Das wollen wir ihm mal glauben und hauen ohne Gepäck ab. Bis 22 Uhr müssen wir es wieder abholen.
Cedric und ich spazieren die Market Street entlang, als Brian sich wieder meldet: Er hat sich wegen der Blasen am Fuß und weil sein Wagen in Reparatur ist ein Auto gemietet und will uns aufgabeln. Feine Sache. Natürlich macht Brian es nicht unkompliziert, uns zu finden. Und das, obwohl ich ihm haargenau beschreiben kann, wie viele Meter wir hinter welcher Kreuzung auf ihn warten. Wir führen wie gestern ein aberwitziges Telefonat nach dem nächsten, bis er endlich aufkreuzt. Wir sehen ihn, er uns aber offensichtlich nicht. Er stoppt den geliehenen Fiat direkt hinter, fast noch auf der Kreuzung direkt vor uns, packt sein Handy aus und ruft mich erneut an.
»Uhm, Brian. That’s not the best spot for parking.«
»Oh, you see me?«
»Yes, we’re like 150 feet in front of you … just like I told you.«
Brian fragt, was der Plan ist. Ich lasse ihn wissen, dass wir zum Ocean Beach müssen, um Casey aufzugabeln. Wird gemacht – aber brianesk: Wir fahren seltsame Wege. Brian behauptet jedoch, dass er ganz genau weiß, wo er entlanggurkt. Im Nachhinein muss ich ihm auch recht geben. Bis auf die eine oder andere Extrarunde um ein paar Häuserblocks findet er wirklich den nahezu optimalen Weg zum Ocean Beach.
Während der Fahrt frage ich ihn, wo er letzte Nacht auf einmal abgeblieben ist und wo er übernachtet hat. Die Schmerzen waren zu groß und er wollte nur noch schlafen. Die Hostelsuche hat ihm zu lange gedauert, weshalb er – vollkommen wortlos und ohne Ankündigung – einfach ins nächstbeste Hostel oder gar Hotel gegangen ist und sich ein Bett geschnappt hat. Er streichelt seinen Bart, hustet und rückt die Sonnenbrille zurecht, als wir äußerst unverhofft vor einem buddhistischen Tempel stehen, der offensichtlich in einer ehemaligen christlichen Kirche heimisch geworden ist. Ich kann es beim besten Willen nicht einschätzen, ob Brian den kleinen Zwischenstopp in der Eddy Street vorausgeplant hatte oder es purer Zufall ist, dass wir zwischen der Divisadero und Scott Street vor dem beeindruckenden Macang Monastery stehen. Eine eindeutige Antwort bekomme ich zudem nicht aus Brian heraus: »I know this temple … I guess.«
Was soll das denn bitte bedeuten?
Ein freundlicher Priester empfängt uns am Eingang und führt uns kurz durch die große Halle. Danach schauen wir uns noch selbstständig ein wenig im hübschen Kloster um und hauen wieder ab.

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Wir fahren die Fulton Street nach Westen. Die Fulton Street ist die Straße, die den Golden Gate Park im Norden begrenzt. Das Westende der Straße kreuzt den Great Highway. Als die Straße auf seinen letzten Metern bergab geht, bekommt man das Gefühl, direkt in den Ozean hineinfahren zu können.

Brian hat Hunger. Also setzen wir uns ins Beachside, wo kurz darauf Casey zu uns stößt. Gemeinsam geht’s an den Strand. Brian wird plötzlich wieder unruhig. Aus unerfindlichen und nicht näher erklärten Gründen mag er diese Gegend nicht. Aha? Also, ich finde es super hier! Wie auch immer: Brian beschließt, samt Auto abzuhauen. Ich habe keine Ahnung, ob er im Laufe des Tages oder am Abend oder gar nicht mehr zurückkommt und ob dies nun unser Abschied war. Tja, so ist er nun mal.

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Casey schlägt Cedric und mir vor, uns die seiner Meinung nach schönste Route durch den Golden Gate Park zu zeigen. Das klingt doch dufte. Cedric gehört eher zu jenen Menschen, die ihre Begeisterung entweder nicht zeigen können, nicht zeigen wollen oder einfach nicht begeisterungsfähig sind. Obwohl er bislang noch herzlich wenig bis gar nichts von San Francisco gesehen hat, wirkt er unsagbar desinteressiert. Ein seltsamer Reisender ist das.

Wir spazieren zum South Lake. Enten schwimmen im kleinen See und Parkbänke säumen das Ufer.

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South Lake

Weiter geht’s in den Middle Drive West, der uns zu einem kleinen Stadion führt. Casey erzählt, dass wir uns nun in dem Bereich des Parks befinden, in dem alljährlich das kostenlose und nicht kommerzielle Hardly Strictly Bluegrass Festival stattfindet.

<center>Hardly Strictly Bluegrass Festival (HSB)</center>
Das HSB findet seit 2001 während des ersten Wochenendes im Oktober statt. Zunächst sollten ausschließlich Musiker auftreten, die sich dem Bluegrass verschrieben haben. Als man sich letztlich aber auch anderen Genres gegenüber öffnete, fügte man 2004 dem damals noch »Strictly Bluegrass« benannten Festival ein »Hardly« hinzu. Das HSB lockt mittlerweile eine solche Anzahl an Gästen an, die an die Einwohnerzahl San Franciscos heranreicht. 2011 wurden während der drei Festivaltage rund 750.000 Besucher gezählt. Initiator des HSB war der Risikokapitalist Warren Hellman, der 2011 im Alter von 77 Jahren verstarb. Hellman hat dem HSB so viel Geld hinterlassen, damit es noch weitere 15 Jahre nach seinem Tod ohne Sponsorengelder auskommen kann. Um den Philanthropen zu ehren, hat man die östlich an den Sportplatz angrenzende Speedway Meadow in Hellman Hollow umbenannt.

Als wir durch die bewaldete Lindley Meadow gehen, erspähen wir ein Tier, das wie ein Hund aussieht, aber recht offensichtlich keiner ist. Das Tier sieht eher wie ein kleiner Wolf aus, hat ein ungleichmäßig braunes, blondes und graues Fell. Unter der Schnauze und über der Brust trägt es weißes Fell.
»A coyote!«, flüstert Casey.
»Are you serious?«, frage ich ungläubig.
Cedric wirkt wie immer eher gleichgültig.
»Yes, they live here«, erklärt Casey. Das ist ja geil! Letzte Woche Waschbären, heute ein Kojote … San Francisco hört einfach nicht auf, mich zu faszinieren.
Wir schleichen dem scheuen, wolfgleichen Tier hinterher. Der Kojote sucht den Schutz der Bäume und Sträucher. Wir nähern uns vorsichtig. Allerdings sind wir offensichtlich nicht leise oder geruchsneutral genug: Das hübsche Tier mit dem buschigen Schwanz wendet seinen Kopf und schaut uns an – nach wie vor recht entspannt, wie ich finde. Irgendwann dreht er sich sogar um und kommt wenige Meter auf uns zu, bevor er dann endgültig im Gestrüpp verschwindet.

Unser nächstes Ziel ist der Lloyd Lake, an dessen Ufer ein kleines römisch anmutendes Portal steht. Einen tieferen Sinn erkenne ich nicht, hübsch anzusehen ist es aber allemal. Eine gebückte, ältere Dame füttert die Enten und merkwürdig hässliche Vögel mit braun-schwarzem Gefieder, weiß-schwarzem Kopf und einem feuerroten Schnabel, auf dem ein eher unästhetischer pickelartiger Knubbel vor den ebenfalls rot umrahmten Augen die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Was sind das denn für Viecher? Wassertruthähne? Bei diesem Exemplar scheint es sich um die Moschusente zu handeln. Der Amerikaner nennt das von der Natur eher unvorteilhaft gestaltete Federvieh übrigens Muscovy duck.

Es geht weiter zum Stow Lake. Im See liegt eine Insel, ein Hügel, dessen Krone laut Casey der höchste Punkt im Golden Gate Park ist. Der Blick auf den Hügel im Wasser hat etwas Romantisches. Dadurch, dass die Insel komplett grün ist und auf dem rundlichen Hügel alle zehn Meter ein Baum steht, fühlt man sich ein wenig wie im Auenland. Es fehlt nur noch der Eingang zu einer Hobbithöhle und die Illusion ist perfekt. Der Hügel heißt auch noch Strawberry Hill. Wie soll man das noch toppen? Vielleicht mit einer märchenhaft mittelalterlichen Brücke? Check. Auf den Strawberry Hill gelangt man über die Stow Lake Bridge, eine steinerne Bogenbrücke mit einem zentralen Pfeiler und zwei Bogen. Die Brücke scheint aus großen Steinblöcken zu bestehen, die in unterschiedlicher Form und Größe aus der Brücke herausbrechen. Die Balustrade ist ebenso uneben und schroff.
Wir kommen an einem zu einem Holiday Tree geschmückten Nadelbaum vorbei, der ganz sicher nicht von offizieller Seite arrangiert wurde. Da hat wohl jemand auf drollige Weise seinen Weihnachtsschmuck der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt. Hinter dem Baum geht es auf die Brücke, die aus der Nähe viel mächtiger wirkt als aus der Ferne. Die Felsen, die die Brücke links und rechts begrenzen, sind mannshoch. Ich bin mal wieder sehr angetan, Casey freut sich darüber und Cedric steht gelangweilt mit den Händen in den Hosentaschen auf der Brücke und wartet, bis wir uns »endlich« einem anderen Thema als der Schönheit des Ortes widmen.

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»You wante to climbe upe se hill?«, fragt Cedric mit äußerst kritischem Gesichtsausdruck – seinem Standardgesichtsausdruck. Casey und ich schauen einander verwundert an: Natürlich wollen wir da hoch.
»But it ise dark.«
»Yes, we just missed the sunset.«
Wir zucken die Schulter und wundern uns noch immer.
»So, why do you wante to go?«
»To see the city?«
»It ise dark!«
»To see the city lights?«
Er rollt mit den Augen. Was hat der denn für ein Problem?
»Believe me«, versuche ich ihn zu überzeugen, »San Francisco looks awesome – day and night.«

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Er knirscht mit den Zähnen und dackelt uns hinterher. Der Pfad zieht sich in immer enger werdenden Kreisen nach oben. Unserem entspannten Franzosen wird es offensichtlich irgendwann zu blöd und er fragt, bittet schon fast, ob wir nicht einfach querfeldein die Böschung hochklettern können, um den Weg abzukürzen. Okay, kein Problem. Kurz darauf haben wir den Aussichtspunkt erreicht. Casey und ich sind sofort begeistert, schauen uns jede Himmelsrichtung an und freuen uns darüber, wie wunderschön sich San Francisco wieder einmal präsentiert. Cedric bleibt kühl und sagt kein Wort. Natürlich schaut er sich aber auch ausgiebig um. Da kann man ja auch nicht widerstehen: Im Norden schaut man auf den Presidio. Zwischen dem Presidio und dem Hügel auf der anderen Seite der Meerenge kann man die beiden roten Türme der Golden Gate Bridge bestaunen. Zu unseren Füßen liegt östlich von uns das dunkle M. H. de Young Memorial Museum und daneben das Gebäude der California Academy of Sciences, aus dessen bepflanzten Kuppeldach Licht ins Dunkel des Parks scheint. Im Nordosten sehen wir die hell erleuchtete und mächtig thronende St. Ignatius Church, die sich auf dem Campus der University of San Francisco befindet. Dahinter kann man die Transamerica Pyramid und die anderen Wolkenkratzer des Financial District ausmachen, während sich im Südwesten die flach angelegten, quadratischen Häuserblocks des Sunset District in die Ferne ziehen und nur vom Meer begrenzt werden. Gigantisch! Genau das lasse ich auch Cedric wissen, den aber offensichtlich all das noch immer nicht beeindruckt. Er grunzt nur kurz, woraufhin ich ihm mitteile, dass er, wenn er schon nicht die Aussicht genießen kann, doch wenigstens einmal Casey: »Danke«, sagen kann. Ein Dank dafür, dass er sich die Zeit nimmt, um uns seinen liebsten Spaziergang zu präsentieren. Das ist wohl das Mindeste.

Wir verlassen den magischen Ort wieder und lassen uns von Casey auf der anderen Seite des Hügels zurück zum Wasser führen. Dort erwartet uns ein chinesischer Pavillon. Da die Lichter der Academy of Sciences durch die Wipfel der Bäume scheinen und der Himmel sternenklar ist, bietet der Pavillon trotz der Dunkelheit einen fantastischen Blick auf das andere Ufer des von Menschenhand geschaffenen Sees.

Die Lichter sind es, denen wir nun folgen. Wenige Minuten später stehen wir zwischen dem M. H. de Young Memorial Museum und der Academy of Sciences. Ich kenne diesen Ort bei Tageslicht. Im Dunkeln wird vor dem Museum eine Allee aus Palmen von im Boden versenkten Lichtern angestrahlt. Dass die Architektur des Museums großartig ist, muss ich weder Casey noch Cedric mitteilen. Der eine weiß es sowieso, der andere ist ein Depp.

Casey vermutet, dass die Rentiere neben der California Academy of Sciences noch da sein dürften. Rentiere? Die Tierwelt des Golden Gate Park wird immer spektakulärer. Wir werfen einen Blick in die Lobby der Academy, in der das Skelett eines T-Rex neben einem ausgestopften Eisbären steht. Links neben dem Gebäude befindet sich tatsächlich ein Gehege, in dem Rentiere auf dem Boden liegen. Verrückt.

Am Ende unseres Spaziergangs kommen wir noch am hübschen Conservatory of Flowers vorbei, dem 1878 errichteten und somit ältesten Gebäude des Parks. Das viktorianische Gebäude ist nicht nur ein riesiges Gewächshaus, sondern beherbergt auch einen botanischen Garten. Es wurde – mit Ausnahme des Fundaments – komplett aus Glas und Holz gefertigt und ist das größte hölzerne Gewächshaus der Vereinigten Staaten. An seiner höchsten Stelle, einer mittig platzierten Kuppel, misst das Conservatory 18  Meter. Die Flügel, die L-förmig links und rechts von der zentralen Kuppel abzweigen, sind 73 Meter lang. Das Gebäude wurde auf einer Anhöhe errichtet. Vor dem Zentrum führt eine Treppe hinab, die links und rechts von gepflegtem Grün gesäumt ist. Außerdem hat man den Schriftzug: »Go 49ers«, neben die Treppen gepflanzt.

Fünf Minuten später erreichen wir die Haight Street. Casey verabschiedet sich vorerst. Er muss noch was erledigen und stößt später wieder zu uns. Ich bedanke mich für die schöne Tour, während Cedric schweigend neben uns stehen bleibt und Casey ohne ein Wort des Dankes abziehen lässt. Also, spätestens jetzt mag ich den Typen überhaupt nicht mehr. Kaum ist Casey verschwunden, erreichen wir den Moment, in dem der Mann mit dem ewig mies gelaunten Gesichtsausdruck seine totale Hirnrissigkeit offenlegt: Der Froschfresser hat beim Frühstück mithilfe meines Notebooks erfolgreich nach einer Couch gesucht. Cedric hat die Adresse und die Telefonnummer vom Gastgeber, jedoch keine Ahnung, wann er bei ihm antanzen soll. Da Cedric kein Handy besitzt, will er, dass mein Handy zum Einsatz kommt. Kein Ding. Ich reiche ihm das Telefon. Er nimmt es aber nicht an. Verstehe ich nicht, lasse ich ihn direkt wissen. Ich soll beim Gastgeber anrufen, entgegnet der seltsame Franzose, der ein durchaus sehr gutes Englisch spricht. Aha. Na, dann. Ich klingel beim Couchsurfer durch und frage, im Namen meines Auftraggebers, bis wann dieser bei ihm aufkreuzen soll. Bis 21 Uhr, lässt mich sein Gastgeber wissen. Nun ist es 19 Uhr, weswegen ich Cedric wissen lasse, dass es ein weiter Weg bis zum Hostel ist und wir besser mal mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahren sollten, wenn er pünktlich aufschlagen möchte. Er schaut mich an, als hätte ich gerade etwas absolut Dämliches vom Stapel gelassen. Ich antworte mit einem Blick vollkommenen Unverständnisses.
»I don’te want to spende money«, säuselt er. Das kann jetzt nicht sein Ernst sein.
»Do you want to sleep for free on a couch tonight or pay for another night in a hostel?«, kontere ich mit Logik.
»We will make it in time.«
»It’s your couch … or money«, resigniere ich. Ich habe mit dem Spaziergang auch überhaupt kein Problem. Schließlich bin ich ja auf Abschiedstour und genieße jeden Schritt durch San Francisco.

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Ich schätze, dass wir über eine Stunde benötigen, bis wir im Hostel ankommen. Unser Gepäck wurde nicht angerührt und liegt tatsächlich ohne Verluste in der Besenkammer neben der kleinen Rezeption. Cedric geht mir immer noch auf die Eier. Es wird sogar immer schlimmer und ich frage mich, weshalb ich so sagenhaft freundlich bin und ihn nicht einfach sich selbst überlasse und ihn in die Wüste schicke. Joshua textet mir. Großartig, das könnte meine Flucht sein. Ich frage ihn, wo er ist und ob wir uns treffen wollen. Es kommt keine Antwort mehr. Verdammt.
Mein blöder Zeitgenosse stresst. Er fürchtet, dass wir zu spät kommen werden und er somit seine kostenlose Übernachtungsmöglichkeit verliert. Ach, was. Ich teile ihm mit, dass wir garantiert zu spät kommen werden, und schlage nicht zum ersten Mal vor, dass wir uns für sage und schreibe zwei Dollar pro Nase Tickets kaufen und mit dem Bus fahren könnten. Nein, das geht nicht. Meinen Vorschlag, dass er ja auch einfach schwarzfahren könnte, lehnt er mit einem Blick ab, der einen wissen lässt, dass man gerade etwas vollkommen Unangebrachtes gesagt hat. Ich bin mir absolut sicher, dass er sich aber problemlos ein Ticket von mir kaufen lassen würde. Da hat er sich aber geschnitten: Arschlöcher supporte ich nicht. Mittlerweile amüsiere ich mich heimlich still und leise und fände es allemal gerecht, wenn der Knauser am Ende wieder im Hostel landen würde. Er heult erneut herum, dass wir zu spät kommen werden, woraufhin ich die Vermutung äußere, dass eine halbe Stunde schon kein Problem darstellen wird. Wir laufen den Geary Boulevard in Richtung Westen.

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Mit dem Thema »Geld« habe ich unbeabsichtigt einen Redeschwall bei meinem nervtötenden Backpackerkollegen ausgelöst. Er redet nur noch von Geld – von Geld, das er nicht ausgeben möchte. Er ist stolz darauf, in zwei Monaten Indien nur 150 Euro ausgegeben zu haben. Er spart, wo es nur geht, trinkt und kifft nicht und bleibt auf seinen Reisen offenbar nie länger als drei Tage an einem Ort. Hä?!
Da sieht man einmal die radikalen Unterschiede zweier Backpacker. Wenn ich reise, möchte ich so viel wie möglich kennenlernen. Er möchte offensichtlich einfach nur so viel wie möglich hinter sich lassen, um dann wahrscheinlich damit angeben zu können, wo er schon alles war. Dass er die Orte und Menschen dabei ganz sicher nicht kennenlernt, juckt ihn augenscheinlich nicht die Bohne.
Ich habe Hunger. Also machen wir einen kurzen Einkaufsstopp bei Safeway. Den Stopp findet Cedric natürlich nicht gut. Ich kaufe deswegen umso langsamer ein, obwohl ich ganz genau weiß, dass ich wieder einmal Dave’s Killer Bread und Hummus haben will. Das schmeckt, macht satt, ist gut für unterwegs und es ist so viel, dass man lange etwas davon hat. Wieder draußen setze ich mich auf eine Treppe und mache ein entspanntes Picknick. Dass sich Cedric nichts gekauft hat, muss ich wohl kaum erwähnen. Casey meldet sich auf meinem Handy und teilt mir mit, dass sich Cedrics Host bei ihm gemeldet hat. Wir hatten Caseys Telefon früher am Tag einmal benutzt, um mit Cedrics Gastgeber in Kontakt zu treten. Er lässt uns ausrichten, dass wir zu ihm kommen können, wann immer wir wollen. Rock und Roll, sollte man meinen. Da kann der Schneckenschlecker ja mal relaxen. Denkste: Ich schlage vor, dass wir nach dem Picknick kleine Umwege laufen und die Gegend ein bisschen erkunden, weil der Geary Boulevard hier oben einfach nur eine doofe, große Straße ist. Cedric jammert daraufhin herum – weil er sein Gepäck loswerden will. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal darauf hinweisen, dass sein Rucksack kleiner als jeder Schulranzen ist und ich der Typ mit dem schweren Gerät auf dem Rücken bin. So eine Flasche ist mir selten untergekommen.
Cedric wechselt das Thema: Veganismus. Kotz. Er will allen Ernstes, dass ich ihm erkläre, weshalb ich es als ethisch korrekter empfinde, keine Tiere für den Gaumenschmaus zu töten: »I woulde kille a man fore smoked salmon.«
Wieso redet der Räucherlachsfresser nur so oft so eine Scheiße? Ich will mit dem Deppen nicht über Veganismus reden, er aber schon. Er bringt einen dümmlichen Spruch nach dem anderen und denkt dabei auch noch, dass er gewitzt und provokativ sei … dabei ist er nur peinlich und nervig. Nachdem er sich genug über sich selbst gefreut hat und mich als Freak darstellt, weil ich keine Leichen esse, fragt er mich zum wiederholten Male, was Hummus ist. Ein Weltenbummler, der Hummus nicht kennt? Das habe ich ihm schon beim ersten Mal nicht abgekauft und ihm auch keine Erklärung geliefert. Ich bezweifle, dass er einfach zu schnell durch die Länder gereist ist, in denen es Hummus gibt, sondern gehe vielmehr davon aus, dass er gratis etwas zu essen serviert bekommen möchte. Cedric hat über den Tag verteilt gut und gerne fünf Bananen verdrückt, ohne mir auch nur einen Bissen anzubieten – obwohl ich ihm den kompletten Tag organisiert habe und bis auf zwei Bagels zum Frühstück und diesem Brot heute noch nichts gegessen habe. Aus diesen Gründen habe ich dem Arsch auch nichts angeboten – was ich eigentlich aus purer Selbstverständlichkeit getan hätte. Als er mich schon wieder nach den Ingredienzen des Aufstrichs fragt, erkläre ich ihm, dass Hummus eine Paste aus zerdrückten Kichererbsen ist … und lasse ihn weiterhin zappeln. Er wirkt tatsächlich leicht nervös und schaukelt einige Sekunden hin und her, bis er schließlich fragt, ob er etwas von meinem Brot abhaben kann. Da ich zum Glück kein Cedric bin, darf er natürlich in die Tüte langen und sich ein paar Scheiben nehmen. Ich biete ihm auch freundlich Hummus an. Natürlich sagt er, wenn überhaupt, dann nur sehr kurz angebunden: »Thank you«, und danach nichts mehr. Kein Wort zum Hummus, den er ja angeblich noch nie gegessen hat. Scheiß Schnorrer.
Auf einmal möchte er wissen, wie ich es mir leisten kann, so zu reisen. Was heißt denn: »so zu reisen«, möchte ich wissen. Ich würde ständig Geld ausgeben, merkt er an. Ich habe mein Geld bislang nur für Fortbewegung, Kultur, Partys, Trinken und Essen – das ich auch teile – ausgegeben, entgegne ich. Und woher kommt das Geld? Arbeiten, Sparen und durch die Tatsache, dass ich meine Wohnung zwischenvermietet habe, erkläre ich.
»How muche do you charge fore your flate?«
»A bit more than I have to pay.«
»You charge more?«
»Of course. It’s just a little bit more, but I don’t know how much gas and electricity the person is using while I’m away. And she’s using my stuff. So why not?«
»It’s note fair! You are bade.«
Bitte, was? Jetzt will der Knauser mir alle Ernstes erzählen, dass ich ein Abzocker bin. Ich glaub’s ja nicht! Ein halbes Jahr nach dieser Unterhaltung lese ich übrigens auf Cedrics Couchsurfing-Profil, dass er einem Kapitän, auf dessen Boot er übernachtet hat, 1000 Dollar gestohlen hat. So viel zu seinem Karma und der göttlichen Fähigkeit ganz ohne Geld auszukommen …
Ich schaue mir den Sack beim Verdrücken meiner Brotscheiben an und frage mich aufs Neue, warum ich versuche, diesem Spacken einen schönen Tag zu machen. Ich erinnere mich an unser Frühstück und daran, dass er meinte, noch nichts von San Francisco gesehen zu haben. Und schließlich verstehe ich endlich mein eigenes Handeln: Am heutigen Tage bin ich Ford. Ich wollte San Francisco durch die Augen eines neu Angekommenen sehen und ihm etwas Gutes tun. Ich wollte der coole Typ sein, den man zufällig trifft und der sich spontan die Zeit nimmt, einem voll Leidenschaft das zu zeigen, was er so lieb gewonnen hat. Ich wollte leuchtende Augen und ein breites Lächeln sehen und Erinnerungen prägen. Ich wollte den Spirit von Ford weitergeben und ihm somit auch ein kleines Denkmal setzen. Jeder Mensch, dem ich seit Ford begegnet bin, musste sich die Geschichte anhören, auf welche Art und Weise er mir San Francisco gezeigt hat. Sie alle mussten sich anhören, dass Ford einer der Menschen ist, denen man im Leben über den Weg laufen möchte, dass man sich ein Beispiel an ihm nehmen und mit gutem Willen, Respekt, Liebe, Freude und geöffneten Augen durch die Welt spazieren sollte. Ich habe tatsächlich von ihm gelernt! Wieso lief es dann aber heute nicht so wie erhofft? Bin ich gescheitert? Je mehr ich darüber nachdenke, desto stolzer bin ich, dass ich noch immer neben Cedric sitze und nicht aufgegeben habe. Er versteht diese Philosophie zwar garantiert nicht, aber vielleicht denkt er ja mit ein wenig Abstand über diesen Tag nach und hinterfragt die Erlebnisse von heute. Vielleicht hatte er ja sogar doch ein wenig Spaß – auch wenn ich es bezweifle. Bin ich also gescheitert? Nein. Cedric ist lediglich ein Arschloch.
Es ist bestimmt schon halb elf, als wir bei Cedrics Host in der Stanyan Street ankommen. Der Afroamerikaner ist ein lockerer und äußerst angenehmer Kerl. Ein Glück für ihn, dass er den Turbotouristen sicherlich morgen schon wieder los sein wird. Mon copain fatigant will sich bei couchsurfing.org die nächste Couch klarmachen. Aus unerfindlichen Gründen kann er sich aber über den Computer seines Gastgebers nicht einloggen und wird auf höchst nervige Weise nervös. Der Hausherr hat noch einen zweiten Rechner auf dem Tisch liegen, den ich nutzen darf, um meine Mails zu checken. Cedric will schauen, ob er sich auf dem zweiten Computer einloggen kann. Ich gebe ihm das Notebook, er probiert und scheitert erneut. Ich bin mittlerweile dabei, meine Mails am ersten Rechner zu lesen, als Cedric mir auf einmal den Apparat von den Schenkeln ziehen möchte. Schließlich will er noch einmal auf dem ersten Rechner ausprobieren, ob es diesmal mit dem Einloggen klappt. Dass ich gerade am Schreiben bin, juckt ihn keinen Meter. Ich weise ihn darauf hin, dass das ja jetzt mal nicht sonderlich cool ist und er doch wohl die eine Minute warten kann, bis ich meine Mail fertig geschrieben habe. Das lässt ihn kurz innehalten, bevor er es erneut auf dem zweiten Computer versucht. Als es ihm abermals nicht gelingt, zieht er mir noch einmal den Rechner unter meinen tippenden Fingern weg und wiederholt das Schauspiel, bis ich keinen Bock mehr auf diesen Quatsch habe. Der hat sie doch nicht mehr alle beisammen.
Ich habe endgültig genug von Cedric und versuche ihn loszuwerden, indem ich ihn daran erinnere, dass er doch Pasta kochen wollte – ohne zuvor den Host gefragt zu haben, ob er die Küche nutzen darf. Aber das ist wohl selbstverständlich für einen Cedric. Da muss man seinen Gastgeber doch nicht um Erlaubnis bitten. Seinen Kochplan hatte er auf unserem Weg mehrfach geäußert und mir dabei neunmalklug erklärt, dass man so total preiswert reisen kann. Zum Mitessen werde ich natürlich nicht eingeladen. Unglücklicherweise geht mein Plan aber nicht auf. Cedrics Host muss noch arbeiten und der Franzose will nicht kochen, sondern sich mit mir wieder abseilen. Verdammt. Ohne sich bei seinem Gastgeber für die Beherbergung zu bedanken, geht es wieder in Richtung Haight Street, wo Casey jeden Moment aufkreuzen dürfte.

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Am Golden Gate Park kontrollieren die Cops ein paar Leute. Wir biegen in die Haight Street ab, um dort auf Casey zu warten. Ich setze mich an der Ecke Haight und Shrader vor einem Parkplatzkassenhäuschen auf den Boden und stopfe mir ein Pfeifchen. Ein wenig Entspannung kann ich jetzt gut gebrauchen und Gras schnorrt Cedric glücklicherweise nicht. Dafür weigert er sich, sich hinzusetzen. Er will offensichtlich lieber zusehen, was die Cops 200 Meter die Straße runter so treiben. Mir kann’s recht sein, da ich somit einen französischen Wachhund habe, der schön bellen wird, falls sich die Ordnungshüter in Richtung Haight Street aufmachen sollten. Ich sitze so entspannt, wie es mit einem Cedric vor der Nase geht auf dem Bordstein und genieße mein Pfeifchen, als plötzlich ein Polizeiwagen in Schrittgeschwindigkeit genau vor unserer Nase auftaucht. Ich konnte den Wagen im Sitzen unmöglich sehen und Cedric, dieser vollkommene Drecksack warnt mich nicht, sondern findet es total lustig und fängt doof zu lachen an, als ich erschreckt die Pfeife zu verbergen versuche. Die Streife fährt zum Glück weiter und ich bin jetzt stinksauer. Ich schimpfe, dass er, wenn er schon nicht in der Lage ist, zu entspannen, doch wenigstens so nett sein könnte, mich vor der Gefahr zu warnen.
»Why?«, fragt er. Er fragt tatsächlich: »Why?«
Was ist das denn bitteschön für ein – excuse my language – völlig bescheuerter Wichser? Ich schüttle nur mit dem Kopf und frage mich, womit ich das verdient habe. Zwei Minuten später – er steht noch immer nervtötend vor meiner Nase – kommen wieder Scheinwerfer eines Autos nah und näher. Als das Auto höchstens noch fünf Meter entfernt sein kann, macht der Pisser auf einmal: »Cops.«
Ich kann natürlich nicht mehr rechtzeitig reagieren und zucke nur kurz, als das Auto vor mir auftaucht. Natürlich sind es keine Cops. Scheiß Witz, lasse ich ihn wissen. Versteht er nicht …
Casey lässt noch immer auf sich warten, als Brian unverhofft ein Lebenszeichen sendet und fragt, ob wir in der Nähe der Haight Street sind. Allerdings! Er sitzt in der Zam Zam Bar und wartet auf uns. Sehr gut. Ich habe ein nettes Gesicht und ein warmes Herz jetzt bitter nötig.
Die Zam Zam Bar ist in meinen Augen äußerst uncool. Sie will arabisch wirken, ist letztlich aber einfach nur ungemütlich. Casey taucht nicht allzu lange nach unserer Ankunft auch endlich auf. Wir stoßen an. Auf eine gute Zeit und auf dass wir uns irgendwann alle mal wiedersehen. Cedric müssen wir bei diesem feierlichen Moment gar nicht anlügen, da er nicht mit uns anstößt. Das kostet Geld und er kann ohne Alkohol und Drogen genauso viel Spaß haben, wie er sagt. Davon haben wir allerdings noch nichts mitbekommen. Der Saubermann fragt stattdessen, weshalb wir »Drogen konsumieren müssen«, um uns zu entspannen und locker zu werden. Wir fühlen uns wie in den 50ern, lachen und lassen den einzig Steifen in der Runde wissen, dass wir sehr wohl auch ohne Alkohol oder Gras Spaß haben – mit aber ab und an noch mehr. Wieso muss das eine das andere im Weltbild so vieler Menschen denn immer gleich ausschließen?
Er wechselt lieber schnell das Thema und erzählt uns, wo er schon alles war: Er ist vor drei Wochen auf dem nordamerikanischen Kontinent angekommen und hat es – man möge sich festhalten – schon von Montreal bis nach San Francisco geschafft. In drei Wochen! Als Backpacker ohne Rückflugticket und ohne Zeitlimit! Wir fragen ihn, ob er denn auch was von dem Kontinent gesehen hat, den er da »durchflogen« ist. Daraufhin erzählt er uns stolz, dass er an den Niagara Falls vorbeigekommen ist … sie sich aber nicht angesehen hat. Auch das kostet nämlich Geld. Als Nächstes macht sich der Weltenkenner arrogant über San Franciscos Nachtleben lustig: »I thoughte Paris ise dead at night, but San Francisco …«
Mir wird es nun zu bunt mit der freundlichen Akzeptanz eines jeden Schwachsinns, den der Kerl von sich gibt, und frage ihn deshalb direkt, worum es ihm denn beim Reisen überhaupt geht. Ganz offensichtlich findet er Städte langweilig, aber selbst bei Naturschauspielen wie den Niagara Falls fährt er vorbei, ohne auch nur einmal anhalten zu wollen. Er versteht die Frage nicht. Ich erkläre ihm, dass mein Antrieb daraus besteht, Menschen kennenzulernen, Städte zu erleben und Naturwunder zu sehen. Dass ich beispielsweise unbedingt noch zum Grand Canyon will, weil ich mir diese Landschaft einfach nicht vorstellen kann und es unbedingt mit meinen eigenen Augen vor mir sehen will, durchlaufen und anfassen möchte.
»Grande Canyon«, sagt er abschätzig, »just costs a lot ofe money. And I’m not interested.«
Der Typ ist doch ein einziger Witz.
»So, what is interesting for you? You’ve obviously been to so many places on this planet«, zumindest hat er den halben Tag über Länder und Orte aufgezählt, an denen er schon war, »but you always and only said how boring this was and how shitty that has been. Have you seen anything nice on this planet?«
»I tolde you thate I liked Angkor Wat!«, rechtfertigt er sich.
Wow! Die halbe Welt gesehen und auf die Frage: »Was war schön?«, kommt nur Angkor Wat? Was für ein Typ … Irgendwann ist es endlich geschafft und er haut ab. Die Verabschiedung läuft so kühl wie nur möglich ab.
Doch nicht nur der Vollhorst ist weg, auch Brian ist mittlerweile mal wieder verschollen. Sogar sein Auto ist nicht mehr da. Den sehe ich wohl nicht mehr wieder, denke ich mir, als ich mit Casey zum Ocean Beach beziehungsweise zu ihm in die 48th Avenue laufe. Ich rechne wahrlich nicht mehr damit, aber mein Handy vibriert und eine SMS von Brian erscheint auf dem Display. Ich hatte ihm eine Stunde zuvor geschrieben: »Will you come back?«
Er kommt tatsächlich zurück.
»Really?«, wundere ich mich und texte ihm, wo wir sind. Casey und ich trinken Zucker mit Tee und Bier als Brian in der Straße aufkreuzt und an der Kreuzung auf uns wartet. Ich muss sowieso langsam mal los, damit ich meinen Bus um Viertel vor fünf nicht verpasse. Casey rührt mich noch einmal kurz, indem er mir ein Notizbuch schenkt. Er meint, dass ich genau der Richtige für ein Notizbuch bin, weil ich schließlich schreibe. Auf dem Umschlag ist ein Bär mit einem Regenschirm in den Tatzen abgebildet, der auf einem fliegenden Teppich durch die Wolken fliegt. Casey sagt, dass er das Büchlein einst wegen seines Nachnamens bekommen hat: Er heißt Bair.

2013 01 03 Das Notizbuch

Wir treffen Brian an der Kreuzung. Ich bereite mich darauf vor, gleich zwei sehr lieb gewonnene Menschen vielleicht für immer zu verabschieden, als Brian in seiner unnachahmlich trockenen und selbstverständlichen Art den Gag des Tages bringt: »I drive you to Yosemite.«
»WHAT!?«
»There you go!«, freut sich Casey.
»Yeah, I should visit my mom. Didn’t see her for quite a long time«, erklärt Brian seine spontane Eingebung. Ich kann es noch immer nicht fassen und frage ihn, ob er weiß, wie weit Merced von San Francisco entfernt ist. Weiß er natürlich. Seine Mutter lebt schließlich in der Nähe.
»That’s a road trip, dudes!« Casey findet den Moment offensichtlich genauso unglaublich und grandios wie ich.
»Join us!«, schlage ich vor. Das wäre die absolute Krönung.
»I’d love to, but I can’t«, entschuldigt er sich, zaubert zwei Bierdosen hervor und stößt mit mir zum Abschied auf den spontanst möglichen Road Trip an, den man sich vorstellen kann. Ich drücke ihn fest zur Verabschiedung und bedanke mich für die tolle Zeit, die ich bei und mit ihm verbringen durfte. Und dann geht’s los! Road Trip, Baby!

Quellen
Informationen zu Warren Hellman, dem HSB und zum Conservatory of Flowers: Wikipedia

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