Tag 57: Yosemite – Als ich dem Tod ins wunderschöne Auge blickte
Serendipity – Teil 2

Samstag, 5. Januar 2013
Atwater – Mariposa – Yosemite Valley – Merced – Atwater
Brian, der Schatz, hat sich bereit erklärt, mich bis nach Mariposa zu fahren. Das ist gut die Hälfte der Strecke. Um Viertel nach sechs fährt mich dann von Mariposa aus ein Shuttlebus ins Valley. Da heute Samstag ist, fährt der nächste Bus erst wieder um Viertel vor zwölf. Wir dürfen diesen Bus daher auf keinen Fall verpassen.
Ein weiterer Grund für mein frühes Aufstehen ist mein fundiertes Wissen über Brians Schlafgewohnheiten. Vier Uhr morgens bedeutet, dass er gut und gerne zehn bis zwölf Stunden früher aufsteht als gewohnt. Ich muss mich also auf einen harten frühmorgendlichen Kampf gegen den Sandmann einstellen. Erstaunlicherweise geht es dann aber doch relativ zügig. Ich hüpfe in Joeys Gummistiefel und packe mich auch sonst gut ein. Wer weiß, wie kalt das heute wird …
Gegen sechs Uhr erreichen wir Mariposa. Der Highway ist die Hauptverkehrsstraße des kleinen Ortes, der nur knapp 2000 Einwohner, dafür aber eine Subway-Filiale hat. Amerika. Die Bushaltestelle ist direkt vor dem Subway an der Ecke Highway 140 und 7th Street. Für einen Kaffee sind wir offensichtlich noch zu früh dran. Wir befinden uns zwar – so scheint es – auf dem Dorfplatz, aber alle Geschäfte sind noch geschlossen. Lediglich bei Subway ist schon jemand am Werken. Kaffee will sie uns aber keinen machen. Es ist bitterkalt. In Verbindung mit meiner Müdigkeit ist meine Vorfreude auf den Yosemite National Park schon fast etwas getrübt. Ich kann mit Kälte einfach nichts anfangen. Hoffentlich wird das noch. Naja, es ist ja auch noch stockdunkel.

Wir warten im Auto auf den Bus. Außer mir kann ich keinen anderen Fahrgast entdecken. Daher schaue ich gebannt die Straße hinunter, um den Bus nicht zu verpassen. Es wäre zu ärgerlich, wenn er einfach weiterfahren würde, weil keiner an der Haltestelle steht. Als der Bus anrollt, bedanke ich mich bei Brian und verabschiede mich bis heute Abend von ihm. Mal sehen, ob sich mein freakiger Freund bis dahin ein Haus gekauft hat.
Der Bus benötigt knapp zwei Stunden bis ins Yosemite Valley. Ich verschlafe fast die komplette Fahrt, was aber nicht weiter tragisch ist, da draußen noch immer alles schwarz ist. Erst als wir den Nationalpark bereits erreicht haben, geht die Sonne auf. Optimales Timing also.
Als ich den Bus verlasse, fällt mir auf, dass nur noch ein paar wenige andere Fahrgäste irgendwann irgendwo zugestiegen sind. Auch hier im Valley wirkt alles sehr ruhig. Das kann mir nur recht sein, ich will schließlich möglichst unberührte Natur und keinen Wandertourismus erleben. Es mag zwar auch an der Uhrzeit liegen, macht auf mich aber eher den Eindruck, dass kein Mensch auf die Idee kommt, im Winter wandern zu gehen. Joey hatte überdies recht: Ich bin im verschneiten Winter gelandet. Bis auf die Baumwipfel und die bis zu 1200 Meter senkrecht in die Höhe ragenden Felswände, die mich in allen Himmelsrichtungen umgeben, ist im Valley alles weiß. Ja, es ist ein Tal. Egal in welche Richtung ich blicke, sehe ich Felswände. Die Macht der Berge kann im Tal schon eher bedrückend wirken. Das Yosemite Valley selbst liegt übrigens ganze 1200 Meter über dem Meeresspiegel.
Die Landschaft sieht schon reichlich genial aus und ich kann es kaum erwarten, das Tal von einem höher gelegenen Punkt zu überblicken. Trotz der immer noch eisigen Temperaturen kommt meine Vorfreude bei diesem Anblick wieder schnell zurück.
Ich gehe zunächst in die Yosemite Lodge, um mir ein paar nützliche Tipps und Informationen einzuholen. Joey hat mir drei Pfade empfohlen: Der Bridalveil Fall Trail ist ein zwei Kilometer langer Rundweg, dessen Höhepunkt der gleichnamige, 188 Meter hohe Wasserfall darstellt. Joeys zweite Empfehlung ist auch gleichzeitig sein liebster Pfad: Der Mist Trail ist ebenfalls ein Rundweg, der nach knapp fünf Kilometern zum Vernal Fall und nach elf Kilometern zum Nevada Fall führt. Joeys dritter Vorschlag ist der Yosemite Falls Trail, auf dem man ebenfalls zwei Wasserfällen begegnet, dem Upper und dem Lower Yosemite Fall. Diese Empfehlungen will ich nun mit einem Ranger abstimmen – oder mit wem auch immer man das so macht. Meine bisher gesammelten Nationalparkerfahrungen halten sich sehr in Grenzen.
Der Mann, auf den ich am Tresen treffe, sieht nicht aus wie ein Ranger: keine braune Uniform, kein brauner Hut. Dafür gibt er mir eine Zeitung, den Yosemite Guide, auf dessen Rückseite auch eine Karte abgedruckt ist. Meine drei empfohlenen Pfade kommentiert er wie folgt: Der Bridalveil Fall Trail liegt außerhalb des Valleys. Da muss man also erst einmal hinkommen. Der Mist Trail ist im Sommer der Burner, im Winter jedoch teilweise gesperrt und somit auch kein Rundweg mehr. Der Mann legt mir nahe, den Yosemite Falls Trail zu nehmen, speziell bei diesem Sonnenschein. Während er das sagt, zeigt er aus dem Fenster. Ich folge seinem Fingerzeig. Man kann von der Lodge aus schon sehen, wie sich die beiden Wasserfälle in die Tiefe stürzen, während die mittlerweile schon erstaunlich hochstehende Sonne am nahezu vollkommen wolkenlosen Himmel episch auf die senkrechte Wand und das hinabstürzende Wasser strahlt. Das sieht ja hier unten schon grandios aus, nicke ich zufrieden.
Mein nächstes Ziel heißt Frühstück. Ich setze mich in den Food Court des Valleys, esse ein wenig von meinem mitgebrachten Killer Bread und trinke einen Kaffe, damit ich noch einmal ordentlich … bevor es losgeht.
Ich beginne mit der Suche nach dem vom Herrn am Desk empfohlenen Pfad zum Lower Yosemite Fall. Von dort soll es einen Trail hinauf zum Upper Yosemite Fall geben. So hat es der Kollege zumindest mit seinem Textmarker, auf der mit Details und Beschriftungen doch eher spärlich versehenen Karte eingezeichnet. Ich schlittere eine schmale Allee in Richtung Wasserfallbecken entlang. Die Wege sind mehr schlecht als recht geräumt und verwandeln sich ab und an in Eisflächen, über die man nur im Pinguinschritt kommt.
Auf einem Hinweisschild wird anhand von Fotos gezeigt, wie sich die Yosemite Falls im Laufe der Jahreszeiten verändern. Wenig überraschend sind die Wasserfälle nach der Schneeschmelze im Frühling am eindrucksvollsten. Im Winter soll man dem Brechen des Eises lauschen. Die Wasserfälle sind aber, nicht zuletzt aufgrund ihrer Höhe, auch jetzt noch sehr beeindruckend. Besonders schön sind die Regenbogenverfärbungen, die sich im Sonnenlicht direkt am hinabstürzenden Wasser bilden.

Ich erreiche die Lower Fall Bridge, auf der man im Frühling das Sprühwasser des Wasserfalls abbekommen kann. Dann muss der Wasserfall aber wirklich ordentlich abgehen. Die Brücke ist nämlich noch relativ weit von der Prallzone entfernt. Ich unterhalte mich kurz mit einem Fotografen aus Seattle. Wir freuen uns beide über das schöne Seattle, das tolle Wetter, die fantastische Aussicht und unsere Kameras. Fünf Minuten später treffe ich auf einen weiteren Mann aus Seattle, den ich wissen lasse, dass er auf der Brücke, auf die er gerade zusteuert, seinen Nachbarn finden wird.
Ich verzweifle derweil leicht, weil ich einfach keinen Zugang zum Pfad finden kann, den mir der Mann von der Info eingezeichnet hat. Wo ist der scheiß Weg? Seitdem ich die Lodge verlassen habe, irre ich eine knappe halbe Stunde lang wie ein Depp im Valley hin und her, bis ich mich schließlich dazu entscheide, einfach den »very strenuous«, also »sehr anstrengenden« Upper Yosemite Fall Trail zu wagen. Dieser Pfad soll gut zwölf Kilometer lang sein. Den Pfad des Tresenmenschen gibt es vermutlich gar nicht – oder er meinte diesen Pfad, den er dann allerdings an einer komplett falschen Stelle eingezeichnet hat.
Ich versuche mit der Karte, die ich mittlerweile in die Rangliste der wohl beschissensten Landkarten der Welt aufnehmen würde, den Upper Yosemite Fall Trail zu finden. Doch nicht nur die Karte geht mir gehörig auf die Nerven, auch die sehr spärlich aufgestellten Wegweiser müssen von wahren Helden aufgestellt worden sein. So weist mir ein Schild den Weg in die Richtung, aus der ich gerade komme. Dorthin, wo garantiert kein Pfad war. Ich bin aber offensichtlich nicht der Einzige, der von den Wegweisern in die falsche Richtung gelenkt wurde. Ein anderer Wanderer hat mit einem Messer einen weiteren Pfeil in das Hinweisschild geritzt und zusätzlich noch »LEFT« dazugekratzt. Und ich dachte schon zwischenzeitlich, ich sei zum Kartenlegastheniker geworden.
Der erste Teil des stetig aufsteigenden Pfads, der zunächst zum Columbia Rock führt, wurde bereits in den 1870er Jahren angelegt. Der Trampelpfad zieht sich gut eine Meile über rund 60 schmale und zu großen Teilen vereiste Kurven hinauf zum Aussichtspunkt des Columbia Rock. Bis zur Fallkante des Upper Yosemite Fall, meinem Tagesziel, sind es knapp fünfeinhalb Kilometer.
Nach rund 25 Minuten habe ich bereits den ersten imposanten Ausblick auf den Half Dome, den wohl berĂĽhmtesten Fels des Nationalparks.
Ich schieße meine ersten Fotos des Half Dome. Als ich mich umdrehe und wenige Meter weitergehe, steht plötzlich ein weiblicher Maultierhirsch vor mir. Wie geil ist das denn? Ich versuche so wenig Krach und Bewegung wie möglich zu machen, als ich auf einmal ein unfassbar süßes Jungtier neben der Mutter stehen sehe. Bambi und seine Mutter schauen mich eindringlich an. Maultierhirsche haben ihren Namen wegen ihrer großen Ohren, die irgendwen wohl mal an die Ohren von Maultieren erinnert haben. Es sind sehr schöne Geschöpfe, die sich zudem gar nicht von mir gestört zu fühlen scheinen. Da sie neben dem Weg und in meiner Wanderrichtung stehen, nähere ich mich ihnen langsam und entdecke dabei auch Bambis Vater. Maultierhirsche sind keine Elche: Ihre durchschnittliche Widerristhöhe liegt bei gerade einmal einem Meter. Die Kopf-Rumpf-Länge misst bis zu zwei Meter. Da fallen Ohren von bis zu 28 mal 15 Zentimetern schon ganz gut auf. Die drei bleiben sagenhaft lässig, bewegen sich kaum und hören nicht auf, mich anzugaffen. Angst sieht anders aus, folgere ich und setze mich neben sie. Ich bleibe entspannte fünf Minuten bei der niedlichen Familie und halte auch mal einen kurzen Small Talk mit ihnen. Antworten bleiben sie mir zwar schuldig, aber zuhören können sie.
Es geht weiter. Bei einer Kurve habe ich ernsthafte Probleme weiterzukommen, so glatt ist der Boden. Ich hangele mich an Ästen und Steinen entlang. Das hat schon etwas vom peinlichsten Freeclimbing, das man sich vorstellen kann. Aber mich sieht ja keiner – außer den Maultierhirschen. Wenn die Tiere im Park so zutraulich sind, sollte ich mir vielleicht doch einmal überlegen, was ich mache, wenn auf einmal eine niedliche Schwarzbärenfamilie vor mir steht. Die gibt es nämlich auch im Yosemite National Park. Der Ursus americanus ernährte sich nur allzu gerne vom Müll der Touristen, was zu einigen unschönen Zwischenfällen geführt hat. Deswegen kann man überall im Valley auch Mülltonnen ausmachen, die »bärensicher« sind. Offene Tonnen gibt es keine und die Begegnungen zwischen Mensch und Schwarzbär sind somit wohl seltener geworden. Im Winter, spinne ich weiter, läuft der Bär aber vielleicht genauso unbedacht durch die Landschaft wie ich. Außerdem habe ich von Redwood-Connor und Walt Disney gelernt, dass Bären es gerne mal mit Gemütlichkeit probieren und vom Menschen angelegte Pfade für ihre Spaziergänge benutzen. Es knackt im Unterholz, ich springe auf einen Baum und höre mich: »Bambi!«, rufen. Was ein Quatsch, geht es mir durch den Kopf, als ich das Vogelnest wieder zurechtrücke. Ist doch Winter. Da schlafen die faulen Säcke doch.
Der Wald lichtet sich, die Sonne scheint mir ins Gesicht. Es ist warm. Das ist cool. Ich entledige mich meiner Jacke und genieße den immer schöner werdenden Ausblick. Ich kann nun den Wald, aus dem ich gerade gekommen bin, überblicken. Hinter ihm türmt sich eine Hunderte Meter hohe Wand auf. Unglaublich. Der Pfad ist vielleicht zwei Meter breit. Links geht es steil nach oben, rechts gefährlich abschüssig nach unten. Das saftige Grün der Bäume glänzt im Licht der Sonne und weiß leuchtet das verschneite Tal. Der Himmel ist strahlend blau und die Kulisse … die Kulisse ist umwerfend. Hin und wieder hört man einen Donner durch das Tal krachen. Ich höre solche Donnerschläge bestimmt alle 20 Minuten. Erst, als ich an einem Hang, der sich auf der anderen Seite des Tals befindet, tatsächlich die Ursache des Donnerns sehen kann, bin ich mir sicher: Ja, es sind tatsächlich Lawinen. Solange die nicht über mir runterkommen, denke ich mir, genieße ich das akustische und seltener auch visuelle Naturschauspiel.
Ich denke ganz schön viel, während ich so den Berg hinaufklettere. Seitdem ich die Straße im Tal verlassen habe, habe ich keine Menschenseele mehr gesehen. Ich scheine der einzige Mensch zu sein, der heute diesen Pfad nimmt. Diese Ruhe, die Einsamkeit, die Aussicht, die körperliche Betätigung und die Luft: Alles ist so meditativ. Ich liebe diesen Tag!
Wenige Meter später stehe ich plötzlich vor einem Schild: »Area closed: Restoration in progress«. Was soll das denn jetzt? Und worauf bezieht sich das Schild überhaupt? Das passt mal wieder in mein bisheriges Bild der Beschilderung des Parks. Das Schild steht neben dem Pfad, weshalb ich beim besten Willen nicht ausmachen kann, ob es sich auf das Areal abseits des Pfads oder gar auf den Pfad selbst bezieht. Soll ich etwa nicht weiter? Ich überlege kurz und beschließe, dass es sich auf das Gebiet jenseits des Trails bezieht. Ich gehe weiter.

Aus einiger Entfernung sehe ich ein Douglas-Hörnchen – glaube ich zumindest. Der breite, graue Schwanz lässt mich darauf schließen. Ich passiere einen Busch, dessen Stamm und Äste auf der einen Seite eine »klassische« raue Rinde im Grauton, auf der anderen Seite jedoch eine vollkommen glatte, fast schon poliert wirkende, rote Tönung aufweist.
Eiszapfen hängen von Felsvorsprüngen neben dem Weg und schmelzen in der Sonne, während ich den Half Dome auf der anderen Seite des Valleys nicht aus den Augen verliere. Dieser Fels sieht so perfekt aus und ich freue mich über jeden noch so kleinen Perspektivwechsel, um ihn immer wieder aufs Neue zu fotografieren.
Ich muss durch einen kleinen Bach waten, um meinem Pfad folgen zu können. Nicht nur deswegen freue ich mich über Joeys Gummistiefel. Mit meinen Turnschuhen wären meine Socken schon vollkommen durchnässt und mir wäre sicherlich nicht so warm. Die Wanderung bringt mich aufgrund ihres Höhenunterschieds und der unerwartet warmen Temperaturen sogar ins Schwitzen.
Und plötzlich höre ich den Wasserfall! Eine Kurve weiter ist es dann soweit. Ich bin etwa auf Höhe der Prallzone des Wasserfalls. Von den Middle Cascades ist nichts zu sehen. Ein – nun ja – busenförmiger Schneeberg, der sich direkt vor der Prallzone aufgetürmt hat, versperrt den Blick. Dafür hat sich im Gischtbereich ein Regenbogen gebildet. Der Anblick ist sensationell.
Da ich nicht zum Baum will, muss der Baum eben zu mir kommen, beschließe ich und suche nach einem dicken Ast, der stark genug ist, damit ich mein volles Körpergewicht darauf stützen kann. So peinlich mein Erlebnis mit der vereisten Kurve vorhin ausgesehen haben muss, so professionell und abenteuerlich komme ich mir vor, als ich den optimalen Ast finde. Yeah, damit wird’s klappen. Ich stecke den Ast vor mir in den Schnee und hangle mich auf diese Weise bis zu sicheren Gefilden vor. Es klappt einwandfrei. Ich Tier.

Ich bin inzwischen auch tierisch am Arsch. Seit drei Stunden geht’s bei mir nur bergauf. Und wenn es mal nicht bergauf geht, muss ich über eine Lawine klettern. Alter Walter.

Mittlerweile habe ich auch den zweiten Bach durchquert. Da ich Profi kaum etwas zum Trinken mitgenommen habe, aber echt mal Flüssigkeit gebrauchen könnte, ziehe ich es ernsthaft in Erwägung, das Bachwasser zu trinken. Als ich mit ebendiesem Plan in das dritte Rinnsal springe, erschreckt mich ein Diademhäher fast zu Tode. Richtig, das ist dieser hübsche amerikanische Singvogel mit dem blauen Gefieder, dem schwarzen Kopf und dem Beckham-Iro, den der Amerikaner Steller’s Jay nennt. Yo! Der metrosexuelle Rabenvogel sitzt wohl sehr knapp neben der Stelle, in der ich einschlage – ich bin tatsächlich gesprungen – und fliegt überfallartig direkt neben mir hoch. Fragt sich, wer da wem den größeren Schrecken eingejagt hat.
Ich entscheide mich, das Wasser doch nicht zu trinken und lutsche stattdessen hier und da mal am Schnee und kühle meinen roten Kopf damit. Von einem Felsen tropft geschmolzenes Eiswasser auf den Pfad. Das sieht nach einer sehr erfrischenden Dusche aus, denke ich mir und stelle mich darunter. Ich habe recht, erschrecke aber, als ich mir später das Video ansehe, das ich von diesem befriedigenden Moment gemacht habe. Ich würde ja gerne schreiben, dass man darin sieht, zu welch sportlichen Höchstleistungen ich mich am heutigen Tage getrieben habe … es sieht aber vielmehr nach der Höchstleistung eines mäßig bis leicht hoffnungsvoll talentierten Schauspielers aus, der im Genre der körperlichen Liebe seine Moneten verdient. Hot or not? Entscheiden Sie selbst …
Ich betrete nun eine Schlucht. Rechts geht es fortan nicht mehr steil nach unten, sondern ebenfalls bergauf – allerdings nicht so radikal senkrecht wie zu meiner Linken.
Die Bäume werden weniger, wodurch der Schnee tiefer wird. Es dauert nicht lange und der Pfad verschwindet mal wieder. Diesmal kann ich jedoch nicht sehen, wo er weitergeht. Da es aber nur eine Richtung gibt, folge ich meiner Nase. Außerdem entdecke ich Fußspuren – menschlicher Natur – denen ich folge. Da der Aufstieg nun endgültig ziemlich harsch wird, ist der vorgegebene Zickzackkurs meines Vorgängers der sinnvollste Weg, um nach oben zu gelangen. Einmal will ich abkürzen und klettere einfach geradeaus den Hang hinauf. Es stellt sich heraus, dass mir die vermeintliche Abkürzung keine Zeitersparnis bringt und auch nicht weniger anstrengend ist. Bei meinem Versuch, querfeldein bergauf zu kommen, sacke ich ständig in von meinem Gewicht geschaffene Löcher, die mich teilweise bis zur Hüfte versinken lassen. Der Schnee in den Abdrücken ist härter, weswegen ich nicht so tief im Weiß versinke, wenn ich der Fährte des Unbekannten folge. Ich frage mich, von wann die Spuren sind, durch die ich da mühsam stapfe. Sie sind breiter als die Spuren, die ich hinterlasse und nicht so tief. Hat da jemand Schneeschuhe an oder sind die Abdrücke schon einige Tage alt?
»Hi! A human!«, begrüßt er mich lächelnd.
»Yes, you’re also the first one I get to see since I started in the Valley.«
»And I can guarantee you that we’re the only ones up here. I camped on the summit last night. I thought I’m going to die. It was so cold!« Er schüttelt sich kurz. »Now, I’m looking forward to eat a hot soup. – Oh, my gosh. What kind of shoes are that?«
Er schaut recht entgeistert auf meine Gummistiefel.
»Uhm …«
»Did you …? Of course you did. Wow«, lacht er, »I’m quite happy that I got these.«
Er trägt Schneeschuhe. Ich will gerade anmerken, dass sich da der Mann von der Memme unterscheidet, beschließe aber, zuvor erst noch eine etwas wichtigere Information einzuholen. Außerdem ist er viel zu freundlich.
»At what time is the sun going to set?«
»Fiveish.«
Gut, gegen fünf dachte ich mir bereits. Es hat übrigens eine Zeit lang gedauert, bis ich auf die Idee kam, anhand meiner Fotos die Uhrzeit zu überprüfen. Mit dem Handy habe ich ja seit Mariposa keinen Empfang und somit auch keine Uhrzeit mehr. Jetzt ist es halb eins. Als ich ihn frage, wie weit es noch bis zum Gipfel ist, erklärt mir der nette Kollege, dass es eigentlich keinen wirklichen Gipfel gibt. Es gibt keinen lookout über das Valley und die Aussicht bleibt in etwa so wie momentan. Ich sollte noch 45 bis 60 Minuten brauchen, um oben anzukommen. Da ich aber besser als er weiß, wie sehr ich mit meinen Gummistiefeln bereits im Arsch bin, rechne ich mal noch ein paar Minütchen drauf. Wir wünschen uns noch einen schönen Ab- beziehungsweise Aufstieg und verabschieden uns. Eine warme Suppe könnte ich jetzt auch ganz gut verdrücken.

Ich sehe den Rand eines Waldes. Er ist nur einige Hundert Meter von mir entfernt. Weil es aber nach wie vor steil bergauf und durch Tiefschnee geht, rechne ich damit, ihn erst in der vom Camper veranschlagten Zeit zu erreichen.
40 Minuten später habe ich den Wald mit seinen von Moos bedeckten, grün leuchtenden Bäumen erreicht und beschließe, nun wirklich umzukehren. Ich kann einfach nicht mehr.
Bergab geht es natürlich wesentlich einfacher. Dafür lauern nun ganz andere Gefahren. Versinke ich nun mit meinem vorderen Bein im Schnee, muss ich aufpassen, nicht gleich vornüber zu fallen. Besonders fies ist es, wenn ich beim Einsinken mit meinem Fuß unter einen mit Schnee bedeckten Felsen rutsche und dabei vornüberkippe. Knochenbrüche wären – vor allen Dingen mit dem Wissen, vollkommen alleine zu sein – tödlich. Ich muss auch aufpassen, nicht zu stürzen und dann ins Rutschen zu kommen. Wenn ich bei diesem Abhang einmal nicht mehr abbremsen kann, ist die Gefahr hoch, gegen einen Felsen oder einen Baum zu knallen, wenn ich nicht gleich über die Klippe schlittere. Es kann fraglos ein bisschen gruselig sein, wenn man einsam, erschöpft und hungrig auf einem verschneiten Berg herumkraxelt.
Ich komme wieder ans Ende der Schlucht. Bald wird zu meiner Linken der Upper Fall auftauchen. Den Tiefschnee lasse ich langsam hinter mir. Das ist auch gut so. Meine Hosen sind mittlerweile vollkommen durchnässt.
Ich laufe direkt an einer gut und gerne 200 Meter hohen, senkrechten Felswand entlang, als ich wieder einmal einen dieser Lawinendonner höre. Die Geschwindigkeit, mit der die Lawinen dem Tal entgegenstürzen, muss immens sein: Man hört die Brocken fallen! Dem Donnern und dem Getöse der fallenden Massen folgt immer ein Knall, der für mich wie das Einschlagen einer Bombe klingt. Ich höre also wieder einmal ein solches Donnern. Diesmal klingt es jedoch erschreckend nahe. Ich schaue sofort nach oben … und schließe mit meinem Leben ab. Direkt über mir kommt eine Lawine herabgestürzt. Ich habe absolut keine Zeit, um nach links oder rechts auszuweichen. Ich sehe einen kleinen Felsvorsprung, der genau vor mir aus der Steilwand herausragt. Ich setze zum Sprung an, stelle dann aber fest, dass sich genau dort, wo ich hinspringen will, ein undefinierbar tiefes Loch befindet. Fuck! Das sieht nach Knochenbruch aus, was nicht wirklich besser wäre, als sich direkt den Schädel zertrümmern zu lassen. Ich kann mich also nur mit meinen Füßen vor das Loch stellen und den Rest meines Körpers unter den Vorsprung lehnen und hoffen, dass ich somit genügend geschützt bin. Das ganze Drama spielt sich im Übrigen innerhalb von wenigen, vielleicht zwei oder drei Sekunden ab. Kaum lehne ich unter dem Vorsprung, schlagen hinter und neben mir Eisbrocken ein, deren Größe zwischen Tischtennis- und Fußbällen variiert. Der komplette Berg scheint zu wackeln. Es ist Furcht einflößend!
Nach geschätzten zehn Sekunden wird es wieder ruhig. Ich verharre noch ein paar weitere Sekunden in meiner Position, bevor ich es wage, meinen Kopf nach hinten zu lehnen und nach oben zu blicken. Es kommen nur noch kleinere, ungefährliche Steinchen, Eisstücke und Schneeflocken von oben herunter. Nichts wie weg hier, Abstand zur Wand gewinnen! Diese Sekunden waren wesentlich gruseliger als die Schießerei in Oakland und meine am Steuer schlafende Mitfahrgelegenheit nach Portland. Diesmal hatte ich echte Todesangst!
Als ich mich wieder sicher fühle, entspanne ich. Überlebt. Ein Lächeln macht sich auf meinem Gesicht breit, während ich ein kleines Freudentänzchen aufführe. Yeah, baby: adventure time!
Als ich die Prallzone des Upper Fall erreiche, setze ich mich und genieße aufs Neue den Blick auf den Wasserfall. Schon beim Aufstieg habe ich mich gefragt, ob ich dem Wasserfall nicht auch näher kommen könnte. Ich sitze vor einer Kurve, die mit weniger Schnee auch durchaus eine Abzweigung sein könnte. Sieht zumindest ein bisschen so aus und Markierungen oder Wegweiser gibt es sowieso seit dem Tal keine mehr. Warum also nicht? Der Mann am Infotresen heute Morgen hat mir außerdem einen Rundweg auf die mieseste Karte aller Zeiten eingezeichnet. Na, mein Abenteuer in Lebensgefahr hatte ich für heute schon. Da kann ich also auch mal schauen, ob dieser seltsame Abhang vor mir nicht vielleicht ein Pfad ist. Ich wate also den steilen Abhang hinab, der einmal aus rutschigen Eisplatten und dann wieder aus einverleibendem Tiefschnee besteht. Unten angekommen folge ich dem potenziellen Pfad … und lande vor einem undurchdringbaren Gebüsch. Hm, das war also nichts. Es gibt noch einen anderen Weg, der ein Pfad sein könnte. Doch auch hier lande ich in einer Sackgasse. So ein Dreck. Jetzt muss ich den scheiß Hang also wieder hoch. Runterkommen war schon schwierig genug. Dass das Hinaufklettern sich aber als so schwer erweisen würde, hätte ich mir nicht vorgestellt. Ich muss mich an Ästen und – wenn ich keinen Ast greifen kann – sogar an Zweigen die Eisflächen hinaufziehen. Ich rutsche ständig ab oder versinke im Schnee. Einmal versinke ich so tief im Schnee, dass ich schon fast verzweifle. Lawine überlebt und dann im Tiefschnee stecken bleiben, oder was? Ich versuche zunächst, mich mit einfachem Abstützen aus dem Loch zu drücken. Doch mit Abstützen und Hochdrücken geht da gar nichts. Es ist unmöglich! Über mir hängt ein Ast. Das klingt jetzt stark nach Münchhausen, aber es gelingt mir tatsächlich nur mithilfe dieses Astes, mich aus dem Loch herausziehen! Selbst mit meinem Zopf wollte es nicht klappen. Ich bin fix und fertig. Suppe!
Wieder auf dem Pfad begegnet mir wenig später ein Pärchen, das tatsächlich noch auf dem Weg nach oben ist. Während unserer kurzen Unterhaltung erzähle ich ihnen von der Lawine, davon, dass die Weggabelung hinter mir keine Gabelung, sondern eine Kurve nach oben ist, dass sich die Aussicht innerhalb der nun auf sie zukommenden, breiten Schlucht nicht sonderlich verändert und dass sie ein Hang voll Tiefschnee erwartet. Außerdem warne ich sie davor, dass die Sonne in knapp drei Stunden untergeht.
Wenig später finde ich meinen zurückgelassenen Ast wieder, mit dem ich mich über den seitlich abschüssigen Pfad gehangelt habe, und benutze ihn erneut an besagter Stelle. Ich genieße die Aussicht und erhole mich wieder. Da es größtenteils bergab geht und ich kaum noch Fotos schieße, geht der Rückweg wesentlich schneller vonstatten.
Ein Ranger kommt den Pfad hinauf. Rachel und Lucas begrüßen ihn: »Jim Morrison!«
Da Rachel und Lucas ihr Wochenende im Camp 4 verbringen, kennen die drei sich bereits.
»That’s Jim Morrison«, flüstert mir Rachel noch einmal zu.
»That’s Jim Morrison?«, entgegne ich skeptisch. Als der Mann in seiner braunen Uniform neben uns steht, mustere ich ihn genau. Außerdem freue ich mich, schließlich doch noch einen echten Ranger zu sehen. Das hat doch schon wieder etwas aus einem Film – zumindest kannte ich bis gerade eben Ranger und ihre Uniformen nur aus Filmen.
»So, you are Jim Morrison?«, spreche ich ihn an.
»Well«, er hebt unschuldig seine Schultern.
Ich versuche mir vorzustellen, wie der offiziell verstorbene Sänger der Doors mittlerweile aussehen müsste. Eher wie ein 70-Jähriger. Der Mann vor mir ist 25 Jahre zu jung und hat auch nicht allzu viel Ähnlichkeit mit dem »echten« Jim Morrison. Rachel, Lucas und der Hochstapler unterhalten sich, während ich versuche, seinen Namen auf dem Anstecker, den er an seine linke Brust gepinnt hat, zu entziffern. Das fällt »Mr. Morrison« auf. Er beginnt zu lachen und beugt sich zu mir: »Jim Robinson. I have no idea how that Morrison thing came up, but that’s how they call me.«
Akzeptiert.
Rachel und Lucas erzählen, dass sie heute nur bis zu diesem Aussichtspunkt gewandert sind. Jim fragt mich daraufhin, wie weit oben ich war. Ich erzähle ihm, dass ich bis zum Waldrand innerhalb der breiten Schlucht hinter dem Wasserfall geklettert bin.
»That’s far«, erkennt er an.
»Did I miss anything?«, möchte ich wissen.
Er lässt mich wissen, dass es noch eine Aussichtsplattform ganz oben an der Fallkante gibt. Dafür hätte ich noch weiter durch den Wald gemusst und wieder vor zum Upper Fall. Verdammt. Es kann aber sein, dass alles so zugeschneit ist, dass man dort gar nicht hinkommt, beruhigt er mich wieder.
»You definitely ascended a mountain. That’s the summit up there«, fügt er noch an.
Das ist ja wie ein Ritterschlag! Auch wird es mir – wesentlich ausgeruhter – erst jetzt so richtig bewusst: Ja, Ich habe alleine und in Gummistiefeln einen zugeschneiten Berg bestiegen! Rock und Roll und: »Yeah!«
Die Gummistiefel kommen auch jetzt wieder kurz zur Sprache, wodurch mein Heldenstatus zusätzlich untermauert wird. Wir Vier plaudern fröhlich weiter. Ich schildere mein Lawinenerlebnis und möchte von Jim wissen, ob es öfter zu Unfällen im Park kommt. Der ehrenamtlich als Ranger arbeitende Jim erzählt daraufhin so manche Geschichte, die einem das Blut in den Adern gefrieren lässt. Es kommt regelmäßig zu allen möglichen Unfällen, beginnt er. Letztes Jahr gab es drei Tote innerhalb von nur sieben Sekunden: Eine 21-Jährige klettert über einen Zaun und macht Fotos. Sie steht dabei auf einem rutschigen Stein am Ufer des Merced River, nur wenige Meter von der Fallkante des Vernal Fall entfernt. Die Frau rutscht plötzlich aus und wird von der Strömung mitgerissen. Ein Freund, der mit ihr auf den Steinen stand, versucht sie zu greifen, wird aber unmittelbar nach dem Start seiner Rettungsaktion selbst vom reißenden Fluss erfasst. Ein Dritter kommt hinzu … dem genau dasselbe widerfährt. Besagte sieben Sekunden später stürzen die drei, unter den Augen Dutzender Touristen, in den Tod. Der Vernal Fall ist 97 Meter hoch. Die erste Leiche kann einen Monat nach dem Unfall geborgen werden. Die Körper der anderen beiden werden erst vier beziehungsweise fünf Monate später gefunden.
In Hollywood würde man nun die offenen Münder der kleinen Wölflinge sehen, die gebannt den bösen Geschichten des pickligen Oberpfadfinders am Lagerfeuer lauschen. In der Realität sitzen aber drei Erwachsene Menschen mit demselben Gesichtsausdruck vor Jim Morrison und schütteln ungläubig ihre Köpfe. Das ist ja schrecklich!
Der gute Jim ist aber noch lange nicht fertig mit Horrorgeschichten aus dem Yosemite National Park: Momentan wird eine Person samt Flugzeug vermisst. Der Gesuchte ist vor zwei, drei Tagen aus Los Angeles kommend, irgendwo im Nationalpark abgestürzt – vermutlich. Man hat das Wrack noch nicht lokalisieren können. Im Yosemite National Park hört man aber nicht auf zu suchen, führt Jim fort. Das liegt an einer Geschichte, die sich 1992 ereignete: Ein Flugzeug stürzt im Nationalpark ab. Nach wenigen Tagen wird die Suche eingestellt. Es gibt keine Hoffnung, mögliche Überlebende jetzt noch zu finden, lautet die Begründung. Viele Monate später findet man durch Zufall die Leichen. Die Menschen sind jedoch nicht durch den Absturz gestorben. Die Insassen der kleinen Maschine haben noch ganze zwei Monate im Park überlebt. Anhand gefundener Notizen wurde dieses Drama festgestellt, das alle hier zutiefst geschockt hat. Seither wird mit dem Suchen nach Vermissten nicht mehr aufgehört.
Der Nationalpark ist mit 3081 km² übrigens größer als das 2570 km² messende Saarland. Das Areal ist vielmehr mit der Fläche zu vergleichen, die die Kleinstaaten Luxemburg und Andorra zusammen einnehmen.
»How do you know that somebody is missing?«, möchte ich wissen. Schließlich musste ich mich nirgends als Wanderer registrieren oder dergleichen. Andere Wanderer, antwortet Jim, berichten von Begegnungen mit Menschen, die dann nirgends mehr auftauchen oder Verwandte und Bekannte vermissen ihre Angehörigen und melden sich. Das kann auch schon mal länger dauern, meine ich. Gruselig.
Stichpunkt »gruselig«: Ich erkundige mich, wie viele Bären es im Valley gibt und ob man ihnen zu dieser Jahreszeit im Wald begegnen kann. Es leben 18 Bären im Valley, erklärt Jim: »Three are still awake and the other 15 hibernate right now.«
Das heißt, dass sie Winterruhe, aber keinen Winterschlaf halten. Die Atem- und Herzfrequenz wird zwar ebenfalls stark reduziert, dafür sinkt die Körpertemperatur bei Weitem nicht so stark ab wie bei einem Tier, das Winterschlaf hält. Dass drei Bären noch immer wach sind, liegt am milden Winter: Es gibt noch Futter. Im kompletten Nationalpark gibt es 76 Bären, glaubt Jim zu wissen.
Wir haben uns ganz gut festgequatscht. Es ist schon fast 16 Uhr, als wir uns gemeinsam auf den Weg nach unten machen. Wir sind eine ganz coole Clique. Doch plötzlich bekomme ich leichte Sehstörungen. Oje, so kündigen sich meine, zum Glück in den letzten Jahren äußerst selten vorgekommenen, Migräneattacken an. Scheiße. Der übliche Ablauf sieht es vor, dass ich knapp 30 Minuten lang Lichtblitze sehe und danach der Presslufthammer im Kopf eingeschaltet wird. Meine Schmerztabletten, die ich für solch einen Fall mitgenommen habe, sind natürlich in Joeys Haus in Atwater. Rachel, Lucas und Jim haben auch keine Schmerztabletten einstecken. Uff, das könnte bedeuten, dass ich noch auf dem Pfad übelste Kopfschmerzen bekomme und dann noch zwei Stunden mit dem Bus fahren muss. Das klingt nach der puren Hölle. Ich bewege mich ganz vorsichtig, versuche jede Erschütterung zu vermeiden. Laufen muss ich dennoch. Schließlich geht die Sonne unter. Ich rede mir selbst ein, dass ich überhaupt keine Kopfschmerzen bekommen werde und dass es mir gut geht. Ich hatte einen tollen Tag, habe unter Umständen eine Couch bei zwei supersympathischen Menschen in der Nähe des Grand Canyon klargemacht … alles ist cool. Meine Migränebekämpfungsaktion funktioniert tatsächlich. Erfreulicherweise bleibt es bei den Lichtblitzen und lediglich einem leichten Druck in meinem Schädel. Die abartigen Kopfschmerzen bleiben aus. Glück gehabt. Aber wieso habe ich nach ewig langer Zeit auf einmal wieder diesen Quark? Vermutlich habe ich einfach viel zu wenig gegessen und getrunken und dafür viel zu viel körperliche Anstrengungen unternommen.

Wir nehmen den Hybrid-Shuttlebus, der die Parkbesucher kostenlos zu den verschiedenen Orten des Valleys fährt. Ich steige dort aus, wo mein Tag begann: am Food Court. Rachel und Lucas bekräftigen noch einmal ihre herzliche Einladung nach Flagstaff und ich kündige an, darauf zurückzukommen.
»Bye Mr. Morrison«, und dann gibt’s endlich die wohlverdiente heiße Suppe. Das tut so gut, denn mittlerweile habe ich nicht nur riesigen Hunger, sondern friere auch ganz gut. Nachdem die Sonne vor wenigen Minuten untergegangen ist, ist auch die Temperatur im Valley rapide abgesunken. Um mich herum sitzen entspannt aussehende Urlauber. Ich komme völlig durchnässt daher, habe ein von der Sonne und der Anstrengung gegerbtes Gesicht und meinen immer länger werdenden Vollbart. Yeah, ich sehe bestimmt ganz schön bärig aus. Vielleicht sollte ich meine Performance von der Felsdusche wiederholen und ein bisschen pornös durch den Essenssaal brummen. Oder ich erzähle von der Lawine, vielleicht auch Bergmannsgarn vom Yeti und von Bigfoot, mit denen ich unter dem Wasserfall gerungen habe. Also, ich finde mich gerade ziemlich hot. Ist das arrogant? Nein, es ist ein weiteres Kapitel im Buch meines persönlichen Strebens nach Freiheit und der Suche nach mir selbst. Und heute war ein großer Tag: Ich habe einen verschneiten Berg bestiegen, verdammt noch mal!
Ich fahre mit dem Shuttle direkt nach Merced. Das kostet sechs zusätzliche Dollar und Brian muss nicht extra nach Mariposa getuckert kommen. Die Busfahrerin hat noch kein passendes Wechselgeld und bittet mich darum, beim Aussteigen in Merced noch einmal zu ihr zu kommen und den Rest zu bezahlen. Ich verfalle mal wieder in Tiefschlaf und wache erst kurz vor der Amtrak-Station in Merced, meiner Haltestelle, wieder auf.
»You owe me six dollars!«, ruft mir die ulkige Fahrerin zu, als ich auf sie zukomme. Nun kann sie rausgeben und wünscht mir: »Big success in the world out there!«
»Likewise«, grinse ich und steige aus.
Brian holt mich ab. Es dauert aber ein bisschen, weil er den Bahnhof natĂĽrlich nicht auf Anhieb finden kann. Danach ist er abermals orientierungslos und ich muss ihm beschreiben, wie wir zu Joeys Haus kommen. Auf der Fahrt berichte ich ihm von meinem Tag.
»Nice, nice«, nickt er und streichelt dabei unentwegt seinen Bart von oben nach unten. Auch Brians Tag war: »Nice, nice.«
Er hat sich ein paar Häuser angesehen und mit verschiedenen Maklern telefoniert. Ich möchte wissen, ob er denn ernsthaft darüber nachdenkt, in diese Gegend zu ziehen.
»I don’t know. Maybe. Maybe not. I don’t know this area.«
Hm, vielleicht sollte er sich dann erst mal die Gegend angucken, bevor er sich ein Haus raussucht?
Joeys Mom geht’s besser, aber sie wird weiterhin untersucht. Joey hatte verständlicherweise Angst und Panik, nachdem er den Anruf seiner Schwester erhalten hatte. Die Befürchtungen wurden zusätzlich noch durch das Ereignis verstärkt, dem Joey und seine Familie vor zehn Monaten ausgesetzt waren. Damals starb Joeys Vater aus heiterem Himmel an einem Herzinfarkt. Das weckt bei Brian, wie bereits im Dezember bei Joshua in Portland, eine Art Solidaritätsgefühl. Joey entspannt sich aber im Handumdrehen und macht Brian und mir einen Energy-Schoko-Drink, der eine ganze Mahlzeit ersetzen soll. Brian ist total begeistert vom gesunden Kakao: »That’s awesome! I could drink it all day!«
Auch mir schmeckt er sehr gut.
Wie bereits erwähnt, ist Joey Lehrer, Fotograf und Drehbuchautor. Nun will er mir seine filmischen Ergüsse zeigen und meine Meinung als Filmemacher hören. Los geht’s mit einem Kurzfilm, bei dem er auch Regie geführt hat. Er hat den Streifen wie einen klassischen Stummfilm angelegt. Es geht um eine Frau, die sich an ihrem Hochzeitstag entweder für die große Liebe oder das dicke Geld entscheiden muss. Sie nimmt die Kohle. Bitch. In Joeys nächstem Film geht es wieder ums Heiraten. Zuvor hat er sich bereits mehrfach negativ über Hochzeiten geäußert: Er ist Fotograf und will ums Verrecken keine Hochzeiten mehr fotografieren – obwohl es gut Asche bringt. Aber Hochzeiten sind scheiße. Für einen Mann, der Hochzeiten scheiße findet, dreht er aber viele Filme darüber, merke ich an. Er lacht und sagt, dass ihm das auch bereits aufgefallen sei und er als Running Gag in all seine Filme Hochzeiten einbauen will. Höhö.
Nach den Filmvorführungen werden die Zähne geputzt. Obwohl ich todmüde sein müsste, kann ich nicht sofort einschlafen und schreibe stattdessen noch eine Zeit lang. Und dann schlafe ich doch – wie ein Baby.
;o)) Schön, dass es Dich - noch - gibt, Du total verrückter Kerl! Du solltest nie wieder ohne "Buddy" in so gefährliche Abenteuer "eintauchen"!
Ansonsten - wieder ein toller Bericht und sensationelle Bilder! Das Foto "Sonne mit ’Hof’ drum herum" ist ja der Hammer!
Ja, ein Buddy. Das sagst Du so einfach. Brian hatte die Blasen des Todes an den Füßen, Joeys Mutter war krank, zudem hatte ich sein einziges Paar Gummistiefel an … und sonst kannte ich da niemanden, Mama.
… Sonne mit »Hof« drum herum … aha.
Meinst Du die Warnung der Götter? Den Schrecken des Universums? Das … wie könnte man den Spaß denn noch nennen? Na, das an dem ich die Realität etwas überzogen haben eben …