Tag 58: Sensenmann 
 What the Fuck?!

Serendipity – Teil 2

Disko Dam

Sonntag, 6. Januar 2013
Atwater – Richmond – San Francisco

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Nachdem ich letzte Nacht noch bis fĂŒnf Uhr wach geblieben bin, wache ich kurz vor Mittag auf. DafĂŒr, dass der Hike gestern so anstrengend war, bin ich körperlich erstaunlich fit. Kein Muskelkater? Faszinierend. Brian ist unterwegs, um sich irgendwo Kaffee und FrĂŒhstĂŒck zu kaufen, wĂ€hrend Joey kurz nach meinem Aufstehen zu Mom und Doc abhaut.
Die spannende Frage des Tages lautet: »Wo geht’s hin?«
Brian will den Road Trip mit mir fortsetzen, so viel scheint sicher. Auf ein Ziel haben wir uns aber noch nicht festgelegt: Las Vegas, Grand Canyon und Flagstaff? ZurĂŒck an die KĂŒste? Los Angeles? Cari, mit der ich nach wie vor Statusberichte austausche, zeigt sich nicht nur mit der Auswahl ĂŒberfordert, sondern auch von der Tatsache, dass der Mann mit den ĂŒblen Blasen an den FĂŒĂŸen noch immer bei mir ist: »I thought Brian left? He’s going on vacation with you but he can’t walk?«
Ich lasse sie wissen, dass Brian die Reise offensichtlich auch zum Kauf seines neuen Zuhauses nutzen möchte. Darauf geht Cari nicht weiter ein. Sie kennt Brians Sprunghaftigkeit, wenn es um â€Š hm â€Š Sie kennt seine charakterbildende und chronische Sprunghaftigkeit. DafĂŒr empfiehlt sie mir, unbedingt Zeit in Sedona zu verbringen, falls unser Trip uns in ihren Heimatstaat Arizona fĂŒhren sollte. Das ist nicht das erste Mal, dass sie davon schwĂ€rmt. Ich weiß bislang aber nur, dass es dort wohl eine Menge Hippies geben soll und Cari gerne das eine oder andere Pilzchen verdrĂŒckt, wenn sie dort wandern geht.
Brian kommt zurĂŒck und teilt mir mit, dass er soeben entschieden hat, doch noch ein, zwei Tage lĂ€nger hier bleiben zu wollen. Ähm, nein. Ich will weg. Mein letzter Monat ist angebrochen und ich habe noch so einige Orte auf meiner Liste, die ich gerne sehen möchte, bevor es wieder zurĂŒck nach Deutschland geht â€“ und Atwater ist nun wirklich nicht gerade spannend. Was soll ich hier machen? Es ist 14 Uhr. FĂŒr einen weiteren Wandertag im Yosemite National Park ist es viel zu spĂ€t und dumm im Niemandsland rumsitzen, damit sich Brian morgen ein weiteres Haus angucken und dann doch nicht kaufen wird, ist fĂŒr’n Arsch. Oje. Ich schaue im Internet nach, wie ich mit dem Zug von hier wegkomme. Das klingt vielleicht nicht ganz so fair und nett Brian gegenĂŒber, aber bei meinem Kumpel ist einfach alles möglich. Vielleicht will er noch eine Woche in der Gegend bleiben oder er ĂŒberrascht mal wieder mit einem plötzlichen Planwechsel.
Eigentlich wollen wir nur etwas essen, als Brian auf einmal sagt, dass er mich in die Bay Area fahren will. Na, da ist er ja schon: der spontane Planwechsel. Coole Sache. Von Joey haben wir uns bereits am Morgen verabschiedet. Wir deponieren den HausschlĂŒssel wie verabredet und starten los. Wir sind schon eine gute halbe Stunde unterwegs, als Joey bei mir durchklingelt und nach seiner Jacke fragt, die er dem gepĂ€cklosen und halb nackten Brian geliehen hat. Ich gucke nach links, um mir Brian anzuschauen. Wenig ĂŒberraschend stelle ich fest, dass er die Jacke natĂŒrlich noch trĂ€gt. Na, super.
»Uhm, Brian. You’re still wearing Joey’s jacket â€Š He wants it back.«
»Oh, shit. I can send it to him.«
Ich schreibe Joey gerade, dass wir zur nĂ€chsten Post fahren und sie ihm zuschicken können, als Brians Aufmerksamkeit auf ein paar am Straßenrand stehende Container gelenkt wird, die mit Telefonnummern beschriftet sind. Er drosselt das Tempo â€“ mitten auf dem Highway â€“ und schaut sich erneut nach den Containern um. Was hat er denn jetzt vor? Auf einmal setzt er zum U-Turn an â€Š mitten auf dem Highway. Das meint er doch nicht ernst? Eine Kolonne von fĂŒnf Wagen kommt uns auf der Gegenfahrbahn entgegen. Brian rollt weiter gemĂ€chlich vorwĂ€rts. Wir stehen schon fast quer auf der Fahrbahn und Brian macht noch immer keine Anstalten, den Wagen anzuhalten. Die Autos kommen nĂ€her und nĂ€her und Brian rollt noch immer auf die Gegenfahrbahn zu.
»Stop!«, brĂŒlle ich, woraufhin mich Brian erschreckt ansieht und hinter meinem Kopf die Autos auf uns zurasen sieht. Ich schaue nach rechts und sehe den geschockten Blick des Fahrers, der die Kolonne anfĂŒhrt. Wie Brian legt er eine Vollbremsung hin und kommt keine fĂŒnf Meter vor uns zum Stehen. Der wĂ€re um ein Haar voll in uns hineingebrettert.
»Fuck«, stöhne ich, irgendwo zwischen Erleichterung und Schockzustand.
»Sorry. Thank you«, raunt Brian, wendet den Wagen nun endgĂŒltig und parkt ihn vor den Containern.
»What the hell, Brian?«
Ich bin durchaus ein bisschen sauer und mein Puls ist auf 180. Was fĂŒr eine bescheuerte Aktion! Brian erklĂ€rt, dass er sich die Nummer der Containerfirma aufschreiben will, da er die Habseligkeiten seines Vaters lagern möchte, damit er dessen Haus in Hillsdale verkaufen kann.
»Wouldn’t it be better to check companies that are close to San Francisco?«, unterstreiche ich meine Ansicht, dass die gerade abgelaufene Glanzleistung vollkommener Schwachsinn war. Er beginnt sich zu rechtfertigen. Ich bin aber so genervt, dass ich nicht wirklich zuhöre. Brian notiert sich die blöde Nummer und weiter geht’s. Joey textet mir, dass ihm die Idee, ihm die ĂŒber 100 Dollar teure Abercrombie-Jacke zuzuschicken nicht wirklich zusagt. Also kehren wir um, um ihm die Jacke und auch ein Hemd, das Brian noch trĂ€gt, zurĂŒckzubringen. Brian ist nun auch genervt und ĂŒberrascht abermals mit einer PlanĂ€nderung: Er hat keine Lust mehr zu fahren und will nun doch noch lĂ€nger im Merced County bleiben. Toll. Ich will nach wie vor weg von hier und bitte ihn, mich zum Bahnhof in Merced zu fahren. Allerdings habe ich kaum noch Zeit, um rechtzeitig zum Zug zu gelangen. Außerdem weiß ich noch nicht, wo ich ĂŒberhaupt hinfahren soll. Nachdem Brian spontan entschieden hatte, in die Bay Area zu fahren, habe ich entschieden, mich von dort die KĂŒste entlang in Richtung Los Angeles durchzuschlagen. Heute werde ich jedoch nicht mehr weit kommen. Eine Couch muss also her: Ford ist zwar aus Chicago zurĂŒck in den Westen geflogen, hĂ€ngt aber in Los Angeles fest. Anscheinend hat er kein Geld mehr, um nach Oakland zurĂŒckzukommen. Da muss ich noch mal nachfragen, was das genau zu bedeuten hat. Auf dem Weg nach Los Angeles und in einer heute noch erreichbaren NĂ€he zu San Francisco liegt Santa Cruz. Also schreibe ich Melissa und frage, ob ich nicht noch einmal wie im November bei ihr unterkommen könnte. Leider kann sie mich nicht beherbergen, da sie bei ihrer Mutter im Carmel Valley ist. Hm. Bei Casey möchte ich mich nicht schon wieder melden. Bis seine Schule demnĂ€chst beginnt, dĂŒrfte er nach wie vor ausgebucht sein. Außerdem will ich ihm oder vielmehr seinen Mitbewohnern nicht auf den Sack gehen. Julie kommt mir wieder in den Sinn. Bei der drunk lady habe ich ja bereits einmal nach einer durchzechten Nacht in der DNA Lounge auf dem Sofa gepennt. Julie muss bis 23 Uhr arbeiten und morgen frĂŒh um sechs Uhr wieder anfangen. Sie ist sich daher noch nicht sicher, ob ich bei ihr ĂŒbernachten kann. Egal, beschließe ich und entscheide mich dazu, lieber ein Ticket nach San Francisco zu kaufen, als im Merced County hĂ€ngen zu bleiben.
Joey schlĂ€gt unterdessen vor, dass wir uns zum Essen in Merced treffen. Ich lasse ihn wissen, dass das ohne mich stattfinden muss, weil ich den Zug bekommen möchte. Er kĂŒndigt daraufhin an, mich am Bahnhof zu verabschieden und doch nicht ins Restaurant zu wollen. Vermutlich will er nur nicht mit Brian alleine essen gehen und sich seine Jacke direkt hier abgreifen. So sehr ich Brian auch in mein Herz geschlossen habe, sein Freakfaktor ist doch immens, womit sicherlich nicht jeder Mensch warm werden kann. Und wenn es ums Autofahren geht, fĂŒhlen sich auch seine Freunde eher unwohl bei ihm. Anarcho-Ulric ließ mich einmal wissen, dass er es vermeidet bei Brian mitzufahren â€“ vor allen Dingen, wenn er nĂŒchtern ist.
Ein Ticket kostet 43 Dollar und bringt mich bis Richmond. Dann muss ich noch den BART nehmen, was weitere vier bis fĂŒnf Dollar kosten wird. Uff. Ich will mir das Ticket schnell am Schalter kaufen, da ich nicht wirklich sicher bin, wo der Zug ĂŒberall hĂ€lt und was fĂŒr mich die preiswerteste Route wĂ€re. Der Schalter schließt jedoch zehn Minuten vor Abfahrt des Zugs. HĂ€? Wo ist denn da bitteschön die Logik? Also muss ich an einen Automaten. Ein Schaffner hilft mir schnell und schon muss ich in den Zug springen. Ich kann mich nur ganz kurz von Joey verabschieden, der es tatsĂ€chlich noch pĂŒnktlich zum Bahnhof geschafft hat. Brian irrt wĂ€hrenddessen 20 Meter entfernt umher. Ich rufe ihn und mache eine Umarmungs- und Verabschiedungsgeste. Dies könnte schließlich unser letztes Zusammentreffen sein! Brian macht derweil keine Anstalten, mir entgegenzukommen und ruft nur: »We’ll call!«
Na dann. Ich gehe einfach mal davon aus, dass wir uns irgendwo und irgendwann auf diesem Trip wiedersehen. So ist er nun mal, der Brian â€Š
Ich sitze im Zug, als mir Julie schreibt, dass ich wohl nicht bei ihr pennen kann. Na, super. Melissa schreibt mir zudem, dass sie wieder mit ihrem Ex zusammen ist und es wohl etwas merkwĂŒrdig kommen wĂŒrde, wenn sie einen anderen Kerl bei sich ĂŒbernachten lĂ€sst. Das klingt einleuchtend, bedeutet aber natĂŒrlich auch, dass diese Übernachtungsmöglichkeit fĂŒr immer passĂ© ist. So langsam frage ich mich, ob ich heute so etwas wie einen Pechtag habe. Das gab’s schon lange nicht mehr. Ich habe es aber eigentlich auch nicht vermisst.
Mir sitzt ein trinkender Retardierter gegenĂŒber, der mich stĂ€ndig fragt, wie groß ich bin, weil ich so lange Beine habe. Aha, interessant. Ich muss ein Riese sein, meint er. Klar, ein Riese an Reichtum und Macht, zitiere ich den bösen Berggeist aus »Schneeweißchen und Rosenrot« in meinem Kopf. Da der Trinker sicherlich keine DEFA-Klassiker aus der DDR kennt und ich auch nicht zu viel mit ihm kommunizieren möchte, behalte ich den Spruch fĂŒr mich. Der zurĂŒckgebliebene Nervsack textet alles und jeden um sich herum zu und trinkt dabei Corona. Die Leute bleiben aber total relaxed und unterhalten sich sogar mit ihm. Die Leute sind hier einfach toleranter. Mich beschĂ€ftigt außerdem viel zu sehr, was ich heute noch mache. Ich bin mit der ganzen Geschichte nicht allzu glĂŒcklich. Ich will eigentlich nicht wirklich zurĂŒck nach San Francisco. Wo penne ich heute? Noch hoffe ich ja, dass Julie mir doch noch einmal die Couch in ihrer WG anbietet. Doch dann kommt eine weitere SMS von ihr: Wir werden uns heute Abend noch nicht einmal mehr auf ein Bierchen treffen. Boah. Nach Las Vegas wĂ€re ich heute zwar auch nicht mehr gekommen, hĂ€tte Julie mir aber frĂŒher abgesagt, wĂ€re ich lieber direkt nach Santa Cruz gefahren. So ein Dreck â€Š
Im Zug gibt es kostenloses Internet. Das ist gut, da ich mich nun auf die Suche nach einer Bleibe fĂŒr die Nacht machen kann. Ich schreibe auf der Couchsurfing-Website zwei öffentliche Anfragen: eine fĂŒr Berkeley und eine fĂŒr San Francisco. Jeder Host und Surfer in diesen StĂ€dten kann nun lesen, dass ich eine Couch oder wenigstens einen Buddy fĂŒr einen netten Kneipenabend benötige.
Ich erkundige mich, wohin genau der Zug eigentlich fĂ€hrt. Ich bilde mir ein, irgendwas mit Oakland gehört zu haben. Das wĂ€re besser als Richmond. Ich verpasse daher »aus Versehen« meinen eigentlichen Zielbahnhof und fahre noch eine Station weiter: Emeryville. Hier gibt’s auch eine BART-Station, die knapp zehn Meilen nĂ€her an San Francisco ist. Der Schaffner taucht zum GlĂŒck nicht mehr auf, wodurch ich mir die Nummer des Â»ĂŒberforderten Touris« sparen kann. Super gemacht: Geld gespart.

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Atwater – Richmond Emeryville – San Francisco

In Emeryville zeigt mir ein netter dicker Afroamerikaner, der noch knapp zwei Meilen nach Hause zu laufen hat â€“ was er doof findet â€“, wo der kostenlose Shuttlebus zur BART-Station abfĂ€hrt. Zwei andere nette Menschen lassen uns wissen, dass der Mann mir die falsche Haltestelle gezeigt hat. Sie selbst sind auf dem Weg zur richtigen, also folge ich ihnen. Wir mĂŒssen noch eine Zeit lang auf den Bus warten. Also rufe ich Cari an und erzĂ€hle ihr, dass Brian mich heute verrĂŒckt gemacht und uns um ein Haar umgebracht hĂ€tte. Außerdem teile ich ihr mit, dass ich wider Erwarten erneut in der Bay Area gelandet bin. Sie schlĂ€gt vor, dass ich â€“ wenn ich schon bereits bekannte Orte wieder aufsuche â€“ auch nach Portland zurĂŒckkommen kann. Da muss ich ihr leider absagen, frage sie aber stattdessen, ob wir uns nicht einfach in Las Vegas treffen und schnell mal heiraten sollten. Dann könnte ich lĂ€nger bleiben, beziehungsweise direkt nach Amerika umsiedeln und somit auch wieder in Portland vorbeischauen. Sie ist nicht so begeistert von der Idee. So ein Pech.
Ein Bus trudelt ein. Die beiden Leute, die mir die Haltestelle gezeigt haben, fragen den Fahrer, wann der Shuttlebus endlich aufkreuzt. Heute nicht mehr, lautet die Antwort. DafĂŒr fĂ€hrt dieser Linienbus zur BART-Station in West Oakland. Optimal! Ich habe das Geld fĂŒr das Ticket nicht passend. An den Kassen in amerikanischen Bussen benötigt man allerdings passendes Kleingeld, da der Fahrer nicht wechseln kann. Ich frage die beiden Hilfsbereiten, ob sie mir einen FĂŒnfer wechseln können. Können sie nicht. Zwei Dollar haben sie aber, die sie mir spendabel schenken. Sehr geil.
Der BART fĂ€hrt gerade vor, als ich ankomme. Da ich mittlerweile sĂŒdlich von Berkeley bin, entschließe ich mich, nach San Francisco und nicht in die Studentenstadt zu fahren. Gegen 21 Uhr verlasse ich den Zug am Embarcadero. Ich ĂŒberlege, was ich wohl am besten machen könnte, um heute irgendwo unterzukommen. Ich beschließe, die altbewĂ€hrte Oz Lounge anzusteuern. Vielleicht ist da ja jemand, den ich kenne.
Ich bekomme eine SMS: »Hey Dennis. If you are still looking for a drinking bud in SF, lemme know.«
Rock und Roll! Ich let him know und schon schlĂ€gt er mir eine Bar im Castro vor. Cool, da war ich tatsĂ€chlich noch nicht. Es gibt also trotz der vielen Zeit, die ich in San Francisco verbracht habe nach wie vor Orte, die mir völlig fremd sind. Die Blackbird Bar dĂŒrfte einfach zu finden sein: »Market und Church«, schreibt mir der Fremde. Also spaziere ich die Market Street entlang, als plötzlich ein nach Native American aussehender kleiner Mann mit langen, schwarzen Haaren und Rucksack meinen Weg kreuzt: »That’s a huge backpack, man!«
»Yes, it is.«
»It’s awesome. What’s its name?«
»Uhm â€Š?«
Er lĂ€uft im Kreis um mich herum und versucht den Namen â€“ also vermutlich die Marke â€“ meines Rucksacks herauszufinden. Ich habe keine Ahnung, wer meinen Rucksack zusammengeschustert hat. Wenige Meter spĂ€ter fĂ€hrt ein Polizeiwagen rechts ran. Ein lautes Schlagzeug ist zu hören. Die Cops, der vermutliche Nachkomme der amerikanischen Ureinwohner und ich folgen der Musik.
»Shoot them down! Shoot them down!«, brĂŒllt der Rucksackkollege. Die Cops sind weder amĂŒsiert noch reagieren sie genervt auf die dumme Anmache. Kurz darauf ist der kleine Mann verschwunden. Die Musik spielt in der Stockton Street. Das Schlagzeug hallt nicht nur wahnsinnig laut durch die HĂ€userschluchten, sondern ist auch verdammt gut! Vor einem Bauzaun hat sich die Zwei-Mann-Band aufgebaut. Neben dem Drummer rockt auch ein Bassist die abendliche Straße. Es hat sich bereits eine Menschentraube vor den beiden Musikern aufgebaut. Manche filmen die Jungs, andere gehen im funkigen Rock-’n’-Roll-Rhythmus mit und wieder andere hören einfach nur regungslos zu. Das Brett, das die Jungs fahren, ist irgendwo zwischen Led Zeppelin und The Jimi Hendrix Experience einzuordnen. Der Drummer hat einen recht langen, liegenden oder besser »fliegenden« Irokesenschnitt: Der Kerl geht ordentlich ab! Der Bassist beherrscht sein Instrument auch richtig gut. Seine Show ist aber nicht so spektakulĂ€r wie die des Taktgebers. Die Jungs rocken richtig geil. Selbst die Polizisten lehnen sich erst einmal gegen die Wand und hören zu. Ich vermute, dass die beiden Musiker Zeit herausholen wollen und gehen einfach von einem Song in den nĂ€chsten ĂŒber, ohne Pausen einzulegen. Das geht gut und gerne drei Lieder so weiter. Dann tritt aber doch einer der Polizisten vor, bewegt sich zum Bassisten und flĂŒstert ihm etwas ins Ohr. Der Bassist nickt und zeigt dem Mann in Uniform den ausgestreckten Daumen. Und dann passiert das Unfassbare: Die Cops drehen sich um â€Š und ziehen ab! What? Wie cool sind die denn hier?
»We like to crash things. We love to rock!«, brĂŒllt der Drummer und legt wieder fett los. Ich vergesse die Zeit sowie mein »Blind Date« und tanze â€“ nein: rocke â€“ bis die beiden knappe 30 Minuten spĂ€ter aufhören, die komplette Straße zu beschallen. Es gibt ordentlich Applaus und Smalltalk mit den Zuhörern. Alle sind begeistert. Ich auch. Disko Dam nennen sie sich. Den Namen sollte man sich merken.

Disko Dam plays in downtown San Francisco. Usually at Geary and Powell near Union Square or on Stockton just North of Market Street. We set up to tear the place down Thursdays through Sundays in the evening, weather permitting â€“ damn the rain! We play live, raw and real! It’s always a helluva good time! Bring your friends â€Š Bring their friends â€Š Everyone is welcome and should make it a point to check the show out.<span class="su-quote-cite"><a href="http://www.facebook.com/DiskoDamBand" target="_blank">Disko Dam</a></span>

Der Sound ist leider nicht so toll, weil ich kein separates Mikrofon dabei habe.

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Auf geht’s in Richtung Market und Church. Unterwegs bekomme ich eine weitere SMS, in der mir eine Couch angeboten wird. Yeah, perfekt! Die Feiertage sind vorbei und die Hosts in San Francisco werden offensichtlich wieder aktiver. Die Wohnung ist im Pacific Heights Bezirk. Und das ist ein fancy Bezirk. Reiche Leute wohnen dort. Ford hat mir die Gegend gezeigt, als wir auf dem Weg zum Presidio und Darth Vader waren. Erneut klingelt mein Telefon. Diesmal ist es ein Anrufer und keine Textnachricht: Ein 48-jĂ€hriger Gastgeber, der derzeit zwei Deutsche zu Gast hat, will wissen, in welche Bar ich gehe, damit er seinen GĂ€sten die Info weitergeben kann. Ulkig. Ich ziehe weiter und stehe einige Zeit spĂ€ter vor der Blackbird Bar. Es handelt sich hierbei um eine »mixed bar«, schreibt mir mein fremder Trinkfreund. Was soll das denn heißen? Schwul und straight? Oder Cocktails und Bier? Ich werde ihn fragen, sobald er aufkreuzt.

2013 01 06 22.20.08

FĂŒr 2,50 Dollar gibt es ein PBR und drei Minuten spĂ€ter einen Trinkfreund: Steven heißt der Mensch, der sich mit mir trifft. Er ist â€“ das ist sofort klar â€“ schwul und mixed bar steht natĂŒrlich fĂŒr homo- und heterosexuell gemischte Bar. Er lacht herzhaft, als ich ihn frage. Steven ist ein super freundlicher, 36-jĂ€hriger Afroamerikaner, der unter dem Namen Saturn Musik macht und sich erst sehr spĂ€t geoutet hat. Er bereut es, dass er so lange damit gewartet hat. Allerdings hat er durch sein Outing auch einen sehr guten Freund verloren. Na, so gut kann der homophobe Sack ja nicht gewesen sein. Steven erzĂ€hlt mir vom Rassismus innerhalb der Schwulenszene, was ich ziemlich absurd finde. Ich erzĂ€hle ihm von meinen Abenteuern hier und dass ich mittlerweile bereits viermal in Lebensgefahr war.
»What?«
Steven ist schockiert und will wissen, was passiert ist.
»I got shot at â€ŠÂ«
»What? Where?«
»Oakland.«
Er liegt vor Lachen fast unter’m Tresen. Wieso â€Š?
»As soon as you said that somebody shot at you, I knew that it must have been in Oakland.«
Oha, interessant.
Ich erzĂ€hle ihm die komplette Story. Gleiches gilt fĂŒr die Todeschancen 2, 3 und 4: Der schlafende Fahrer auf dem Weg nach Portland, der fast in eine Mauer gekracht wĂ€re, die Eislawine in Yosemite gestern und Brians heldenhafte Aktion heute Mittag auf der Landstraße. Das macht viermal Lebensgefahr in weniger als sechs Wochen. Steven lacht sich halb schlapp und ist gleichzeitig um meine Gesundheit besorgt. Die Unterhaltung ist wirklich sehr locker und lustig, weswegen ich wohl die Zeit vergesse: Mein Couchsurfing-Host will, dass ich vor Mitternacht bei ihm eintrudele. Das schaffe ich wohl nicht mehr. Steven und ich verlassen die Bar und gehen zur Bushaltestelle. Der Bus kommt, als wir noch auf der anderen Straßenseite stehen. Ich winke dem Fahrer zu, er schaut mich an â€Š und fĂ€hrt weiter. Sack. Nicht nur, dass andere Busfahrer in dieser Stadt durchaus mal warten macht ihn zum Sack. Nein, er ist auch zwei Minuten zu frĂŒh dran. Also muss ich auf den nĂ€chsten Bus warten. Steven verabschiedet sich derweil. Der nĂ€chste Bus bringt mich fast direkt vor die HaustĂŒr meines Gastgebers. An der Ecke Fillmore und Broadway steige ich aus. Wow, von hier oben hat man einen fantastischen Blick in die Bucht. Es geht zwei Blocks bergab und schon bin ich in der Green Street. Das Haus ist auch schnell gefunden. Ich lese kurz die Bedienungsanleitung fĂŒr die TĂŒrklingel und klingele bei Apartment 14. Ich habe keine Ahnung, bei wem ich heute ĂŒbernachten werde und welche Referenzen er bei Couchsurfing hat. Na, er wird schon kein Monster sein â€Š
Durch die Gegensprechanlage höre ich meinen Gastgeber: Im dritten Stock wohnt er. Ein Aufzug ist in der Lobby. Der Fahrstuhl ist Ă€ußerst stylish: Hinter der schweren MetalltĂŒr, die man selbst öffnen muss, verbirgt sich ein komplett in Holz gehaltener Lift, in dem man das Licht ausschalten kann! So etwas habe ich noch nie gesehen. Irgendwen muss das ziemlich angemacht haben. Zumindest hĂ€ngt ein Frauenslip ĂŒber dem MetallgelĂ€nder an der Fahrstuhlwand. Samt, echt.

Mein Gastgeber dĂŒrfte wenige JĂ€hrchen Ă€lter sein als ich â€Š und er ist Franzose. Hoffentlich ist er nicht so seltsam wie sein Landsmann Cedric. Ich werde es vorerst nicht herausfinden, weil er gerade einen business call hat.
»Maybe Nina will join you«, meint er nur schnell und verschwindet im Schlafzimmer.
Gut zu wissen, dass meine VerspĂ€tung â€“ es ist schon Viertel vor eins â€“ ihn nicht vom Schlafen abgehalten hat. Ich sitze zunĂ€chst einige Zeit alleine im Wohnzimmer und stelle fest, dass er wohl ein sehr aktiver Gastgeber ist. Überall hĂ€ngen Briefe von begeisterten GĂ€sten und am Computermonitor ist ein Couchsurfing-Aufkleber angebracht. Nach Joey in Atwater dĂŒrfte dies also der nĂ€chste Hardcore-Gastgeber sein. Besagte Nina kommt zu mir ins Wohnzimmer. Sie trĂ€gt eine seltsame Mischung aus rosa Pyjama und Bademantel, hat rote Haare und Augenbrauen und eine eckige Brille. Sie kommt aus Slowenien und surft fĂŒr drei Monate die französische Couch. Drei Monate?
»Are you a couple?«, frage ich daher nonchalant.
»No, nothing special.«
Nina hat vor zwei Jahren die Couch des Franzosen, der ĂŒbrigens Emanuel heißt, gesurft. Sie wollte zurĂŒck nach San Francisco und Emanuel fand die Idee wohl gut. Da lĂ€uft allerdings was Sexuelles, das ist deutlich. Schließlich schlĂ€ft sie bei ihm im Schlafzimmer und nicht im Wohnzimmer. Die Unterhaltung mit Nina ist sehr nett. Sie fragt mich, ob ich Hunger habe. Habe ich tatsĂ€chlich. Aufgrund von Brians Chaos habe ich heute noch nichts zwischen die Kiemen bekommen. Obwohl weder Nina noch Emanuel Veganer sind, gibt’s Hummus, Guacamole, diverse Salate und sogar veganen KĂ€se. Rock und Roll!
Emanuel, Werbedesigner von Beruf, beendet sein GeschĂ€ftstelefonat und gesellt sich zu uns. Er ist seltsam â€“ nicht wie Cedric, aber trotzdem seltsam. Er will sich weniger unterhalten, als sich vielmehr mitteilen. Er textet mich mit seiner Essensphilosophie zu und liest mir die bösen Ingredienzen diverser Fertigsuppen vor, die Surfer bei ihm zurĂŒckgelassen haben. Wahnsinnig interessant â€Š
Seine Art zu reden ist auch sehr nerdy: »Oh, here for example. There’s sodium phosphate in it which is a [bla bla bla]. In my kitchen you only find good food which is organic. Did you know that genetically modified rat babies are up to 40 % smaller than naturally born rats?« Oder: »You know couchsurfing is very interesting. You get to know the different cultures. I would have never invited you if you weren’t a filmmaker.«
»Uhm â€Š what?«
»Yes, every time I have bad experiences, it’s with Germans.«
»Awesome.«
»The restroom for example: Every culture asks if they may use my toilet. The Germans just go. I mean, okay: It’s a toilet, but â€Š Or when I wake up: The Germans eat my food! No other culture would go to my cupboards, open them and eat my food. Only the Germans!«
»That’s a traditional thing, you know â€ŠÂ«
Meine Landsleute sind so lĂ€ssig drauf? Klingt fĂŒr mich nicht so »typisch deutsch«. Außerdem bekomme ich nun ein schlechtes Gewissen, weil Nina mich gefĂŒttert hat â€“ mit seinem Essen!
»Reservations!«, geht’s weiter. »There are cultures that book my couch one to three days before, which is sometimes too spontaneous. Others â€“ which is the majority â€“ book four to six, seven days in advance. Then there are cultures that book a week or two before. But there is only one culture that books months before. My record is one and a half year before! Only one culture!«
Er schaut mich seltsam erwartungsvoll an. â€“ »Only one!«
Ja, ich hab’s kapiert. Die Froschfresser mögen die Krautfresser immer noch nicht â€Š Er hebt noch einmal seinen Daumen an und beendet seine Tirade. Ein GlĂŒck, das nur kurz anhĂ€lt: »Another interesting thing about couchsurfing â€ŠÂ«
Wieso denn bloß?
»I bought this.« Er klopft an den Metallabzug seines Kamins: »This is a fireplace.«
Ach? Mach Sachen â€Š
»You can see around the painting that I hung here â€“ which is part of a series â€“ is dust. You see?«
Er fĂ€hrt mit dem Finger ĂŒber das schwarze Metall und â€Š tatsĂ€chlich: Staub!
»A surfer â€“ which is sort of my best friend now â€“ once wrote with his finger on it: â€șMy host sucks!â€č«
Er macht eine dramatische Pause. Ja, auch das habe ich kapiert: Das war ein Gag seines besten Freundes â€Š denn er ist sein bester Freund und denkt nicht, dass er ein Depp ist. Ich reagiere nicht.
»I didn’t see it immediately and hosted some guests in the meantime. It’s really interesting how they reacted, so I let it there for a little bit longer!«
So ein verrĂŒckter Hund!
»Some just said nothing, but I could see that they saw it as they were looking at it all the time. They felt uncomfortable. Then there was a little family for example. They send their child into another room and wanted to talk about it. And the Germans â€ŠÂ«

 haben’s wieder falsch gemacht.
Ich bin mĂŒde. Emanuel und Nina, die Emanuels Kussattacken jedes Mal versucht etwas auszuweichen, sind es glĂŒcklicherweise auch. Ich warte bis die beiden mit dem ZĂ€hneputzen fertig sind und Emanuel mich in sein nun freies Badezimmer einlĂ€dt. Ich will ja nicht zu deutsch wirken â€Š

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