Tag 60: Bros reunited, oder: Obdachlos in Hollywood
Serendipity – Teil 2

Tag 60: Dienstag, 8. Januar 2013
Santa Cruz – San Jose – Hollywood, Los Angeles
Die Temperatur in Demians Häuschen ist auch am Morgen noch sehr niedrig. Zum Glück hat mir mein Gastgeber einen Schlafsack zur Verfügung gestellt, sonst hätte ich mich sicherlich erkältet. Als Demian aufwacht, bereitet er ein typisch amerikanisches Frühstück zu: Es gibt oatmeal, also warmen Haferbrei, mit zerdrückten Früchten und Kokosmilch. Nach dem Frühstück fährt Demian mich in die Downtown. Er selbst geht heute hiken. Schade, dass sich unsere Wege so schnell wieder trennen. Aber ich muss zu Ford nach Los Angeles und schauen, ob ich ihm helfen oder ihn wenigstens moralisch unterstützen kann.
Auf der Pacific Avenue treffe ich die obdachlose Frau wieder, mit der ich mich nach meiner gestrigen Ankunft kurz unterhalten hatte. Sie heißt CJ und ist heute mit Kay und Stretch unterwegs. Wir sitzen mit Bewunderung vor einem Straßenmusiker, lauschen seiner Musik und applaudieren. CJ erzählt, wie eines schönen Tages ein Blinder über die Straße zu ihr gekommen ist, als sie gerade getrommelt hat. Als sie ihr Trommeln beendete, sagte er ihr, dass sie ihm nun helfen müsse, den richtigen Weg zu finden. All seine Sinne seien auf ihr Trommeln gerichtet gewesen, sodass er die Orientierung verloren habe. Das, so erklärt CJ, war das schönste Kompliment, das sie je bekommen hat. Sie erzählt auch, dass ihr einmal Geld angeboten wurde, damit sie nicht aufhört zu singen. Ich prahle daraufhin, dass ich in Deutschland einst in einem Zug dafür bezahlt wurde, endlich meine Sangeskünste sein zu lassen. Stretch toppt das Ganze schließlich noch mit seiner Story: Ihm wurde mal Geld angeboten, damit er sich nicht auszieht. Kurz darauf kamen wiederum andere und haben ihm Geld fürs nackig machen gegeben. Die, die ihn nicht nackt sehen wollten, standen derweil natürlich direkt nebendran. So läuft der Hase. CJ lacht sich einen Ast und merkt an, dass Stretch eigentlich nie etwas sagt. Wenn er aber mal den Mund aufmacht, kommen Geschichten wie diese heraus – die alle wahr sind, denn er ist verrückt.
Der Highway 17 Express fährt high noon nach San Jose. An der Bushaltestelle wartet auch eine Frau, die auf lustigen Drogen zu sein scheint oder aber über die Fähigkeiten des Dr. Dolittle verfügt. Auf jeden Fall freut sie sich kolossal über ein paar Tauben: »Oh look: four pigeons!«
Sie fährt fort, lauthals von und mit den Tauben zu reden. Als die vier abheben, reißt sie jubelnd ihre Arme in die Höhe und ruft erquickt: »Yeah! You made it! Wooh!«
Kurz vor eins erreichen wir San Jose. Mir fällt wieder ein, dass ich Jesus Freak Justin gestern vom preiswerten Megabus nach L.A. und vom Highway 17 Express nach Santa Cruz erzählt habe. Als wir auf dem Vorplatz der Diridon Station ankommen, überlege ich, ob ich Justin vielleicht zufällig hier wieder über den Weg laufe. Als Fachmann in Sachen Serendipity bin ich mir tatsächlich sogar relativ sicher, ihn anzutreffen. Nennt es lustig, nennt es unglaublich, aber ich habe natürlich recht und erkenne sein unverwechselbares Basecap schon aus der Ferne. Justin steht an der Haltestelle der 17 und staunt nicht schlecht, als ich freudestrahlend den Bus verlasse und seinen Namen rufe. Justin berichtet, dass er – unschwer zu erkennen – gestern kein Tramperglück mehr hatte und nun absolut keinen Bock mehr auf San Jose hat und den Abflug nach Santa Cruz plant. Eigentlich würde er lieber mit dem Megabus nach Los Angeles fahren. Die Betreiber von Megabus akzeptieren jedoch kein Bargeld, sondern nur die Zahlung mit Kreditkarte. Er besitzt natürlich keine Kreditkarte und ärgert sich nun etwas.
»You have it in cash?«, frage ich ihn.
»Yes«, zuckt er resigniert mit den Schultern.
»So I can book for you«, schlage ich ihm vor.
Er braucht zwei Sekunden, um zu verstehen. Dann strahlt er: »Awesome!«
»We just need Wi-Fi«, bringe ich den Haken an der Sache ins Spiel.
»No problem«, winkt Justin ab. Die Diridon Station bietet tatsächlich kostenloses Wi-Fi an. Geiler Scheiß! Wir setzen uns auf den Boden vor dem Bahnhof. Ich packe schnell mein Notebook aus, während Justin in mühevoller Kleinarbeit Cent für Cent neben mir stapelt, bis er endlich bei 12,50 Dollar angekommen ist. Kurz darauf ist sein Ticket gebucht und unserer gemeinsamen Busreise steht nichts mehr im Wege. Easy job, big success.
Megabus erinnert an eine Fluggesellschaft: Man darf maximal 50 Pfund an Gepäck mitnehmen, sonst setzt es eine Zusatzgebühr und man bekommt per Video erklärt, wo man was findet, wie man ins Internet kommt und wie man sich im Notfall zu verhalten hat. Verrückt. Lediglich die Sitze können nicht vorher ausgesucht werden. Wer zuerst kommt, mahlt also auch zuerst. Justin und ich können uns eine Reihe im Obergeschoss direkt hinter dem vorderen Aufgang sichern. Das bedeutet Beinfreiheit, da wir sie über das Geländer baumeln lassen können, und gute Aussicht, da sich vor uns und der Treppe nur noch eine weitere Sitzreihe befindet. Um kurz nach halb zwei geht’s los. Nach einer knappen Stunde und kurz bevor wir auf die Interstate 5 wechseln, kommen wir am San Luis Reservoir vorbei. Der künstliche See liegt in einer wahnsinnig schönen Landschaft. Weich geschwungene und von grünen Wiesen überzogene Hügel ziehen sich um den – je nach Wasserstand – bis zu 14,5 Kilometer langen und acht Kilometer breiten See. Dass die Landschaft so sagenhaft grün ist, liegt auch an der Jahreszeit. Das Reservoir sammelt Wasser vom San Joaquin-Sacramento River Delta. Das Flussdelta liegt allerdings über 100 Kilometer Luftlinie nördlich vom Reservoir. Über das California Aqueduct, einem in seiner Gesamtlänge über 1000 Kilometer langem Kanal-, Tunnel- und Pipelinesystem, wird das Wasser in die O’Neill Forebay geleitet und dann schließlich in den Stausee gepumpt. Die O’Neill Forebay liegt direkt neben dem San Luis Reservoir.
Nach knapp drei Stunden gönnt uns Megabus irgendwo im Nirgendwo, genau gesagt vor dem McDonald’s in Kettleman, eine Pause.

Eine halbe Stunde später geht die Sonne unter. Die Landschaft ist flach, der Blick reicht weit. Erst am Horizont kann man eine Hügelkette und mit Eintreten der Dunkelheit auch die Lichter von Siedlungen ausmachen. Diese Weiten sind wirklich beeindruckend.
Ich verabschiede mich von Justin und folge Fords Wegbeschreibung, die er mir getextet hat: Ich soll die Red Line in Richtung North Hollywood bis zur Station Hollywood Boulevard und Vine Street nehmen. Yeah, Hollywood!
Die U-Bahnen in Los Angeles sind nicht durchnummeriert, sondern mit unterschiedlichen Farben versehen. Die Red Line verbindet die Union Station – Los Angeles’ Hauptbahnhof – mit Downtown und Hollywood. In Los Angeles gibt man sich umweltfreundlich und verkauft keine auf Papier gedruckten Fahrkarten, sondern »TAP cards«. Das sind Plastikkarten, die mit einem elektronischen Chip versehen und somit immer wieder aufladbar sind. Finde ich gut. Allerdings ist die Preispolitik am Automaten nicht ganz so eindeutig. Läuft das nun wie beim BART in San Francisco oder ist das Guthaben tagesgebunden? Ich bin nicht der einzige Neuankömmling, der versucht, durch Beobachten und Befragen von anderen herauszufinden, wie viele Dollarnoten man in den Automaten schiebt. Trotz ehrlicher Bemühungen bleibt es recht rätselhaft.
Zehn Stationen dauert meine Fahrt. Die abgerundete Decke in der Station Hollywood/Vine besteht aus Filmrollen. Zwei Nachbildungen alter Kameras stehen in der Eingangshalle und die Säulen, die die Decke stützen, sehen wie hässliche Palmen aus.
Auf einer Tafel werden Greenhorns wie ich darüber aufgeklärt, welche Bedeutung die Ecke Hollywood Boulevard und Vine Street hat: Es ist das Herz der Welthauptstadt der Unterhaltung. Im näheren Umkreis befinden sich Filmstudios, Fernsehsender, Tonstudios, Radiostationen und Theaterbühnen. Von 1949 bis 1959 wurde der Oscar im Pantages Theatre überreicht, das sich genau gegenüber des U-Bahnhofs befindet. Während »Hollywood’s Golden Age« befanden sich einige der berühmtesten Nachtclubs, Theater und Restaurants an der Kreuzung Hollywood und Vine. Kein Wunder also, dass die umliegenden Gebäude schon seit den 1920ern und bis in die Gegenwart hinein bereits in unzähligen Filmen auftauchten.
Ja, ich bin offensichtlich im Mekka des Films angekommen, wo ich nicht nur Ford wiedersehen, sondern auch endlich meinen Kollegen Chris treffen werde, den ich auf dem Filmfestival in Marbella kennengelernt habe. Mit Chris möchte ich das Projekt »Weltkollektivfilm« starten – mein eigentlicher Grund für diese Reise. Ich habe ihm und seiner Freundin und Produzentin Grace meine heutige Ankunft bereits per Mail angekündigt und hoffe, dass sie sich schnellstens melden. Ich bin schon voller Vorfreude auf die Zusammenarbeit und die Produktion unseres bislang größten Filmprojekts. Ich habe Chris und seiner Freundin und Produzentin Grace meine heutige Ankunft bereits per Mail angekündigt und hoffe, dass sie sich schnellstens melden. Ich bin schon voller Vorfreude auf die Zusammenarbeit und die Produktion unseres bislang größten Filmprojekts.
Ich hatte in der U-Bahn keinen Handyempfang und kann Ford erst von meiner Ankunft berichten, als ich bereits den U-Bahnhof verlassen habe. Ich soll in Dillon’s Irish Pub, der schräg gegenüber des U-Bahnhofs ist, auf ihn warten. Ich spaziere über die ersten Sterne des Walk of Fame und betrete den großen Pub, der zwei offensichtliche Gründe bietet, weshalb sehr viele Menschen darin ihre Bierchen trinken: Ein jeder Gerstensaft kostet nur drei Dollar und die Mädels hinterm Tresen sehen aus wie die Mädels hinterm Tresen aus Hollywoodfilmen.
Jählings ertönt zunächst leiser, doch dann immer lauter werdend, eine Big Band hinter mir. Ich drehe mich herum, als mich eine der Bardamen vom Hocker reißt und in einen maßgeschneiderten schwarzen Anzug stülpt. Zwei Spotlights leuchten plötzlich auf. Eines ist direkt auf mich, das andere auf die Eingangstür gerichtet. Die Bardamen und schick gekleidete Männer beginnen zu tanzen. Schließlich ertönt eine Stimme und singt: »Like the wallpaper sticks to the wall, like the seashore clings to the sea, like you’ll never get rid of your shadow … You’ll never get rid of me! Let all the others fight and fuss, whatever happens, we’ve got us.«
Ich erkenne Fords Stimme sofort, und als er mit einem Mal in der Tür steht, ist mir klar, was zu tun ist. Ich schnappe mir das Mikrofon, das mir entgegengeworfen wird, und schlendere lässig und cool auf den ebenfalls im feinsten Zwirn swingenden Ford zu: »We’re closer than smog to all of L.A., we’re closer than Bobby is to JFK., not a soul can bust this team in two … We stick together like glue!«
Wir tanzen und singen, die Menge schreit oder fällt in Ohnmacht und eine Wand scheint aus heiterem Himmel in Flammen zu stehen. Es ist ein Schriftzug aus gleißendem Licht, der auch dem letzten Ahnungslosen im Raum die Epik des Moments erklärt: »Bros reunited!«
Als wir zur letzten Zeile ansetzen, kann keiner mehr an sich halten: Unterwäsche fliegt uns um die Ohren und man reißt uns jubelnd in die Höhe: »Life is gonna be we-wow-whee! For my shadow and me!«
Frank und Sammy wären auf jeden Fall stolz auf uns. Der Song ist zu Ende, die Big Band, genau wie unsere schicken Anzüge verschwunden und seltsamerweise trägt auch jede Dame und jeder Herr im Pub wieder seine Unterwäsche – vermute ich zumindest. Neben Ford stehen zudem auf einmal zwei Trolleys, die er zusammen mit einem Kleidersack auf ein Wägelchen geschnürt hat.
Wir trinken ein Bier und ich frage den unrasierten Ford, ob er zu Weihnachten kein Geld bekommen hat. Oder: Wie kommt es, dass er es sich nicht leisten kann, nach Oakland zu fahren?
»Money? From who?«, lautet seine Antwort. Danach erzählt er mir, was passiert ist: Rain hat wohl seine Miete nicht an George weitergegeben. Außerdem wird Rain in zwei Tagen aus dem Bordello ausziehen. Das bedeutet, dass Ford ein Problem hat: Sein komplettes Zeug ist in der Wohnung, die er sich eigentlich mit Rain teilen wollte. Ford hofft, dass Althippie George auf sein Zeugs aufpasst und es nicht sonst wo verschwindet. Ich schüttele ungläubig den Kopf. Was ist denn nur in Rain geraten? Ford wiegelt ab und meint, dass er es hätte wissen müssen, da Rain schließlich gerne mal Sachen klaut. Dann nippt er am Bier, zuckt mit den Schultern und sagt, dass er ihr nicht böse ist. Ich möchte wissen, wie er seit seiner Ankunft aus Chicago über die Runden gekommen ist. Er hatte noch ein wenig Geld für ein Hostel. Jetzt ist er aber kurz vor null und schläft auf der Straße. Ich frage ihn, weshalb er nicht mit Megabus nach San Jose fährt. Von dort ist es ja nur noch ein Katzensprung bis San Francisco und Oakland. Ford lächelt verträumt und erklärt, dass er sein Stranden in L.A. als eine Art Wink des Schicksals sieht: Er sollte endlich anfangen, ernsthaft an seiner Schauspielkarriere zu arbeiten. Deswegen will er in der »Stadt der Engel« bleiben und sich hocharbeiten. Morgen hat er beispielsweise zwei Auditions.
Wir lernen zwei Mädels und einen Typen kennen. Nachdem sich Stephan Fords Geschichte angehört hat, lädt er uns zu sich nach Hause ein. Ja, super! Allerdings ist Fords erstes Vorsprechen früh am Morgen, weswegen er nicht so weit von Hollywood weg will. Also entscheiden wir uns dazu, heute auf der Straße zu übernachten. Laut Ford sei das überhaupt kein Problem und ich finde es aus der Sicht eines Filmemachers auch irgendwie amüsant. Wenn ich mal meinen Oscar entgegennehme, kann ich das Erlebte in meine Dankesrede einfließen lassen: »You know, I was homeless, when I came to Hollywood for the very first time. Bla bla. I wanna thank the Academy.«
Das wird klasse.
Stephan, Ford und ich ziehen noch in Richtung einer anderen Bar. Ford will aber verständlicherweise Geld sparen und sich auch nicht ständig von mir einladen lassen. Außerdem sind wir beide müde. Also lassen wir Stephan alleine weiterfeiern und gehen zum Parkplatz auf dem Schrader Boulevard, den Ford als geeigneten Schlafplatz auserkoren hat. Auf dem Weg dorthin zwiebelt Ford vor mir einen ab und sagt: »Oh my God, this is going to be stinky. I’m happy that we’re going to sleep outside tonight.«
So lustig kann Obdachlosigkeit sein.
Später meldet Stephan sich wieder. Er will sich mit uns treffen. Cool, er meint es wohl wirklich ernst mit der angebotenen Hilfe. Er trifft uns auf dem Parkplatz, setzt sich und unterhält sich mit uns. Ford davon zu überzeugen, mit zu ihm zu kommen, gelingt ihm aber nicht. Auch ich lehne dankend ab und erkläre ihm, dass ich Ford so einiges schulde und ihn hier nicht alleine lassen werde. We stick together like glue!
Ford macht es sich während der Unterhaltung gemütlich und auch ich schlafe bald ein, wache jedoch irgendwann wieder auf. Etwas hat sich verändert.
Mein Rucksack ist noch da. Nichts fehlt. Das Gegenteil ist der Fall. Ich schaue an mir hinab und sehe, dass eine Decke auf mir liegt. Wo kommt die denn her? Ich schaue um mich und sehe, dass Stephan noch immer bei uns sitzt. Neben ihm sitzt ein Mädel, das ich noch nie gesehen habe. Sie lächelt mich an und sagt, dass sie an uns vorbeigelaufen ist und gesehen hat, dass ich zu frieren scheine. Also hat sie die Decke von zu Hause geholt und mich zugedeckt. Ich darf die Decke behalten, merkt sie an. Wow, das ist sagenhaft lieb. Ich bedanke mich und schlafe direkt wieder ein. Die Frau kommt auch in meine Dankesrede …