Tag 64: Das große Treffen, Venice und eine Nacht in Downtown

Serendipity – Teil 2

Mitte: U.S. Bank Tower

Samstag, 12. Januar 2013
Venice & Downtown, Los Angeles

Seite 1Seite 2Seite 3Seite 4Seite 5

Die Nacht war also kühl und einer hat geschnarcht. Dafür haben diesmal keine Käsefüße genervt – im Gegensatz zur Nacht mit dem Anti-Backpacker Cedric in San Francisco. Als wir auschecken, bekomme ich meine 125 Dollar Pfand zurück. Ich darf mir aussuchen, ob ich das Geld cash oder als Rückbuchung auf meine Kreditkarte bekommen möchte. Ich entscheide mich fürs Bargeld. So muss ich mir keinen Kopf machen, dass das Geld am Ende doch nicht ankommt und zusätzlich kann ich Automatengebühren sparen. Unsere Sachen dürfen wir kostenlos bis heute Abend im Hostel lagern.

Nachdem ich im Wohnzimmer des Hostels Anfragen an alle möglichen Couchsurfing-Hosts dieser Stadt verschickt habe, machen Ford und ich uns auf, Venice Beach am Tage zu erkunden. Das Highlight des Tages wird – nach langem Warten – um 15 Uhr stattfinden: Mein Regiekollege Chris und seine Produzentin Grace werden sich mit mir treffen. Wenn alles nach Plan läuft, werde ich – vielleicht ja schon heute – bei ihnen einziehen und mit der Vorproduktion für unseren Film beginnen. Ich bin dementsprechend schon freudig aufgeregt und kann es kaum erwarten, die beiden endlich zu treffen.

Trotz des kalten Windes ist am Ocean Front Walk viel los: Touristen, Sportler und Freaks. Ein Typ im Jeansmantel, mächtigem, schwarzen Turban und Ledertasche spielt seine psychedelisch geschmückte Gitarre – während er auf Inline Skates umherfährt, die je Schuh nur zwei Rollen haben, die eher denen eines Kinderwagens entsprechen und an den Außenseiten der Schuhe angebracht sind. Solche Skates habe ich noch nie gesehen.

Ein paar Hip-Hopper wollen uns recht offensiv ihre CDs verkaufen. Ich würde ja einfach weitergehen, aber Ford ist da anders. Er fängt sofort eine Unterhaltung mit den Jungs an und schlägt vor, dass man ja zusammen an Videoclips arbeiten könnte. Er könne eine Filmcrew organisieren und so weiter und so fort. Ich schaue Ford dabei irritiert an und denke mir, dass die Jungs sicherlich nicht die Kohle haben, um sich eine Filmcrew leisten zu können. Immerhin verkaufen sie ihre CDs am Strand – wie unzählig viele andere Musiker auch. Außerdem hat Ford noch kein einziges Lied gehört. Wer weiß, ob sie die Musik, die sie hier verkaufen überhaupt selbst aufgenommen haben. Fords Enthusiasmus stößt zudem nicht auf allzu viel Begeisterung auf der Gegenseite. Die wollen sich nicht zutexten lassen, sondern verkaufen. Dennoch haben sowohl Ford als auch ich kurz darauf Kopfhörer aufsitzen und dürfen, sollen oder müssen uns ein Lied der Verkäufer anhören. Nach dem Song wollen die Kollegen natürlich verkaufen, womit sie aber keinen Erfolg haben. Welch Überraschung.
Los Angeles’ Stadtteil Venice besteht aus viereinhalb Kilometern Strand, der mit allen nur erdenklichen Läden, Bars, Restaurants und Sportstätten ausgerüstet ist. Neben dem bereits erwähnten, weltberühmten Muscle Beach, gibt es noch Beachvolleyball-, Tennis-, Paddle-Tennis-, Basketball- und Streetballplätze und vermutlich noch viel, viel mehr. Natürlich gibt es auch Skateparks und – für Amerika eher untypisch – sogar eigene Skate- und Radwege. Ich wurde auch schon einmal gefragt, ob es stimmt, dass es in Deutschland tatsächlich Radwege neben den Straßen gibt. Eine paradiesische Vorstellung für amerikanische Radfahrer.

<center>Die Historie von Venice</center>
Radwege sind nicht die einzigen untypischen Wege, die Venice besonders machen. Es begann im Jahre 1905, 20 Jahre bevor Venice von Los Angeles annektiert wurde, als der aus New Jersey stammende Tabakmillionär Abbot Kinney mit der Umsetzung seiner Vision eines amerikanischen Venedigs begann. Bis 1911 hieß Venice noch Ocean Park und gehörte zum wenige Kilometer nördlich gelegenen Santa Monica. Erst nachdem Kinney die politische Kontrolle erlangen konnte, wurde aus Ocean Park »Venice of America«. Es wurden Kanäle gegraben, die der Mäzen fluten und mit Gondeln samt echter venezianischer Gondolieri für die immer größer anrückende Zahl an Touristen befahren ließ. Die Touristen strömten zu Kinneys Leidwesen aber nicht nur wegen der italienischen Atmosphäre und der von Kinney stark geförderten Kultur- und Kunstszene nach Venice, sondern auch oder speziell wegen der vielen Bars und billigen Unterhaltungsshows. Als 1920 die Prohibition ausgerufen wurde, brachen die Touristenzahlen dramatisch ein, was auch zum Verfall der Kanäle und somit schließlich zum Anschluss an Los Angeles führte. Die Mehrheit der Kanäle wurde 1929 zugeschüttet und durch gewöhnliche Straßen ersetzt. Die neue, unromantischere Einnahmequelle der Stadt sollte bis 1980 in der Ölförderung liegen, was auch zur Verwahrlosung der Strandpromenade und einem neuen Spitznamen für Venice führte: »Slum by the Sea«. Der positive Nebeneffekt von zunehmender Belanglosigkeit war das Absinken der Mietpreise. Europäische Einwanderer – darunter viele Überlebende des Holocaust – und Künstler besiedelten Venice und machten es zu einem Zentrum der Beat Generation in den 50er und 60er Jahren. Das vielleicht berühmteste Ergebnis des Kreativzentrums dürften die Doors sein. Na, alleine dafür hat sich das Drama doch gelohnt.

Wir schlendern den teilweise sogar mit Wiesen begrünten Teil des Strandes entlang, beobachten Menschen, die sich in körpergroßen Reifen um ihre eigene Achse drehen und sehen Stelzenhäuser für Rettungsschwimmer mit dazugehörigen gelben Strandjeeps. Letztere Entdeckung findet Ford weit weniger sensationell als ich. Nachdem ich ihn mit Tränen der Begeisterung in meinen Augen darüber aufkläre, dass mit diesem Anblick Erinnerungen an den weltgrößten Entertainer aller Zeiten geweckt werden, schaut er mich fragend an.
»David Hasselhoff!«, jubele ich.

Weiter geht’s auf Seite 2

Als Tauchlehrer wiederhole ich ganz gerne mal Gags, die bei der Kundschaft gut ankommen. Als deutscher Amerikatourist ist es die inbrünstig vorgetragene Verehrung von David Hasselhoff, die einem mit ziemlicher Garantie Lacher beschert. Ein verschmitztes Lächeln danach sollte man sich aber doch noch gönnen, bevor man zu ernst genommen wird und der Freakfaktor eine abschreckende Wirkung erzielt. Als ich einmal »The Hoff« für den Fall der Berliner Mauer verantwortlich gemacht habe, war die Verwirrung groß. Das kann aber auch daran liegen, dass einige meiner Zuhörer entweder vom Fall der Mauer noch nichts mitbekommen hatten oder mir dieses Szenario tatsächlich abgekauft haben. Ich habe die Situation mit: »Just kidding. The Scorpions did it«, gerettet. Dass »The Hoff« in Deutschland eine große Fangemeinde hat, scheint den Amerikanern aber genauso geläufig zu sein, wie die Tatsache, dass wir uns primär von Bier, Wurst und Sauerkraut ernähren. Und all das macht uns sympathisch: Rock und Roll.
Palmen, Sonne, Strand und Meer. Es ist schön hier! Süßer als ihr Name sind die Amerikanischen Pfuhlschnepfen, die mit einigen Möwen im flachen Gewässer auf Schalentierjagd sind. Angeschwemmtes Kelp liegt auf dem feinen Sand und Formationen großer Felsbrocken sorgen hier und da für aufspritzende Gischt. Ein paar Surfer reiten auf den kleinen Wellen, während man einen Kilometer hinter ihnen den Venice Fishing Pier sehen kann, der fast 400 Meter ins Meer ragt.

Ford und ich essen im Seed, einem veganen und makrobiotischen Bio-Restaurant an der Ecke Windward und Pacific. Die Burger sind ganz gut, aber auch ziemlich teuer. Ford bittet mich, ihn zu filmen. Er benötigt die Aufnahmen für ein Casting. Das mache ich gerne, weise aber darauf hin, dass Chris und Grace in einer dreiviertel Stunde auftauchen werden und ich auf keinen Fall zu spät zum vereinbarten Treffpunkt kommen möchte.

»No problem. Takes just five minutes«, meint Ford und verschwindet schnell im Hostel, um seinen Text zu holen. Ich warte derweil im Freien und muss grinsen, als eine Gruppe junger Mädels an mir vorbeikommt: Eine von ihnen trägt ein T-Shirt, auf dem Lindsay Lohan abgebildet ist. Unter dem Schwarz-Weiß-Foto steht in großen Lettern: »Free Lohan!«
Das würde Ford gefallen, denke ich mir und halte die Girls an: »Sorry, my buddy Ford is talking all the time about the bad treatment of Lindsay Lohan and that no one should get ›lohaned‹. Can I take a photo of you and your shirt?«
Sie lacht: »Sure!«
»Can you raise your fist? Ready to fight!«
Sie hebt zwar die Faust, muss aber noch immer lachen, weshalb das Foto weniger nach Widerstand und Auflehnung aussieht. Ford wird sich trotzdem darüber freuen.

2013 01 12 14.34.30

Ich habe keine Ahnung, wann und wie Ford das schon wieder geregelt hat, aber als er zehn Minuten später wieder anrückt, hat er nicht nur seinen Text dabei, sondern auch einen Drehort organisiert. Wir dürfen die Aufnahmen in der noch geschlossenen Bar des Hotel Erwin machen. Die Video-Audition läuft nicht so gut. Der Barkeeper bereitet seinen Arbeitstag vor, was mit ständigen Störgeräuschen verbunden ist und Ford ist – nicht zuletzt aufgrund des Zeitdrucks, den ich habe – gestresst oder nervös, verhaspelt sich ständig und wirkt kein bisschen entspannt. Als ich ihm vorschlage, besser mit mir anstelle der Kamera zu spielen, wird er lockerer. Ich bin fortan der backpackende Filmemacher Georg Arschkopf und Ford spielt Kirk, einen Mann, der früher als Comedian die Welt bereisen wollte, dann aber seine Pläne gegen eine geregelte Arbeitsstelle und Familie getauscht hat. Chris textet mir, dass Grace und er 20 Minuten später kommen werden. Die Video-Audition müssen wir dennoch ein andermal wiederholen, weil der Barkeeper nun auch noch die Musik einschaltet.

2013 01 12 14.42.14

Um zehn vor vier rücken Chris und Grace endlich an. Die weitere halbe Stunde, die sie uns haben warten lassen, begründen sie mit dem unberechenbaren und nervigen Verkehr dieser Stadt. Als Berliner frage ich mich allerdings, wie man auch auf die Idee kommt, mit einem Auto durch Los Angeles zu fahren. Wie auch immer: Ich freue mich, die beiden zu sehen und lasse auch keinen dummen Spruch los. Wir drücken uns herzlich und beschließen, zum Ocean Front Walk zu gehen. Chris ist ganz auf California gebürstet, trägt ein gebatiktes Hemd und eine Pilotensonnenbrille. Der Style passt nicht wirklich zu ihm, wirkt aber wegen einer gewissen Komik zweifellos sympathisch. Wir landen in einem Imbiss und besprechen, wie wir die Arbeit angehen wollen. Zunächst geht es um das Grundkonzept, mögliche Finanzierungswege und die Logistik. Schließlich wollen wir in vier über den kompletten Globus verteilten Ländern drehen. Als Nächstes geht es um einzelne Ideen für die Geschichte, die wir erzählen wollen. Ich schlage vor, einen Film übers Reisen zu drehen und erzähle Chris und Grace von meinen bisherigen Erlebnissen, um ein paar Möglichkeiten zu präsentieren. Daraufhin schlagen die beiden vor, doch einfach meine Geschichte zu verfilmen. Das finde ich zwar durchaus nett, aber auch wiederum etwas befremdlich. Ford hält sich nicht zurück und überlegt fleißig mit. Zu fleißig, wenn ich ehrlich bin. Er will uns nach einiger Zeit sogar davon überzeugen, doch lieber den Pilotfilm für eine Fernsehserie als einen eigenständigen Langfilm zu drehen. Noch spektakulärer wird es, als der »Star Wars«-Fan mit Ideen für ein bombastisches Science-Fiction-Epos daherkommt. Schließlich verpasst er es auch nicht, bei Chris und Grace nach einem Job bei ihrem nächsten Dreh zu fragen. Wenn schon nicht als Schauspieler, dann doch wenigstens als Boom Operator, also Tonassistent. Auch um Ford in seinem Eifer zu bremsen, frage ich, ab wann ich bei ihnen – oder Freunden von ihnen – unterkommen kann, damit wir mit der Arbeit beginnen können.
»Well«, entgegnet mir Chris wenig verheißungsvoll, »I’m still working on that music video. So we can’t start before the end of January or February.«
Ähm, was?
»I’m leaving the 5th«, merke ich an.
»I think four or five days can also be enough to start with.«
Ursprünglich wollten wir den kompletten Januar über zusammenarbeiten. Dann wurden daraus zwei Wochen und nun, da ich dachte, dass es losgeht, verschiebt er es schon wieder um zwei Wochen und kürzt unsere Arbeitszeit auf vier Tage herunter. Ich weiß nicht so recht, was ich davon halten soll, lasse es mir aber nicht anmerken: »So, when will we start? ’Cause I need to know at what day I have to be back in Los Angeles.«
Der Vorteil, mit dem ich mir die erste Enttäuschung schönrede, ist immerhin, dass ich nun weiterreisen kann.
»Let’s say February 1st.«
»Fixed?«
»Fixed.«
Darauf gibt’s die Hand. Na, immerhin. Hm, eigentlich – wenn ich es mir so recht überlege – finde ich es auch gar nicht so dramatisch, dass ich zum Weiterreisen gezwungen werde. Denn was gibt es denn Schöneres, als neue Orte und Menschen kennenzulernen und weitere Abenteuer zu erleben? Eben: nichts.
Wir ziehen weiter. Chris und Grace dinieren, während ich mir ein Bierchen gönne. Gegen halb sieben trennen sich unsere Wege wieder. Allerdings nur bis morgen: Da wird im Outback von Malibu gemeinsam mit Freunden der beiden gewandert.

Weiter geht’s auf Seite 3

Zurück im Hostel checkt Ford online, wie er zu einer Audition kommt, die morgen Mittag stattfindet. Er geht daher nicht mit Chris, Grace und mir hiken. Auch ich schaue noch einmal in mein Postfach und hoffe, dass uns ein Couchsurfer heute Nacht bei sich aufnimmt. Bingo! Rey in Downtown Los Angeles lädt uns zu sich nach Hause ein. Was für ein Glück. Ich schaue mir noch einmal sein Profil an. Dort empfiehlt er, dass man sich Marc Webbs Film »(500) Days of Summer« mit Zooey Deschanel und Joseph Gordon-Levitt anschauen sollte, um einen Eindruck von Los Angeles’ Downtown zu bekommen. Ich kenne und mag den Film bereits und nehme mir vor, mir auf jeden Fall die berühmte Parkbank anzuschauen. Als ich eine Google-Suche nach den Drehorten des Films durchführe, stoße ich bei movie-locations.com auf eine Karte, auf der sämtliche Orte des Films samt Erklärung markiert sind. Das ist cool.
Wir sollen um 21 Uhr bei Rey zu Hause aufschlagen. Im Moment sitzt er noch in einer Bar und schaut Football. Ja, die NFL bewegt sich langsam auf ihren Höhepunkt zu. Ford und ich verlassen viel zu spät das Hostel und informieren Rey, dass wir es wohl nicht pünktlich bis zu ihm schaffen werden. Das ist kein Problem, antwortet er. Rey scheint lässig zu sein.
Wir nehmen den Bus nach Downtown. Rey wohnt mitten in der City, in der West 7th Street. Wir sollen an die Haustür klopfen, uns vom Sicherheitsmann aufmachen lassen, uns als Gäste, die über Nacht bleiben eintragen und dann mit dem Aufzug in den 14. Stock fahren. Das klingt krass. Als wir vor der verschlossenen Haustür stehen, sehen wir, dass der Tisch des Securitymannes unbesetzt ist. Da macht wohl jemand eine Pinkelpause. Eine Bewohnerin des Hauses kommt, schließt sich und uns die Tür auf und verliert dabei ihr komplettes Kleingeld. Ford und ich helfen ihr beim Aufsammeln, wofür wir zur Belohnung einen Quarter behalten dürfen. Yeah.
Rey öffnet uns mit einem Grinsen die Wohnungstür. Sein Grinsen scheint eingemeißelt zu sein, denn er wird den Rest des Abends seine Wangenmuskulatur nicht mehr lockern. Rey ist voll okay und arbeitet … beim Film. Er ist assets manager im art department und arbeitet an einem Projekt, das ihm – da es mindestens zu einer Trilogie ausgeweitet wurde – für die nächsten Jahre einen sicheren Arbeitsplatz beschert.
»Yeah! Congratulations! What movie is it?«
»Avatar.«
Ford fällt in Ohnmacht und bei mir verkrampfen sich ebenfalls diverse Muskelstränge im Gesicht; primär jene, die für die Schließung des Mundes verantwortlich sind. Als Assets Manager – was auch immer das genau ist – scheint man nicht allzu schlecht zu verdienen. Reys Wohnung ist super und der Ausblick aus dem obersten Stockwerk des Hauses, mit Blick auf das 1930 im Art-déco-Stil erbaute, türkisfarbene Eastern Columbia Building, der absolute Burner.

Als Ford aus der stabilen Seitenlage wieder erwacht, erkundigt er sich, wie auch er bei »Avatar« einsteigen kann. Nicht mit Reys Hilfe, lautet die zu erwartende Antwort.
Rey zeigt uns sein Schaffen als Filmemacher. Auch wenn er in Hollywood beim Film arbeitet, macht es ihn nicht gleich zu einem großen Regisseur. Einer der beiden Kurzfilme, die er uns präsentiert, ist ja noch ganz ulkig, während der Zweite – ein Werbefilmchen – doch ziemlich doof ist.

Videos



Weiter geht’s auf Seite 4

Wir starten eine Tour durch die nächtliche Downtown, die laut Rey in den letzten Jahren erst wieder zur vollen Blüte gekommen ist. Rey wohnt im sogenannten Historic Core der Downtown.

<center>Los Angeles’ Downtown</center>
Vor dem Zweiten Weltkrieg war der Historic Core das Zentrum der Stadt, die 1781 von spanischen Missionaren und Siedlern gegründet wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg ersetzten die aus dem Boden gestampften Freeways und die Zunahme an Autos nach und nach das hervorragend ausgebaute Nahverkehrssystem, worauf übrigens auch in Robert Zemeckis’ »Falsches Spiel mit Roger Rabbit« angespielt wird. Ferner fand eine große Suburbanisierung statt und sämtliche Banken zogen einige Blocks weiter nach Westen, was die komplette Downtown zunehmend an Bedeutung verlieren ließ. Einst prächtige Häuser wurden abgerissen, um Raum für Parkplätze zu schaffen und die meisten Bewohner von L.A., die übrigens Angelenos genannt werden, kamen nur noch kurz nach Downtown getuckert, um ihre Erledigungen zu machen. In dieser Hinsicht ähnelt Los Angeles auch heute noch Frankfurt am Main: Es leben nur um die 40.000 Menschen in Downtown. Am Tage kommen allerdings über 200.000 Menschen zum Arbeiten ins Zentrum der Metropole. Doch zurück in die Vergangenheit: Der einstige Kern der Stadtmitte wurde in den 50er Jahren zum Zentrum lateinamerikanischen Entertainments. In den 60er Jahren verlor sich Downtown immer mehr im Rotlicht- und Drogensumpf, Häuser verwaisten. Die Filmpaläste, die zwischen 1911 und 1931 errichtet wurden, verkamen zu grindhouses, Billigkinos, in denen hauptsächlich Exploitationfilme und B-Movies gezeigt wurden. Die 70er und 80er brachten dem historischen Kern von Los Angeles keine Besserung: Streetgangs übernahmen mehr und mehr das Sagen und die Polizei verlor sich in der Relativierung des Problems. Erst Mitte der 90er Jahre schien sich die Stadt wieder für sein Zentrum zu interessieren und forciert seither das, was man auch als Gentrifizierung bezeichnen kann. Dass diese Adaptive Re-Use Ordinance, also die »adaptive Wiederverwendungsverordnung«, bei der beispielsweise aus einem alten Bankgebäude ein nobles Apartmenthaus wird, neben Vor- sicherlich auch erhebliche Nachteile für weniger betuchte Bevölkerungsschichten mit sich bringt, kann man sich denken. Von 2006 bis 2008, also innerhalb von nur zwei Jahren, konnte so die Population der Downtown um sage und schreibe ein Drittel erhöht werden. Um wie viel Prozent dabei wohl auch der Mietspiegel nach oben geschossen ist? Die Bevölkerung Downtowns setzt sich interessanterweise nahezu gleichmäßig aus den vier vorherrschenden Ethnien Amerikas zusammen: Weiße, Schwarze, Asiaten und Latinos.

Ford, Rey und ich spazieren über die Spring Street zur 5th Street und am Pershing Square vorbei in die Olive Street, wo uns Rey das prunkvolle Millennium Biltmore Hotel zeigt.

<center>Millennium Biltmore Hotel</center>
Die Glastür des 1923 eröffneten Hotels ist verriegelt, doch der Blick in die Lobby des seinerzeit größten Hotels, das es westlich von Chicago gab, ist beeindruckend: Links und rechts verlaufen Arkadengänge, in denen orientalische Glaslampen von der Decke hängen. Der helle Stein, aus dem die Wände und Bogen gemauert sind, wird von den Lampen und zusätzlichen Lichtern, die am hölzernen Fachwerk, das den runden Mittelteil des Raumes schiffsgleich ausbildet, in mystisch goldene Farben getaucht. Hüfthohe Raumtrenner aus Marmor sind mit edlen Vasen geschmückt. Einen Brunnen gibt es auch und am Ende der Halle führen links und rechts Treppen mit einem kunstvoll verzierten Geländer hinauf zu einem Portal, das man ob seines Prunks schon gar nicht mehr als Tür bezeichnen kann. Würde vor dem mächtigen, majestätischen und mit Reliefs veredelten Goldrahmen ein Thron stehen und die Türöffnung mit rotem Samt verschlossen, könnte man den Raum problemlos und ohne große Änderungen direkt als Filmkulisse verwenden. Das Hotel war im Übrigen bereits Drehort für so manch einen Film. Ein paar Beispiele: In »Beverly Hills Cop« erschleicht sich Eddie Murphy ein Zimmer im Hotel, indem er sich für einen Reporter des Rolling Stone Magazine ausgibt und der Rezeptionistin eine Szene macht. Die Ghostbusters testen hier erstmals ihren nicht-lizenzierten Nuklearbeschleuniger und Tyler Durden alias Brad Pitt »würzt« bei einem Bankett die Hummercremesuppe: »He was the guerrilla terrorist of the food service industry. Apart from seasoning the lobster bisque«, er pinkelte hinein, »he farted on meringues, sneezed on braised endive, and as for the cream of mushroom soup, well… you get the idea.«

Videos



Wir gehen einmal um den Block in Richtung Grand Avenue. Vor uns ragt der 310 Meter hohe U.S. Bank Tower in die Höhe, das höchste Gebäude Kaliforniens und das zehnthöchste der gesamten USA.

<center>U.S. Bank Tower</center>
Bis 2004 war der erdbebensichere Wolkenkratzer das höchste Bauwerk mit einem Heliport auf dem Dach. Bei den meisten Angelenos ist der Turm als Library Tower bekannt, da er – nachdem die Central Library auf der anderen Straßenseite 1986 gleich zweimal abgebrannt ist – Teile der Bibliothek beherbergte. Erbaut wurde der prägnante, stufenförmige Turm mit der riesigen, bei Nacht beleuchteten Glaskrone von 1987 bis 1989. Seither diente er in vielen Filmen als establishing shot. So bezeichnet man Einstellungen, die dem Zuschauer sofort klarmachen sollen, wo man sich befindet. Der U.S. Bank Tower eignet sich aufgrund seiner Größe und besonderen Architektur optimal dafür. In »Independence Day« ist es zudem das Bauwerk, das von den Aliens als allererstes zerstört wird. Halleluja.

Video


Auf Aliens stoßen wir nicht, dafür aber vor dem zweiten Eingang des Millennium Biltmore Hotel in der Grand Avenue auf die High Society: Schick gekleidete Menschen tummeln sich im Eingangsbereich und dicke Autos fahren vor. Da scheint eine Party am Laufen zu sein! Rey, Ford und ich – nicht ganz so schick gekleidet – mischen uns unter die Bourgeoisie und schauen, was im Inneren des Hotels vor sich geht.
Es ist eine Privatparty. Niemand fragt uns nach einer Einladung und am Tresen sind, im ansonsten ziemlich überfüllten Raum, sogar noch drei Hocker frei. Ein DJ legt auf, ein MC rappt dazu und das kleine Bier kostet läppische 7,63 Dollar – inklusive tax, versteht sich. Ein molliges Mädel gräbt Ford an und ich habe offensichtlich die Aufmerksamkeit einer verheirateten Mittvierzigerin auf mich gezogen, die mir über die Schulter ihres Mannes laszive Blicke zuwirft. Miau! Rey umklammert derweil sein Bier und grinst fröhlich vor sich hin – wie immer also. Während Ford zugetextet wird, unterhalte ich mich mit Rey, vergewissere mich dabei aber auch immer wieder mit einer sexy Kopfdrehung und gekonntem Augenaufschlag, ob mir nicht gerade von der Seite eine Keycard zugeschoben wird … oder die Faust vom Ehemann angeflogen kommt.
Die schlauchförmige Hotelbar ist, wie auch schon die Halle auf der anderen Seite des Gebäudes, in ein fahles, goldenes Licht getaucht. Die Wände und die Decke sind edel mit Holz verkleidet. Zwei Kronleuchter hängen von der Decke und steinerne Säulen lockern hier und da die dunkle Holzwand auf. Aber selbst in solch einer noblen Bar können sie – sogar während einer Privatparty ¬– nicht auf ihren Flachbildfernseher verzichten. Nach nur einem Bier verlassen wir die Bar wieder. Ford und ich sind aber auch froh darüber. Noch ein 7,63-Dollar-Bier hätte ich mir nicht leisten wollen. Ford hat sowieso freiwillig verzichtet und für Rey scheint es kein Problem zu sein, für ein Bier in einer noblen Bar auch mal tiefer in die Tasche zu greifen. Vielleicht dachte er aber auch dasselbe wie ich und wollte nur nicht als Knauser dastehen. Schwer zu sagen … er grinst ja ständig.

Wir betreten den pompösen, langen und breiten Korridor des Hotels. Die Wände bestehen wie in der Bar aus Holzplatten und detailreichen Steinsäulen. Die Decke hingegen ähnelt mehr einer Kirche. Sie hat zwar dieselbe Musterung, ist jedoch bunter und mit Gemälden und Gold ausgeschmückt. Der Boden ist aus Marmor und alle 20 Meter mit schweren Perserteppichen ausgelegt. Rey zeigt uns den »Historic Corridor«, der vom großen Korridor abzweigt. Das Biltmore hat die eine oder andere Geschichte vorzuweisen: 1960 richtete JFK das Hauptquartier für seinen Präsidentschaftswahlkampf im Biltmore ein und vier Jahre später mussten die Beatles wegen der massenhaften Fans auf der Straße mit dem Helikopter auf dem Dach landen, um in die angemietete Präsidentensuite zu gelangen.
»The Biltmore«, erklärt uns Rey weiter, »also hosted the Academy Awards in its earliest time.«
Ja, an wie vielen anderen Orten wurde der Oscar denn noch verliehen?
Die Academy wurde 1927 gar im »Crystal Ballroom« des Hotels gegründet. Angeblich wurde bei jenem Bankett sogar der erste Entwurf des Goldjungen vom späteren Oscar-Designer Cedric Gibbons auf eine Serviette gebracht. Erstmals 1931 und insgesamt acht Mal wurde die wichtigste Trophäe der Filmgeschichte im Biltmore verliehen. Und daran erinnert der »Historic Corridor«: An den Wänden hängen große Panoramafotos der Veranstaltungen mit teilweise urkomischen Personen und Gesichtsausdrücken. Einer schaut böse in die Kamera, Martha Raye und Lily Pons schneiden Grimassen, wieder andere schauen in die falsche Richtung und Henry Fondas Frau blickt einfach nur erschrocken drein. Insgesamt kann man sich lebhaft vorstellen, wie die Herrschaften aufgefordert wurden, ihren Blick für das Gruppenfoto zur Kamera zu richten. Rey, Ford und ich erforschen jedes einzelne der Bilder, versuchen Persönlichkeiten selbst zu erkennen oder nehmen die Sitzpläne zur Zuordnung, die praktischerweise neben den Fotos angebracht sind.

Weiter geht’s auf Seite 5

Nachdem wir das Biltmore verlassen haben, will uns Rey die rooftop bar auf dem 90 Jahre alten und sehr hübsch anzusehenden Pershing Square Building zeigen. Vor dem Gebäude in der Hill Street werden wir vom Türsteher kontrolliert und zum Aufzug geschickt. Mit diesem geht es in den obersten Stock, wo wir in den nächsten Lift umsteigen müssen, um ganz nach oben zu gelangen. Verrückt. Glücklicherweise werden wir nicht zum nächsten überteuerten Drink verführt. Rey will uns lediglich die abermals fantastische Aussicht über die Downtown mit ihren eindrucksvollen Hochhäusern zeigen. Stolz zeigt er uns auch, dass man die Ecke seines Balkons von der Bar aus sehen kann. Yeah, Baby!

Der Rückweg führt uns über den Broadway, vorbei am Los Angeles Theatre.

<center>Los Angeles Theatre</center>
Das Innere, des von außen bereits imposant im französischen Barock gestalteten Kinos, soll der Wahnsinn sein. Als Inspirationsquelle soll der Spiegelsaal von Versailles gedient haben. Charlie Chaplin half 1930 den Bau mitzufinanzieren, um das Kino rechtzeitig zur Premiere von »Lichter der Großstadt« eröffnen zu können. Es war der letzte große Filmpalast, der auf dem Broadway errichtet wurde, da sich die Depression breitmachte und der Hollywood Boulevard zu einer zu großen Konkurrenz wurde.

»Welcome Figaro Bistro«, steht auf der Ankündigungstafel des Kinos. Da ich dies bereits mehrfach auf dem Broadway gelesen habe, frage ich Rey, ob es sich bei »Welcome Figaro Bistro« um den neuen Film-, Musical- oder Theaterhit handelt.
»No«, antwortet Rey, »it’s a bistro that just opened in the neighborhood.«
Sagenhaft. Da öffnet ein neuer Laden seine Pforten und die komplette Straße heißt ihn willkommen. This is America.

2013 01 13 01.33.10

Wir trinken noch einen Absacker in Reys Nachbarhauskneipe, bevor wir im Flur auf Hal treffen. Hal ist Reys Nachbar und Fotograf. Er lässt sich überreden, mit uns noch eine Flasche Wein in Reys Apartment zu köpfen. Rey und Hal sind neugierig und wollen meinen Film sehen. Ich drifte bereits langsam aber sicher ins Land der Träume ab, bekomme aber noch mit, dass es nicht funktioniert, »Erinnerungen« vom USB-Stick zu gucken. Ob ich es noch schaffe, den Film anders zum Laufen zu bringen, weiß ich tatsächlich nicht mehr. Die obdachlosen Nächte von Hollywood stecken mir immer noch in den Knochen. Und zwar so was von …

Quellen
Informationen zu Venice, Abbot Kinney, der Downtown von Los Angeles, dem U.S. Bank Tower und dem Biltmore Hotel: Wikipedia
»(500) Days of Summer«-Karte: movie-locations.com
Informationen zu Filmdrehorten: IMDb und movie-locations.com
Informationen über das Pershing Square Building: 448hill.com
Das Zitat über Tyler Durden stammt aus dem grandiosen Film »Fight Club« (Regie: Davind Fincher; Drehbuch: Jim Uhls; Romanvorlage: Chuck Palahniuk).

Tag 63   Inhaltsverzeichnis   Tag 65

0 0 votes
Article Rating
Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest

0 Comments
Inline Feedbacks
Lies alle Kommentare
0
Would love your thoughts, please comment.x