Tag 65: Malibus Outback, Santa Monicas Pier und die Nacht von Glendale

Serendipity – Teil 2

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Sonntag, 13. Januar 2013
Los Angeles – Malibu – Santa Monica – Glendale

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Um acht Uhr klingelt der Wecker. Rey konnte uns keine Decken geben, weswegen Ford mir wieder einmal unsere »Obdachlosendecke« ĂŒberlassen hat. Ich mache ein paar Fotos von Reys Balkon, um die beeindruckende Aussicht auch bei Tage festzuhalten, decke danach den noch tief schlafenden Ford zu und schleiche mich aus der Wohnung.

Mit dem Bus 733 geht’s zur Haltestelle an der Ecke Venice Boulevard und Cadillac Avenue. Meine TAP Card kann ich auch im Bus aufladen. Mittlerweile habe ich auch kapiert, dass ich fĂŒr fĂŒnf Dollar die Karte zu einer Tageskarte auffĂŒllen kann. Wenn man sich eine neue TAP Card kauft, muss man allerdings einen zusĂ€tzlichen Dollar fĂŒr die Plastikkarte investieren. Der zweite Bus lĂ€sst lange auf sich warten. Die Linie 534 bringt mich auf den Pacific Coast Highway nach Malibu. Der PCH, wie er auch abgekĂŒrzt genannt wird, ist ĂŒbrigens der Highway 1. Die gut 50 Kilometer lange Strecke nach Malibu kostet mich insgesamt knapp zwei Stunden. Als ich an der Ecke Pacific Coast Highway und Paradise Cove aussteige und in Fahrtrichtung weiterlaufe, bremst der Busfahrer noch einmal ab und ruft mir zu: »Where do you wanna go?«
»Winding Way.«
»Where’s that?«
Das ist eine gute Frage: »I guess in that direction.«
»Jump back in, I bring you there.«
Ich bin ein weiteres Mal begeistert vom Service und der Freundlichkeit amerikanischer Busfahrer. Weder der Fahrer noch ich wissen aber, wo genau der Winding Way ĂŒberhaupt ist. Also bitte ich den Driver, mich doch besser wieder aussteigen zu lassen und zu Fuß weiterzusuchen. Vielleicht kommt mir ja auch mal jemand entgegen, den ich nach dem Weg fragen kann â€“ schließlich befinde ich mich eigentlich momentan in einer Kleinstadt.

Malibu â€Š eine eher untypische Ortschaft
Etwas mehr als 12.000 Einwohner leben auf ĂŒber 50 kmÂČ Land, das sich in einem ĂŒber 30 Kilometer langen, aber an seiner breitesten Stelle nur knapp vier Kilometer schmalen Streifen zwischen der PazifikkĂŒste und den Santa Monica Mountains von Ost nach West zieht. Ja, die Bergkette befindet sich im Norden, nicht im Osten und den Ozean haben die Bewohner Malibus im SĂŒden und nicht im Westen vor der HaustĂŒr. Das liegt daran, dass Malibu am Nordrand der Santa Monica Bay liegt. Da sich die Grenzen Malibus, das 1991 eine von Los Angeles unabhĂ€ngige Stadt wurde, zusĂ€tzlich noch fast fĂŒnf Kilometer in den Pazifik erstrecken, kommt die Gemeinde offiziell auf eine GesamtflĂ€che von rund 260 kmÂČ und wĂ€re somit flĂ€chenmĂ€ĂŸig mit Bielefeld zu vergleichen â€“ falls es diese Stadt ĂŒberhaupt gibt. Einen Ortskern scheint Malibu nicht zu haben. Der PCH ist die zentrale »Dorfstraße«. Die Villen befinden sich an der KĂŒste oder sitzen in großen AbstĂ€nden zueinander auf der Bergkette, die sich ĂŒber insgesamt 64 Kilometer bis nach Hollywood zieht und zu der auch der Mount Lee mit dem Hollywood Sign gehört. Bevor die Spanier und spĂ€ter die Reichen und sicherlich auch ein paar Schöne mit der Besiedlung Malibus begannen, lebten im kĂŒstennahen SĂŒden und Zentrum Kaliforniens ĂŒber Jahrtausende hinweg die Chumash.

Die Chumash
Die Chumash machten sich nichts aus Ackerbau, sondern lebten als JĂ€ger, Fischer und Sammler in Dörfern, die bis zu 1000 Einwohner haben konnten. Wie immer in der traurigen Geschichte der Entdeckung Amerikas durch die Alte Welt verloren die Chumash mit den Neuankömmlingen nicht nur ihre Heimat. Die Spanier hatten, als sie ĂŒber 200 Jahre nach der Entdeckung und Beanspruchung Kaliforniens mit der Eroberung begannen, Krankheiten und das Christentum im GepĂ€ck, was die Population der Chumash, die 1824 revoltierten, um 1900 auf erschreckende 200 Menschen reduzierte. In ihrer BlĂŒtezeit schĂ€tzte man die Zahl der Stammesangehörigen auf bis zu 18.000. In den 1960er Jahren starb letzten Endes sogar die einzig noch verbliebene Sprache der Chumash aus. Solch eine Geschichte haben auch viele andere indigene Völker wie beispielsweise die Tongva vorzuweisen, deren Heimat unter anderem das heutige Santa Monica und Los Angeles war.

Ich erreiche das Point Dume Village, das eine besondere Spezies Mensch mit einem Warnhinweis auf sehr interessante Weise willkommen heißt: »Warning to Paparazzi!«, steht auf dem Schild. Das Betreten des GrundstĂŒcks, mit der Absicht Menschen ohne deren Erlaubnis zu fotografieren, ist verboten und wird nach dem California Anti-Paparazzi Act gnadenlos bestraft. Ich schiebe mir meine Kameratasche sicherheitshalber mal auf den RĂŒcken.

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SpĂ€testens hier im Point Dume Village, einer kleinen Ansammlung diverser LĂ€den und Restaurants, bin ich mir sicher, dass ich am Winding Way bereits vorbeigekommen sein muss. Verdammt: Chris, Grace und deren Freunde wollen mich in wenigen Minuten dort treffen. Ich frĂŒhstĂŒcke schnell ein Sandwich und frage einen Polizisten, wo sich der Winding Way den HĂŒgel hinaufwindet.
»No idea«, desillusioniert mich der GesetzeshĂŒter. Das gibt’s doch nicht. Ich frage zwei in der Sonne Sitzende, ob sie eine Ahnung haben, wo der Weg sein könnte.
»I do«, ĂŒberrascht mich der mehr nach Tourist aussehende Mann.
»Cool! Where is it?«
Die Straße befindet sich natĂŒrlich in der Richtung, aus der ich gerade gekommen bin. In meinem Kopf höre ich Cari, wie sie mich in Portland auslacht: Mit dem Smartphone wĂ€re das nicht passiert. DafĂŒr erlebe ich ohne die technische Hilfe wieder einmal amerikanische Freundlichkeit. Der mit der Umgebung vertraute Brandon schlĂ€gt mir und seiner Freundin vor, mich dorthin zu fahren. Ich habe hierfĂŒr weder meinen bestmöglichen Hundeblick aufgelegt noch gefragt. So sind sie eben an der WestkĂŒste. Kaum sitzen wir im Auto erzĂ€hlt mir Brandon stolz, dass Freundin Sara SĂ€ngerin ist. Sara rollt mit den Augen, wĂ€hrend er versucht, an sein iPad zu gelangen.
»What do you want?«, fragt ihn Sara.
»I’ll show him â€șMissing Youâ€č.«
»Oh, come on.«
Brandon besteht darauf und auch ich werde neugierig. Also lenkt Sara ein und schaltet mir ihr neuestes Video ein. Es ist ihr unsagbar peinlich, betont sie und merkt an, dass der Clip auch nicht so wirklich geil ist.
»Yes, yes«, nicken Brandon und ich, wĂ€hrend ich Sara das iPad aus der Hand nehme. Kurze Zeit spĂ€ter kann ich Sara beruhigen: Das Video ist nicht peinlich und ihre Musik schon gar nicht. Der einfĂŒhlsame Song ist catchy und sehr professionell arrangiert. Außerdem hat sie eine wirklich schöne Stimme.
»So, what’s your name?«, möchte ich wissen.
»That’s Sara Johnston from Montreal, Canada!«, ĂŒbernimmt der stolze Brandon die Antwort.
»Good to know«, bedanke ich mich, als wir auf den Parkplatz abbiegen, auf dem ich mit Chris & Co. verabredet bin. Und jetzt wird’s lustig: NatĂŒrlich recherchiere ich spĂ€ter ein wenig und sitze mal wieder mit offener Kinnlade da. Sara Johnston war vor ihrer Solokarriere Mitglied bei Bran Van 3000! Ich kann mir schon vorstellen, dass jetzt dem einen oder anderen Leser eine Augenbraue die Stirn entlang nach oben wandert, verbunden mit einem: »Aha?«
Banausen! Bran Van 3000 ist Ende der 90er mit »Glee« ein ziemlich famoses Album gelungen, auf dem sie Alternative Rock mit Electronica, Hip-Hop und Pop mischen. Lustigerweise heißt einer der Songs der Platte »Couch Surfer« und handelt von einem Schmarotzer, der jemandes Sofa bezieht, nicht mehr abhaut und sich Bezahlsender reinzieht. Der grĂ¶ĂŸte Hit des Kollektivs dĂŒrfte allerdings »Drinking in L.A.« gewesen sein.

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Sara Johnston

Bran Van 3000

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Ford, dessen Handy nicht mehr aufgetaucht ist, textet mir mit Reys Telefon und beschwert sich: Ich hĂ€tte ihn aufwecken und mitnehmen sollen. HĂ€? Letzte Nacht hat er doch noch ĂŒberprĂŒft, wie er um zwölf Uhr mittags mit dem Bus zu seiner Audition kommt. Ich verstehe nur Bahnhof, schreibe ihm aber, dass es keinen Sinn mehr ergibt, nachzukommen, weil die Fahrt nach Malibu so lange dauert. Aber was ist denn da los? FĂ€llt das Casting aus? Sehr seltsam. Kaum habe ich die SMS abgeschickt, meldet sich auch Chris zu Wort: Sie kommen mal wieder spĂ€ter als angekĂŒndigt zum Treffpunkt. Da aber auch ich bereits die abgemachte Uhrzeit nicht einhalten konnte, passt die halbstĂŒndige VerspĂ€tung optimal.
Chris und Grace haben Ashley und Kristin im Schlepptau, zwei Freundinnen von Grace. Nachdem die erstaunlich sportlich gekleideten Damen und Sonnenbrillen-Chris ihre GetrĂ€nke aus dem Auto geholt und meine Jacke hineingelegt haben, geht’s den ersten Anstieg hinauf in Richtung Winding Way Trail. Der Wander- und Pferdeweg, der in den anvisierten Escondido Canyon Park fĂŒhrt, beginnt erst nach einigen Hundert Metern. Bis wir den Pfad erreichen, spazieren wir an prunkvollen Villen vorbei. ArkadengĂ€nge, riesige GĂ€rten mit Palmen, Swimmingpools und Steinöfen. Wer weiß, an wessen HĂ€uschen wir hier vorbeigehen. Die Sonne strahlt, die HĂ€nge sind grĂŒn und der Blick auf den Ozean einfach nur wunderschön. Die Insel, die wir in weiter Entfernung ausmachen können, mĂŒsste Santa Catalina Island sein.

Chris und ich reden natĂŒrlich ĂŒber unser angestrebtes Projekt, wĂ€hrend wir ĂŒber Steine und Äste BĂ€che ĂŒberqueren und der Pfad waldiger und steiler wird. An einer Stelle hat man sogar ein Seil zwischen zwei BĂ€ume gespannt, damit man sich daran den steilen und rutschigen Hang nach oben hangeln kann. Chris, der heute mit einem neuen Batikhemd daherkommt, offenbart spĂ€testens bei dieser Aktion, dass Grace der sportlichere Teil des Paares ist. Je lĂ€nger wir uns an Wurzeln und Steinen die HĂ€nge hinaufziehen, desto weniger ambitioniert scheint Chris zu sein, mithalten zu wollen. Wir befinden uns nun im dicht bewaldeten Canyon. Vom Meer sieht man nichts mehr und auch von den Villen, die vereinzelt auf den HĂŒgeln auszumachen waren, ist nichts mehr zu sehen. Kakteen wachsen am Wegesrand und mir kommt es vor, als wĂŒrden nach und nach immer mehr Brauntöne das GrĂŒn ablösen. Diese Gegend ist nicht nur wegen der hohen Anzahl prominenter Bewohner und »Baywatch« weltberĂŒhmt, sondern auch wegen der regelmĂ€ĂŸig herrschenden WaldbrĂ€nde. Rauchen ist auf dem Trail beispielsweise strengstens untersagt.

Wir erreichen einen Wasserfall, fĂŒr dessen Beschreibung mir derzeit der Begriff Rinnsal passender erscheint. Wir klettern ĂŒber weitere Felsbrocken immer weiter nach oben und kommen kurz darauf an einen zweiten Wasserfall. Hier fließt zwar ein bisschen mehr die Wand hinunter, als bedrohlich imposante Naturgewalt wĂŒrde ich es dennoch nicht bezeichnen. Vielmehr als der Wassersturz sieht die bewachsene Wand toll aus, an der das Wasser langsam durch grĂŒne Algen fließt, anstatt wild tosend die gut und gerne 50 Meter hinabzustĂŒrzen. Es wird noch nicht einmal Gischt aufgewirbelt, sobald das Wasser den Teich am Boden erreicht. Das Ganze sieht so entspannend aus, dass man schon fast eine Dusche nehmen möchte.
Wir sind nicht die einzigen Wanderer. Auf dem Pfad ist sogar erstaunlich viel los. Das große GedrĂ€nge bleibt aber erfreulicherweise aus.

Kristin will die Wand zum Wasserfall hinaufklettern und fragt in die Runde, wer mitkommen möchte.
»We can try«, sagt Grace, wÀhrend Ashley und ich nicken und Chris aufstöhnt.
Wir schauen uns die Wand genauer an. Sie ist steil, aber nicht senkrecht. Hier und da wird wohl auch ein klein wenig Freeclimbing notwendig sein. Die MĂ€dels preschen voraus, dann komme ich und zuletzt Chris, der recht dankbar dafĂŒr zu sein scheint, dass ich ab und an haltmache, um Fotos zu schießen. Nach einigen Metern haben wir Ashley, Kristin und Grace wieder eingeholt. Ashley und Grace beratschlagen, ob sie das Klettern abbrechen sollen. Chris nimmt die Diskussion freudig auf und ĂŒberzeugt die beiden, es tatsĂ€chlich bleiben zu lassen. Kristin und ich schauen uns an: »We go on?«, frage ich.
»Yeah!«, freut sich Kristin und klettert voraus.

Die Wand wird fortan steiler und ein Abrutschen hĂ€tte unschöne Folgen, da die pfadĂ€hnliche Fuge, durch die wir uns kĂ€mpfen, aus einem sandigen und somit rutschigen Untergrund besteht und es zudem kaum etwas gibt, woran man sich festhalten könnte, sollte man erst einmal ins Fallen geraten. Wirklich gefĂ€hrlich kommt mir der Aufstieg dennoch nicht vor. Noch kann man mit vorgebeugtem Oberkörper nahezu auf allen vieren klettern. Wir holen ein PĂ€rchen ein, das vor einem Felsspalt steht und ziemlich amĂŒsant rĂ€tselt, wie man sich durch diesen nach oben windet. Der Spalt ist wie eine kleine Höhle, die nach zwei, drei Metern endet und in einen Kamin ĂŒbergeht. Nach kurzer Beratschlagung steht fest, dass wir die gute alte TĂŒrrahmenklettertaktik anwenden mĂŒssen: Entweder mit einem Bein links und einem rechts oder mit dem RĂŒcken auf der einen und den FĂŒĂŸen auf der anderen Seite, mĂŒssen wir uns in den Spalt klemmen und langsam nach oben drĂŒcken. Auch diese Übung haben wir schnell gemeistert. Wenige Meter spĂ€ter haben wir die Wand erklommen und lassen uns von den drei Weicheiern unten feiern. Mit unseren neu gemachten Bekanntschaften wandern wir den Bachlauf entlang und schauen, wie nahe wir an den Wasserfall gehen können und wohin der Weg sonst noch fĂŒhrt. Auf der uns gegenĂŒberliegenden Wand sehen wir andere Kletterer. Deren Route sieht schon etwas anspruchsvoller aus. Dementsprechend vorsichtig und angespannt versuchen sie auch wieder nach unten zu kommen. Wir enden derweil in einer Sackgasse und sind doch etwas enttĂ€uscht. Eigentlich wollten wir um den HĂŒgel herum und auf der besagten Wand gegenĂŒber wieder zu unseren Leuten stoßen. So mĂŒssen wir aber den RĂŒckzug ĂŒber die altbekannte Strecke antreten und den Kamin wieder hinabklettern. Das bereitet dem neu kennengelernten MĂ€del leichte Schwierigkeiten. Sie steht als Erste im Kamin und weiß nicht, wie sie hinunterkommen soll. Ihr Freund, der sich als Letztes eingereiht hat, gibt schlaue Anweisungen, die sie als Klugscheißerei abtut und es irgendwann einfach so macht, wie sie es fĂŒr richtig hĂ€lt. Sie bricht sich nichts.

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Wieder bei den Autos bieten mir Chris und Grace an, mich nach Santa Monica zu bringen. Ich nehme das Angebot â€“ nach dem ich genau genommen gefragt habe, als sie mich bereits auf dem PCH verabschieden wollten â€“ dankend an und staune auf unserer Fahrt aufs Neue ĂŒber die verschiedenen Villen auf den HĂŒgeln und den Blick ĂŒber den Ozean. Chris und Grace machen möglichst wöchentlich AusflĂŒge wie diesen. WĂŒrde ich in solch einer Landschaft leben, denke ich mir, wĂŒrde ich mich auch wesentlich hĂ€ufiger bewegen. Oh, California â€Š
Im Canyon hatte ich keinen Empfang. Nun kann ich Rey wieder schreiben und frage, ob er etwas von Ford gehört hat und wie dessen Audition lief â€“ sofern sie denn stattfand. Ich gebe außerdem die Info weiter, dass ich in Santa Monica den Pier und den Strip auf und ab laufen werde.
Chris und Grace lassen mich in der 4th Street raus. Wir verabschieden uns kurz bis in knapp drei Wochen und schon dĂŒsen sie davon. Über den Santa Monica Boulevard laufe ich in die 3rd Street Promenade, eine sich ĂŒber drei Blocks ziehende, reine FußgĂ€ngerzone, was mir bislang in den Staaten noch nicht untergekommen ist. Santa Monica ist touristisch. Klar, denn die Stadt liegt direkt am Meer, hat Los Angeles im RĂŒcken, den Pazifik vor sich und zudem noch eine FußgĂ€ngerzone sowie den weltberĂŒhmten Santa Monica Pier. Nun, die FußgĂ€ngerzone ist eine FußgĂ€ngerzone ohne besondere Höhepunkte, deren Ende der Santa Monica Place bildet. Hierbei handelt es sich um ein Einkaufszentrum mit einem runden Innenhof, das von Frank Gehry entworfen wurde, dem Schöpfer des EMP in Seattle. Ich stehe generell nicht sonderlich auf Konsumtempel â€“ auch wenn in diesem hier eine Szene fĂŒr »Terminator 2: Judgment Day« gedreht wurde. Daher sage ich: »Hasta la vista, baby«, und steuere nun den Pier an.

Neben einem gewissen Höhenunterschied wird die 90.000-Einwohnerstadt auch von einem GrĂŒnstreifen vom PCH getrennt, der â€“ seinem Namen gerecht werdend â€“ auch hier direkt am Meer entlangfĂŒhrt. Ein schwarzer Obdachloser sitzt auf der Wiese und singt fröhlich »Old MacDonald Had a Farm« vor sich hin. Ich finde das ziemlich ulkig und lĂ€chle den Mann an. Das freut ihn wiederum, weshalb er mir zuruft, dass er mir einen Witz erzĂ€hlen möchte. Einen Witz von einem Obdachlosen sollte man nicht ausschlagen. Schon gar nicht, wenn sie einem kostenlos angeboten werden. Blöderweise verstehe ich den Witz nicht, lache aber trotzdem. Das ĂŒberzeugt den Mann aber offensichtlich nicht, weswegen er mir noch eine Zugabe gibt: »When you’re at home and you feel that you’re about to die. In what room do you go?«
Hm â€Š keine Ahnung.
»The living room! Hahaha!«
Der ist so schlecht, dass er schon wieder gut ist. Auch ich komme nun in Fahrt. Ein kleiner Witzebattle beginnt. Ich beginne mit Mr. Fox’ Witz von den Cordhosenhippies: »Why do Hippies love corduroy?«
Er ĂŒberlegt, aber er kommt nicht drauf.
»Because it’s groovy, baby!«, antworte ich und mache mit einer Hand eine wellige Bewegung.
Er lacht laut auf. Den findet er also schon mal gut. Es folgt die Vogelscheuche, doch den kennt er bereits. Er scheint mich zu mögen, denn er bietet mir den Platz neben sich auf der Wiese und von seinem Essen an. Das ist rĂŒhrend. Dennoch lehne ich dankend ab, da ich mir Santa Monica anschauen möchte, bevor die Sonne untergeht. Und so wie mein Aufenthalt im Los Angeles County bisher abgelaufen ist â€“ vollkommen chaotisch und planlos â€“, fĂŒrchte ich, dass dies mein einziger Nachmittag und Abend in Santa Monica sein könnte. Ich schlendere also weiter zum Pier und passiere einen weiteren Obdachlosen, der »Jingle Bells« singt. Na, die sind ja lustig drauf hier.
Nicht zuletzt aufgrund des kleinen Erlebnisparks, der sich auf dem Pier befindet, hat sicherlich jeder irgendwo schon einmal Santa Monicas Wahrzeichen gesehen. Iron Man flog ĂŒber den Pier, Roland Emmerich ließ ihn im schwachen »2012« versinken und als sich Forrest Gump aufmachte und ziellos durch die USA joggte, dabei die Slogans: »Shit happens!«, und: »Have a nice day!«, samt Smiley erfand, landete er auch auf dem mĂ€chtigen Steg. Heute erinnert an die Szene ein Restaurant der Bubba Gump Shrimp Company, der weltweit wohl ersten Restaurantkette, die durch einen Film inspiriert wurde.

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Was ich bislang noch nicht wusste, ist, dass der 1909 eröffnete Santa Monica Pier auch das Ende der legendĂ€ren Route 66 darstellt. Folglich kann man neben allerlei Imbissen und Restaurants auch SouvenirlĂ€den mit Merchandising der »Main Street of America« finden. Das Highlight ist aber mit Sicherheit der kleine Pacific Park. In Santa Cruz empfand ich bereits die Lage des Boardwalks als Ă€ußerst spektakulĂ€r. Aber wie oft sieht man schon eine Achterbahn und ein Riesenrad auf einem Holzsteg?

Neben dem Riesenrad, der Achterbahn und den ĂŒblichen Wurfspielen gibt es auch noch eine Trapezschule auf der kostenlos zugĂ€nglichen AmĂŒsiermeile. Meine persönliche Lieblingsattraktion ist eine, die zwar fĂŒr Kinder eingerichtet wurde, jedoch auch Erwachsene köstlich amĂŒsieren kann: Als ich an dem gut sechs Meter hohen TĂŒrmchen vorbeikomme, sind fĂŒnf der sieben PlĂ€tze von Kindern zwischen fĂŒnf und zehn Jahren belegt. Sie sitzen nebeneinander auf Sitzen, die wie bunte Frösche designt sind. Die Leiste, auf der sie ein wenig wie die HĂŒhner auf der Stange sitzen, fĂ€hrt in moderatem Tempo das TĂŒrmchen hoch und lĂ€sst die tollkĂŒhnen Mitreisenden immer mal wieder ein wenig nach unten plumpsen. Die Kinder krallen sich dabei Ă€ußerst niedlich an ihren SicherheitsbĂŒgeln fest, schreien und schauen gespannt nach oben, wenn die Maschine wieder einmal ihre Sitze nach oben fahren lĂ€sst. Hin und wieder wagen manche der Kinder es sogar, ihre Arme in die Luft zu recken â€Š und ich könnte mich ĂŒber die GesichtsausdrĂŒcke der niedlichen Kinder totlachen.

Vor dem Pacific Park versucht ein StraßenkĂŒnstler an Geld zu kommen. Er verliert dabei sein Ziel so wenig aus den Augen, dass er den Weg dorthin aber zu vergessen scheint. Ich glaube zumindest, dass er eigentlich mit Musik die große Kohle scheffeln will. Der Mann trĂ€gt eine hellblaue Jogginghose, dazu ein dunkelblaues Sakko, ein rotes Hemd, eine Sonnenbrille und einen »Stars and Stripes«-Zylinder. Die Passanten sind aber aufgrund seines bescheuerten Outfits primĂ€r an Fotos interessiert, was wohl auch unser KĂŒnstler bereits mitbekommen hat. Aus diesem Grund meckert er mehr ĂŒber die Leute, die ihn fotografieren, ohne dafĂŒr zu zahlen, als dass er musiziert: »So, what do you want? You want my Denzel Washington side? My Brad Pitt side? Or do you want my back side?«
Daraufhin dreht er sich um und streckt dem Publikum seinen nicht entblĂ¶ĂŸten Hintern entgegen: »Pictures are one dollar! One dollar!«
Vielleicht sollte er einfach mal singen â€Š
Am Ende des Piers sind die Angler. Das sieht man bereits von Weitem, da dort die Möwen nur knapp ĂŒber dem Pier kreisen. Ich genieße kurz die Aussicht am Ende des Stegs und gehe wieder zurĂŒck an dessen Anfang. Hier steht seit 1922 ein Karussell mit 44 handgeschnitzten Pferden, das Millionen von Menschen in George Roy Hills filmischem Meisterwerk »The Sting« mit Robert Redford und Paul Newman bewundern durften.

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Links und rechts des Piers erstreckt sich ein ewig langer, weißer Sandstrand. Die Sonne geht langsam unter. Also gehe ich runter an den Strand und genieße, mit dem Pier als Kulisse, einen absolut grandiosen Sonnenuntergang. Ich komme bei diesem epischen Anblick in den totalen Fotografierausch und knipse und knipse und knipse â€Š Eine Frau sitzt zwischen den muschelbewachsenen TrĂ€gern des Piers in der Hocke und lĂ€sst sich ebenfalls von den Farben des Himmels berauschen. Es sieht schön aus, wie sie da sitzt. Also mache ich sie kurzerhand zu meinem Modell.

Als die Sonne untergegangen ist, drehe ich mich um und wandle selig zurĂŒck in die Stadt. Erst jetzt bemerke ich, dass unglaublich viele andere Menschen exakt das Gleiche getan haben wie ich. Der Strand muss erstaunlich voll gewesen sein. Dutzende von kleinen Gruppen und hauptsĂ€chlich PĂ€rchen verlassen mit bedĂ€chtigen Schritten den Strand und drehen sich immer mal wieder in Richtung Ozean, als warteten sie darauf, dass die Sonne noch einmal kurz auftaucht und eine Zugabe gibt. Was fĂŒr ein Sonnenuntergang!
Ich möchte jemandem von diesem ĂŒberwĂ€ltigenden Anblick erzĂ€hlen und rufe Cari an. Sie beneidet mich zu Recht und sagt, ich solle mich nicht zu sehr in Amerika verlieben. Was die WestkĂŒste angeht, kommt dieser seltsame Rat allerdings schon zu spĂ€t. Ein Junge kommt mit seinem Hund an mir vorbei. Ich weiß auch nicht, was mich reitet, aber ich rufe ihm hinterher: »I like your dog!«
Cari lacht auf: »And do not become an American! What was that?«
Ich bin selbst noch leicht irritiert. Dieses: »I like your was auch immer«, ist so amerikanisch. Ich sammle auf diese Weise auch bereits Komplimente fĂŒr meinen Bart. Ich denke, ich mag diese Art des Komplimente Verteilens einfach. Ist doch super: Man lĂ€uft die Straße entlang, denkt vielleicht, dass man eine ziemliche Lusche ist und plötzlich teilt einem ein wildfremder Mensch mit, dass man etwas trĂ€gt oder macht, was schön ist. Ist das nach europĂ€ischer Auffassung oberflĂ€chlich? Bullshit. Es ist cool.
Ich laufe den Broadway entlang und sehe im Vorbeilaufen im Fernseher einer Bar, wie ein Schauspieler eine Laudatio hĂ€lt. Werden heute etwa â€Š? Ich öffne die TĂŒr und frage den Kellner, ob gerade die Golden Globes verliehen werden.
»I think so«, ist er sich nicht ganz sicher.
Ich richte meinen Blick wieder auf den Bildschirm und sehe, wie Christoph Waltz die BĂŒhne betritt und eine goldene Weltkugel auf einem braunen Sockel in Empfang nimmt. Es sind die Golden Globes! Und der grandiose Christoph Waltz erhĂ€lt in diesem Moment bereits seinen zweiten fĂŒr seine Rolle als Kopfgeld jagender Zahnarzt Dr. King Schultz in Tarantinos »Django Unchained«. Ich juble kurz auf und frage, wo die Verleihung stattfindet: »No idea.«
Mein Abendessen gönne ich mir im Restaurant Thai Dishes auf dem Broadway. Ich esse eine Tom Kha Suppe, einen sehr guten Panang Curry und â€“ weil gerade Happy Hour ist â€“ eine Strawberry Margarita. An meinem Nachbartisch sitzt ein Brite mit zerzausten Haaren, der nach und nach, kontinuierlich ansteigend, auszurasten beginnt. Was ist denn mit dem los? Laut eigener Aussage wartet er seit 45 Minuten auf sein Essen. Er geht kurz aufs Klo, kommt zurĂŒck und stellt fest, dass sein Essen noch immer nicht da ist. Jetzt wartet er â€“ nach eigener lautstarker Aussage â€“ bereits seit einer geschlagenen Stunde! Skandal! Kaum sitzt er, kommt seine Bestellung endlich. Der Chefkellner versucht wĂ€hrend des Servierens zu erklĂ€ren, dass das Essen bereits vor drei Minuten serviert werden sollte, aber in der KĂŒche warmgehalten wurde, solange er auf dem Klo war. Das ist dem Briten nun peinlich, er entschuldigt sich herzlich und ich stelle ĂŒberrascht fest, dass er wohl doch kein Arsch ist. Das war eine aufrichtige, lange und öffentlich vorgetragene Entschuldigung. Gegen Ende seines Entschuldigungsmonologs vergisst er dennoch nicht zu betonen, dass er sehr lange warten musste. Eine Kellnerin kommt zu mir und fragt, ob alles gut ist. Anscheinend hat sie gesehen, mit welchem Interesse ich das Schauspiel am Nachbartisch verfolgt habe. Sie fragt auch den Struwwelpeter, der in genau diesem Moment anfangen will zu essen. Mit einem Male lĂ€sst er sein Besteck wieder fallen und lehnt sich vollkommen entnervt zurĂŒck: Die Frage bringt ihn auf die Palme. Schließlich musste er so lange warten und will jetzt in Ruhe essen. Also ist nichts okay! Nun rastet er endgĂŒltig aus und will auch nicht mehr essen, der kleine Trotzkopf. Die Kellnerin versucht ihn zu beruhigen. Es funktioniert nicht. Der Chefkellner denkt sich derweil, mit einem recht offensichtlichen Gesichtsausdruck: »Arschloch«, und serviert ab, wĂ€hrend der Irre noch immer das komplette Restaurant zusammenbrĂŒllt. Und zahlen will er auch nicht. Jetzt wird’s spannend, denke ich mir. Der Brite wird gleich seinen Tisch durch den Raum schleudern, wĂ€hrend aus der KĂŒche die Köche mit Messern bewaffnet das Restaurant stĂŒrmen und der Kellner zum Muay Thai Warrior mutiert. Der Brite â€“ nicht unvorbereitet â€“ wird seine abgesĂ€gte Schrotflinte aus seiner blauen Trainingstasche ziehen, die lĂ€ngst verdĂ€chtig nahe neben ihm auf der Sitzbank platziert wurde, und dann geht’s hier ab wie in Hollywood â€Š in Santa Monica. Ich werde Fotos machen, als plötzlich Spider-Man durchs Fenster geschwungen kommt. Der hatte aber mal wieder Stress in der Schule, stellt demotiviert seinen Rucksack ab und bestellt sich nur eine Strawberry Margarita. Es ist ja noch Happy Hour. Doch dann kommen Kick-Ass und Hit-Girl mit ihrem neuen Kumpel, dem Beer-Gutted Ape-Man, durch die TĂŒr â€“ und schon wird hier aufgerĂ€umt!
Zu meiner Überraschung kommt es anders: FĂŒr den Chefkellner ist es okay, dass der Unsympath nicht zahlen möchte. Er soll sich einfach nur verpissen. Das wird zwar nicht ausgesprochen, doch der Gesichtsausdruck des Obers spricht BĂ€nde. Der Brite droht noch hohl mit seinem Anwalt und der Kavallerie, was dem Kellner ein LĂ€cheln auf die Wangen zaubert. Er freut sich und nennt dem Schwachmaten seinen Namen, damit er ihn verklagen kann. Der nun leicht verstörte Vollpfosten entgegnet wenig kreativ, dass der Kellner von ihm hören wird und der Laden verdammt noch mal zugemacht gehört. Dann haut er endlich ab, verliert bei seiner Wutflucht aber irgendetwas und ist noch schön peinlich minutenlang vor der TĂŒr beim Suchen zu beobachten. Die eingeschĂŒchterte Kellnerin entschuldigt sich derweil bei mir, woraufhin ich ihr lĂ€chelnd entgegne: »It’s okay, he’s an idiot.«
Jetzt kann auch sie wieder lachen.
Mittlerweile habe ich von Rey erfahren, dass Ford den kompletten Tag ĂŒber bei ihm zu Hause war â€“ wĂ€hrend er arbeitete. Oje, Ford. Hoffentlich hast du ihn nicht zu sehr genervt. Wir besprechen, dass ich im Commons Ale House auf Ford warten werde. Unser GepĂ€ck dĂŒrfen wir noch eine weitere Nacht bei Rey verstauen. FĂŒr die anstehende benötigen wir jedoch eine neue Bleibe. Ich ahne bereits Schlimmes.
Nach meinem entspannten Abendessen gehe ich ins benachbarte Commons. Die Betreiber haben ein sehr ausgeklĂŒgeltes Werbeschild vor ihrer Bar platziert. Auf eine schwarze Tafel haben sie »Beer« geschrieben und daneben einen Pfeil gezeichnet, der auf die TĂŒr der Kneipe deutet. Wie soll man da widerstehen?

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Das Team hinterm Tresen, inklusive der Chefin, ist Ă€ußerst sympathisch.
»Do you know where they celebrate the Golden Globes tonight?«, möchte ich wissen.
»Is it tonight?«
Interessiert sich denn kein Mensch im Nachbarort der Filmwelthauptstadt fĂŒr die Globes?
»Yes and I wonder if there are any parties afterwards.«
»There surely are, but it’s not worth going there. You won’t be able to enter a party without an invitation. And if you make it, it’s expensive.«
Da hat sie wohl recht. Ein halber Liter des bislang besten Bieres Amerikas, dem Pabst Blue Ribbon, kostet im Commons Ale House dagegen nur drei Dollar. Also bleibe ich eben hier. Ich bin recht lange Zeit der einzige Gast im Ale House, bis ein Typ die Bar betritt, der die Jungs von »Jackass« kennt. Ach du Scheiße. Einer seiner Kumpels hat beim neuesten Stunt der gestörten Clique mitgemacht und sich dabei sĂ€mtliche Knochen im RĂŒckenbereich und die Rippen gebrochen. Auf dass ihn dieser Unfall wenigstens berĂŒhmt macht: Prost!
Das Tresenteam sammelt weitere Coolnesspunkte: Im Commons gibt es keine Jukebox, keine MP3-Playlist und auch keinen CD-Player. Nein, hier werden von der Chefin höchstselbst noch Schallplatten auf den Plattenteller gelegt. Das ist Style pur, was ich sie auch sofort wissen lasse. Sie nickt zufrieden und bestĂ€tigt, dass dies Ă€ußerst lĂ€ssig ist. Der schottischstĂ€mmige Barkeeper Colin hat Feierabend und feiert diesen an seinem Arbeitsplatz. Er setzt sich zu mir und spielt mit mir eine Runde Jenga. Da ich ihn besiege, erhalte ich die Ehre, eines der HolzstĂŒcke zu beschriften. Da muss natĂŒrlich etwas auf Deutsch verewigt werden, finde ich und setze den Stift zu einem Exkurs deutscher Philosophie an: »Wenn der Hahn krĂ€ht auf dem Mist, Ă€ndert sich’s Wetter oder es bleibt, wie’s ist.«
Famos.

Hinter uns gibt sich eine Runde wildgewordener Australierinnen die Kante. Was am Anfang noch ganz ulkig anzusehen ist, wird mit der Zeit zu einer ziemlich nervigen Belastungsprobe fĂŒrs Trommelfell. Hinter dem Tresen rollen die Augen â€Š Mich mögen sie aber anscheinend im Ale House, denn die Chefin lĂ€dt mich zu einem PBR ein. Das sind wirklich sehr nette Leute hier.
Zwei weitere Gestalten betreten die Bar und fordern mich zu einer Runde Jenga heraus. Derjenige, der den Turm umschmeißt, muss eine Runde ausgeben, lautet die Devise. Könnt ihr haben, lache ich diabolisch und lasse meine Finger knacken, bevor ich geschmeidig den ersten Baustein entferne. Nach einigen Minuten stĂŒrzt der Turm nach einem amateurhaften Zug einer meiner Kontrahenten in sich zusammen. Der Verlierer schaut bedröppelt und peinlich berĂŒhrt in die Runde und versucht Zeit zu schinden. Oder anders ausgedrĂŒckt: Er verweigert die Zahlung seiner Schuld. Kurz darauf hauen die beiden wieder ab â€“ natĂŒrlich ohne mir ein Bier ausgegeben zu haben. ErbĂ€rmlich: Das Zahlen von Wettschulden ist schließlich eine Frage der Ehre!
Ford ist noch immer nicht aufgekreuzt. Ich sitze bereits seit halb sieben, sieben in der Bar und nun ist Mitternacht: Ich texte Rey und frage, wann Ford losgefahren ist: »Five minutes ago.«
Na, großartig. Die Bar will demnĂ€chst schließen, was bedeutet, dass ich knapp zwei Stunden doof vor dem geschlossenen Commons Ale House stehen und auf meinen Kumpel warten darf. In eine andere Bar kann ich nicht gehen, weil der handylose Ford mich dann nicht findet.
Als die Bar ihren Betrieb fĂŒr heute einstellt und mich freundlich verabschiedet, setze ich mich auf einen Stuhl einer auf dem BĂŒrgersteig fest installierten Sitzgruppe. Mir gegenĂŒber sitzt ein Ă€lterer Herr. Der Afroamerikaner ist augenscheinlich obdachlos und erzĂ€hlt mir und einem Kerl meines Alters, der sich ebenfalls zu uns gesellt, wie unfair er von den USA behandelt wurde. Schließlich ist er fĂŒr sein Land in den Krieg gezogen, war sogar ein richtig hohes Tier beim MilitĂ€r. Als mĂŒsse er uns beweisen, dass er keinen Mist erzĂ€hlt, zeigt er uns ein militĂ€risches Abzeichen. Wir lassen den Mann erzĂ€hlen, bis er mĂŒde Abschied von uns nimmt. Da nun keiner mehr pausenlos am ErzĂ€hlen ist, stellen wir uns einander vor. Mark kommt aus New York und ist ebenfalls Filmemacher. In dieser Ecke der Welt ĂŒberrascht es einen aber schon gar nicht mehr, wenn man einen Kollegen kennenlernt. Mark scheint ein echt cooler Typ zu sein. Leider kann er mich beziehungsweise Ford und mich heute Nacht nicht bei sich aufnehmen, da er selbst nur zu Gast bei einem Kumpel ist, der selbst noch gar nicht zu Hause und momentan wohl auch nicht erreichbar ist. Mark und ich beschließen nach zu vielen Minuten des Wartens in der KĂ€lte, in eine Bar zu gehen und Ford am Ale House eine Nachricht zu hinterlassen. Die Angestellten der Kneipe feiern noch privat in ihrer Bar und machen mir kurz auf, um mir einen Stift und Papier zu geben. Ich schreibe Ford, dass wir in der Misfits Bar sein werden, die laut Mark vermutlich auf der anderen Seite des Blocks ist. Ich lege den Zettel auf einen Stuhl, der vor der Bar steht. Colin verspricht mir zudem, dass er es Ford ausrichten wird, falls er aufkreuzt solange er oder die anderen noch in der Bar sind und Ford den Zettel ĂŒbersehen sollte. Damit wĂ€re das hoffentlich geklĂ€rt und Ford findet uns.
Mark und ich finden sowohl die Misfits Bar als auch alle anderen Bars nur geschlossen vor. Super. Wir machen uns gerade wieder auf den Weg zurĂŒck zum Ale House, als ich plötzlich Ford auf der anderen Straßenseite entdecke. Er berichtet, dass er tatsĂ€chlich vor dem Commons stand, anklopfte und von Colin die Info und Zettel bekommen hat. Angeblich habe er Reys Wohnung bereits gegen 22 Uhr verlassen. Wieso er in diesem Fall aber fast vier Stunden benötigt hat, um nach Santa Monica zu kommen, ergibt fĂŒr mich keinen Sinn. Ich bin ehrlich gesagt leicht genervt: Erst soll ich alles falsch verstanden haben und ihm deswegen anstelle eines schönen Hikes einen langweiligen Tag bei Rey aufgezwĂ€ngt haben und dann muss ich auch noch ewig auf ihn warten. Zu allem Überfluss bringt er doch tatsĂ€chlich mein Notebook mit nach Santa Monica, obwohl es doch nahezu hundertprozentig sicher ist, dass uns erneut eine obdachlose Nacht bevorsteht. Unser komplettes GepĂ€ck lagert bei Rey und ausgerechnet meine teuersten WertgegenstĂ€nde, die Kamera und mein Computer, dĂŒrfen mit uns Obdachlosigkeit zelebrieren. Ich lasse Ford wissen, dass ich nun nur noch sehr ungern im Freien schlafen möchte und es auch ĂŒberhaupt nicht verstehe, weshalb er auf die Idee kommt, das Notebook mitzubringen. Nicht nur, dass es im Falle eines Diebstahls eine Katastrophe fĂŒr mich bedeuten wĂŒrde, nein: Da wir morgen unser Zeug erst um 20 Uhr bei Rey abholen können, muss ich den schweren Rechner somit auch den kompletten morgigen Tag mit mir herumschleppen. Ford schafft es, meine Nerven noch weiter zu strapazieren, indem er mir erzĂ€hlt, dass er den kompletten Tag ĂŒber mit meinem Computer im Internet gesurft ist. What? Wieso hat er mir das denn nicht vor Stunden gesagt? Er hĂ€tte eine Couch organisieren können! Um dem Spaß noch die Krone aufzusetzen, fragt mich mein witziger Freund, ob ich mit Chris ĂŒber seine mögliche Anstellung als Boom Operator gesprochen habe. Im Nachhinein bin ich froh, dass Ford heute beim Wandern nicht dabei war. Macht mich dieser Gedanke zu einem schlechten Menschen?

Mark haut kurz darauf ab und wir fahren mit dem Bus in Richtung Downtown. Ford schlĂ€gt vor, dass wir direkt in das mit dem Bus knapp zwei Stunden entfernte Glendale fahren können, wo er morgen eine Audition hat. Hm, die Idee ist wahrscheinlich wirklich besser, als sich in Downtown auf die Straße zu legen. Als wir den Bus wechseln mĂŒssen, stehen wir vor einer Kirche, in der noch Licht brennt. Wir klopfen an die TĂŒr und fragen den NachtwĂ€chter, ob die Kirche Obdachlosen Asyl bietet. Er verneint und kann uns auch keine shelter nennen. Im Bus nach Glendale hilft uns ein netter Mann mit der Orientierung und gibt uns Tipps. So gibt es beispielsweise einen Zug, der die komplette Nacht hindurch im Kreis fĂ€hrt und somit keine Endstation hat, an der man aussteigen mĂŒsste. Solange man ein gĂŒltiges Ticket hat, darf man es sich demnach auf den Sitzen gemĂŒtlich machen. Manch ein Obdachloser nĂ€chtigt darin, behauptet er. Wir wollen heute aber nicht mehr mit dem Zug fahren, sondern morgen frĂŒh möglichst nahe an dem Ort sein, an dem Ford sein Casting hat. Der nette Mann steigt mit uns im Zentrum von Glendale aus, macht uns kurz mit der Umgebung vertraut und ĂŒberlĂ€sst uns dann uns selbst. Wir machen uns auf die Suche nach Obdachlosenasylen und Hostels. Meine Hoffnung, mitten in der Nacht noch ein Hostel zu finden, zerschlĂ€gt sich sehr schnell. Die sehr wenigen, die es gibt, haben alle geschlossen. Optimismus keimt auf, als wir ein GebĂ€ude der YMCA finden. Doch deren Betten sind restlos belegt. Einen Tipp kann man uns auch nicht geben. Es ist vier Uhr am Morgen, als Ford plötzlich einen Polizeiwagen anhĂ€lt und ich mir nur denke: »Warum?«
Der Cop, der alleine in seinem Wagen unterwegs ist, ist sichtlich nervös, als er sein Auto stoppt, aussteigt und auf uns zukommt. Er zappelt regelrecht vor NervositĂ€t und hat seine HĂ€nde stets nah am GĂŒrtel. Alle zehn Sekunden flĂŒstert er irgendwelche Codes in sein Schulter-Walkie-Talkie â€Š und kann uns natĂŒrlich nicht helfen. Als ich mich langsam wieder entspanne und mich bereits darĂŒber freue, dass wir den Uniformierten gleich wieder los sind, ohne dass er unsere Personalien aufgenommen oder uns gar mit auf die Wache genommen hat, bringt Ford wieder einen Hammer, der mich nur fassungslos mit dem Kopf schĂŒtteln lĂ€sst.
»Do you know where we can find a safe place to sleep on the street?«
Was tut er da? Was tut er da nur?
»Not in Glendale«, antwortet der Polizist und haut zum GlĂŒck wieder ab.
»Well, that means: â€șPiss off!â€č«, erklĂ€re ich Ford, der langsam nickt. Von nun an macht sich bei uns eine leichte Bullenparanoia breit â€“ zu einem Zeitpunkt, an dem ich mir schon dachte, dass es auf Glendales Straßen vermutlich ĂŒberall sicher sein dĂŒrfte. Tja, aber wo sollen wir jetzt noch hin? Es ist ja alles geschlossen. Wir beschließen, einfach noch ein wenig lĂ€nger wach zu bleiben und umherzulaufen. Es ist kalt, also lade ich den klammen Ford auf einen Kaffee bei 7-Eleven ein. Die wenigen Menschen, die zu dieser Zeit noch arbeiten, scheinen allesamt leicht reizbar zu sein, denn auch der VerkĂ€ufer bei 7-Eleven schaut mich an, als fĂŒrchte er um sein Leben, als ich den Laden betrete. Als ich wieder zu Ford komme, erzĂ€hle ich ihm, dass der VerkĂ€ufer Angst vor mir zu haben schien. Ford meint daraufhin, dass ich mich darĂŒber gar nicht zu wundern brauche. Schließlich sehe ich mit meinem schwarzen Mantel, meinem Kapuzenpulli, den langen Haaren und meiner unrasierten Visage auch wie ein AmoklĂ€ufer aus. Na, schönen Dank auch, Honey. Lediglich die Cordhose lĂ€sst auf friedliches GemĂŒt schließen, merkt er immerhin noch an.
Auf der South Central Avenue kommen wir an der St. Mary’s Armenian Apostolic Church vorbei. Die Armenier sind stark vertreten in Glendale und ihr Einfluss eindeutig auszumachen. Die Stadt nördlich von Los Angeles hat 190.000 Einwohner, wovon ĂŒber ein Drittel armenischer Abstammung sind. 1990 waren es nur halb so viele. Der wohl berĂŒhmteste armenischstĂ€mmige Sohn der Stadt ist der grandiose Serj Tankian, seines Zeichens SĂ€nger einer der besten Bands der letzten Jahre: System of a Down.
Vor der Kirche steht ein Schild mit beweglichen Lettern â€“ so wie man es von den »Simpsons« kennt. Darauf geschrieben steht momentan: »In peace I will lie down and sleep. For you alone, o Lord, will keep me safe.«
Ford und ich schauen uns an, nicken und nehmen die freundliche Einladung an. Zur Kirche gehört ein Parkplatz, der geöffnet ist. Vor dem GebĂ€ude fĂŒhrt eine Treppe ins »Souterrain«, wo â€“ geschĂŒtzt vor fremden Blicken â€“ eine gut fĂŒnf Meter lange Bank fĂŒr uns bereitsteht. Es ist bitterkalt â€Š aber ich habe ja neben der Decke noch meine Kamera und mein Notebook zum Kuscheln.

2013 01 14 05.11.11

Quellen
Informationen zu Malibu, den Chumash, Santa Monica und Glendale: Wikipedia
Informationen zu Filmdrehorten: movie-locations.com

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