Tag 65: Malibus Outback, Santa Monicas Pier und die Nacht von Glendale

Serendipity – Teil 2

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Sonntag, 13. Januar 2013
Los Angeles – Malibu – Santa Monica – Glendale

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Um acht Uhr klingelt der Wecker. Rey konnte uns keine Decken geben, weswegen Ford mir wieder einmal unsere »Obdachlosendecke« überlassen hat. Ich mache ein paar Fotos von Reys Balkon, um die beeindruckende Aussicht auch bei Tage festzuhalten, decke danach den noch tief schlafenden Ford zu und schleiche mich aus der Wohnung.

Mit dem Bus 733 geht’s zur Haltestelle an der Ecke Venice Boulevard und Cadillac Avenue. Meine TAP Card kann ich auch im Bus aufladen. Mittlerweile habe ich auch kapiert, dass ich fĂĽr fĂĽnf Dollar die Karte zu einer Tageskarte auffĂĽllen kann. Wenn man sich eine neue TAP Card kauft, muss man allerdings einen zusätzlichen Dollar fĂĽr die Plastikkarte investieren. Der zweite Bus lässt lange auf sich warten. Die Linie 534 bringt mich auf den Pacific Coast Highway nach Malibu. Der PCH, wie er auch abgekĂĽrzt genannt wird, ist ĂĽbrigens der Highway 1. Die gut 50 Kilometer lange Strecke nach Malibu kostet mich insgesamt knapp zwei Stunden. Als ich an der Ecke Pacific Coast Highway und Paradise Cove aussteige und in Fahrtrichtung weiterlaufe, bremst der Busfahrer noch einmal ab und ruft mir zu: »Where do you wanna go?«
»Winding Way.«
»Where’s that?«
Das ist eine gute Frage: »I guess in that direction.«
»Jump back in, I bring you there.«
Ich bin ein weiteres Mal begeistert vom Service und der Freundlichkeit amerikanischer Busfahrer. Weder der Fahrer noch ich wissen aber, wo genau der Winding Way ĂĽberhaupt ist. Also bitte ich den Driver, mich doch besser wieder aussteigen zu lassen und zu FuĂź weiterzusuchen. Vielleicht kommt mir ja auch mal jemand entgegen, den ich nach dem Weg fragen kann â€“ schlieĂźlich befinde ich mich eigentlich momentan in einer Kleinstadt.

Malibu â€¦ eine eher untypische Ortschaft
Etwas mehr als 12.000 Einwohner leben auf ĂĽber 50 km² Land, das sich in einem ĂĽber 30 Kilometer langen, aber an seiner breitesten Stelle nur knapp vier Kilometer schmalen Streifen zwischen der PazifikkĂĽste und den Santa Monica Mountains von Ost nach West zieht. Ja, die Bergkette befindet sich im Norden, nicht im Osten und den Ozean haben die Bewohner Malibus im SĂĽden und nicht im Westen vor der HaustĂĽr. Das liegt daran, dass Malibu am Nordrand der Santa Monica Bay liegt. Da sich die Grenzen Malibus, das 1991 eine von Los Angeles unabhängige Stadt wurde, zusätzlich noch fast fĂĽnf Kilometer in den Pazifik erstrecken, kommt die Gemeinde offiziell auf eine Gesamtfläche von rund 260 km² und wäre somit flächenmäßig mit Bielefeld zu vergleichen â€“ falls es diese Stadt ĂĽberhaupt gibt. Einen Ortskern scheint Malibu nicht zu haben. Der PCH ist die zentrale »DorfstraĂźe«. Die Villen befinden sich an der KĂĽste oder sitzen in groĂźen Abständen zueinander auf der Bergkette, die sich ĂĽber insgesamt 64 Kilometer bis nach Hollywood zieht und zu der auch der Mount Lee mit dem Hollywood Sign gehört. Bevor die Spanier und später die Reichen und sicherlich auch ein paar Schöne mit der Besiedlung Malibus begannen, lebten im kĂĽstennahen SĂĽden und Zentrum Kaliforniens ĂĽber Jahrtausende hinweg die Chumash.

Die Chumash
Die Chumash machten sich nichts aus Ackerbau, sondern lebten als Jäger, Fischer und Sammler in Dörfern, die bis zu 1000 Einwohner haben konnten. Wie immer in der traurigen Geschichte der Entdeckung Amerikas durch die Alte Welt verloren die Chumash mit den Neuankömmlingen nicht nur ihre Heimat. Die Spanier hatten, als sie ĂĽber 200 Jahre nach der Entdeckung und Beanspruchung Kaliforniens mit der Eroberung begannen, Krankheiten und das Christentum im Gepäck, was die Population der Chumash, die 1824 revoltierten, um 1900 auf erschreckende 200 Menschen reduzierte. In ihrer BlĂĽtezeit schätzte man die Zahl der Stammesangehörigen auf bis zu 18.000. In den 1960er Jahren starb letzten Endes sogar die einzig noch verbliebene Sprache der Chumash aus. Solch eine Geschichte haben auch viele andere indigene Völker wie beispielsweise die Tongva vorzuweisen, deren Heimat unter anderem das heutige Santa Monica und Los Angeles war.

Ich erreiche das Point Dume Village, das eine besondere Spezies Mensch mit einem Warnhinweis auf sehr interessante Weise willkommen heißt: »Warning to Paparazzi!«, steht auf dem Schild. Das Betreten des Grundstücks, mit der Absicht Menschen ohne deren Erlaubnis zu fotografieren, ist verboten und wird nach dem California Anti-Paparazzi Act gnadenlos bestraft. Ich schiebe mir meine Kameratasche sicherheitshalber mal auf den Rücken.

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Spätestens hier im Point Dume Village, einer kleinen Ansammlung diverser Läden und Restaurants, bin ich mir sicher, dass ich am Winding Way bereits vorbeigekommen sein muss. Verdammt: Chris, Grace und deren Freunde wollen mich in wenigen Minuten dort treffen. Ich frühstücke schnell ein Sandwich und frage einen Polizisten, wo sich der Winding Way den Hügel hinaufwindet.
»No idea«, desillusioniert mich der Gesetzeshüter. Das gibt’s doch nicht. Ich frage zwei in der Sonne Sitzende, ob sie eine Ahnung haben, wo der Weg sein könnte.
»I do«, überrascht mich der mehr nach Tourist aussehende Mann.
»Cool! Where is it?«
Die Straße befindet sich natürlich in der Richtung, aus der ich gerade gekommen bin. In meinem Kopf höre ich Cari, wie sie mich in Portland auslacht: Mit dem Smartphone wäre das nicht passiert. Dafür erlebe ich ohne die technische Hilfe wieder einmal amerikanische Freundlichkeit. Der mit der Umgebung vertraute Brandon schlägt mir und seiner Freundin vor, mich dorthin zu fahren. Ich habe hierfür weder meinen bestmöglichen Hundeblick aufgelegt noch gefragt. So sind sie eben an der Westküste. Kaum sitzen wir im Auto erzählt mir Brandon stolz, dass Freundin Sara Sängerin ist. Sara rollt mit den Augen, während er versucht, an sein iPad zu gelangen.
»What do you want?«, fragt ihn Sara.
»I’ll show him ›Missing You‹.«
»Oh, come on.«
Brandon besteht darauf und auch ich werde neugierig. Also lenkt Sara ein und schaltet mir ihr neuestes Video ein. Es ist ihr unsagbar peinlich, betont sie und merkt an, dass der Clip auch nicht so wirklich geil ist.
»Yes, yes«, nicken Brandon und ich, während ich Sara das iPad aus der Hand nehme. Kurze Zeit später kann ich Sara beruhigen: Das Video ist nicht peinlich und ihre Musik schon gar nicht. Der einfühlsame Song ist catchy und sehr professionell arrangiert. Außerdem hat sie eine wirklich schöne Stimme.
»So, what’s your name?«, möchte ich wissen.
»That’s Sara Johnston from Montreal, Canada!«, übernimmt der stolze Brandon die Antwort.
»Good to know«, bedanke ich mich, als wir auf den Parkplatz abbiegen, auf dem ich mit Chris & Co. verabredet bin. Und jetzt wird’s lustig: NatĂĽrlich recherchiere ich später ein wenig und sitze mal wieder mit offener Kinnlade da. Sara Johnston war vor ihrer Solokarriere Mitglied bei Bran Van 3000! Ich kann mir schon vorstellen, dass jetzt dem einen oder anderen Leser eine Augenbraue die Stirn entlang nach oben wandert, verbunden mit einem: »Aha?«
Banausen! Bran Van 3000 ist Ende der 90er mit »Glee« ein ziemlich famoses Album gelungen, auf dem sie Alternative Rock mit Electronica, Hip-Hop und Pop mischen. Lustigerweise heiĂźt einer der Songs der Platte »Couch Surfer« und handelt von einem Schmarotzer, der jemandes Sofa bezieht, nicht mehr abhaut und sich Bezahlsender reinzieht. Der größte Hit des Kollektivs dĂĽrfte allerdings »Drinking in L.A.« gewesen sein.

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Sara Johnston

Bran Van 3000

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Ford, dessen Handy nicht mehr aufgetaucht ist, textet mir mit Reys Telefon und beschwert sich: Ich hätte ihn aufwecken und mitnehmen sollen. Hä? Letzte Nacht hat er doch noch überprüft, wie er um zwölf Uhr mittags mit dem Bus zu seiner Audition kommt. Ich verstehe nur Bahnhof, schreibe ihm aber, dass es keinen Sinn mehr ergibt, nachzukommen, weil die Fahrt nach Malibu so lange dauert. Aber was ist denn da los? Fällt das Casting aus? Sehr seltsam. Kaum habe ich die SMS abgeschickt, meldet sich auch Chris zu Wort: Sie kommen mal wieder später als angekündigt zum Treffpunkt. Da aber auch ich bereits die abgemachte Uhrzeit nicht einhalten konnte, passt die halbstündige Verspätung optimal.
Chris und Grace haben Ashley und Kristin im Schlepptau, zwei Freundinnen von Grace. Nachdem die erstaunlich sportlich gekleideten Damen und Sonnenbrillen-Chris ihre Getränke aus dem Auto geholt und meine Jacke hineingelegt haben, geht’s den ersten Anstieg hinauf in Richtung Winding Way Trail. Der Wander- und Pferdeweg, der in den anvisierten Escondido Canyon Park führt, beginnt erst nach einigen Hundert Metern. Bis wir den Pfad erreichen, spazieren wir an prunkvollen Villen vorbei. Arkadengänge, riesige Gärten mit Palmen, Swimmingpools und Steinöfen. Wer weiß, an wessen Häuschen wir hier vorbeigehen. Die Sonne strahlt, die Hänge sind grün und der Blick auf den Ozean einfach nur wunderschön. Die Insel, die wir in weiter Entfernung ausmachen können, müsste Santa Catalina Island sein.

Chris und ich reden natürlich über unser angestrebtes Projekt, während wir über Steine und Äste Bäche überqueren und der Pfad waldiger und steiler wird. An einer Stelle hat man sogar ein Seil zwischen zwei Bäume gespannt, damit man sich daran den steilen und rutschigen Hang nach oben hangeln kann. Chris, der heute mit einem neuen Batikhemd daherkommt, offenbart spätestens bei dieser Aktion, dass Grace der sportlichere Teil des Paares ist. Je länger wir uns an Wurzeln und Steinen die Hänge hinaufziehen, desto weniger ambitioniert scheint Chris zu sein, mithalten zu wollen. Wir befinden uns nun im dicht bewaldeten Canyon. Vom Meer sieht man nichts mehr und auch von den Villen, die vereinzelt auf den Hügeln auszumachen waren, ist nichts mehr zu sehen. Kakteen wachsen am Wegesrand und mir kommt es vor, als würden nach und nach immer mehr Brauntöne das Grün ablösen. Diese Gegend ist nicht nur wegen der hohen Anzahl prominenter Bewohner und »Baywatch« weltberühmt, sondern auch wegen der regelmäßig herrschenden Waldbrände. Rauchen ist auf dem Trail beispielsweise strengstens untersagt.

Wir erreichen einen Wasserfall, fĂĽr dessen Beschreibung mir derzeit der Begriff Rinnsal passender erscheint. Wir klettern ĂĽber weitere Felsbrocken immer weiter nach oben und kommen kurz darauf an einen zweiten Wasserfall. Hier flieĂźt zwar ein bisschen mehr die Wand hinunter, als bedrohlich imposante Naturgewalt wĂĽrde ich es dennoch nicht bezeichnen. Vielmehr als der Wassersturz sieht die bewachsene Wand toll aus, an der das Wasser langsam durch grĂĽne Algen flieĂźt, anstatt wild tosend die gut und gerne 50 Meter hinabzustĂĽrzen. Es wird noch nicht einmal Gischt aufgewirbelt, sobald das Wasser den Teich am Boden erreicht. Das Ganze sieht so entspannend aus, dass man schon fast eine Dusche nehmen möchte.
Wir sind nicht die einzigen Wanderer. Auf dem Pfad ist sogar erstaunlich viel los. Das große Gedränge bleibt aber erfreulicherweise aus.

Kristin will die Wand zum Wasserfall hinaufklettern und fragt in die Runde, wer mitkommen möchte.
»We can try«, sagt Grace, während Ashley und ich nicken und Chris aufstöhnt.
Wir schauen uns die Wand genauer an. Sie ist steil, aber nicht senkrecht. Hier und da wird wohl auch ein klein wenig Freeclimbing notwendig sein. Die Mädels preschen voraus, dann komme ich und zuletzt Chris, der recht dankbar dafür zu sein scheint, dass ich ab und an haltmache, um Fotos zu schießen. Nach einigen Metern haben wir Ashley, Kristin und Grace wieder eingeholt. Ashley und Grace beratschlagen, ob sie das Klettern abbrechen sollen. Chris nimmt die Diskussion freudig auf und überzeugt die beiden, es tatsächlich bleiben zu lassen. Kristin und ich schauen uns an: »We go on?«, frage ich.
»Yeah!«, freut sich Kristin und klettert voraus.

Die Wand wird fortan steiler und ein Abrutschen hätte unschöne Folgen, da die pfadähnliche Fuge, durch die wir uns kämpfen, aus einem sandigen und somit rutschigen Untergrund besteht und es zudem kaum etwas gibt, woran man sich festhalten könnte, sollte man erst einmal ins Fallen geraten. Wirklich gefährlich kommt mir der Aufstieg dennoch nicht vor. Noch kann man mit vorgebeugtem Oberkörper nahezu auf allen vieren klettern. Wir holen ein Pärchen ein, das vor einem Felsspalt steht und ziemlich amüsant rätselt, wie man sich durch diesen nach oben windet. Der Spalt ist wie eine kleine Höhle, die nach zwei, drei Metern endet und in einen Kamin übergeht. Nach kurzer Beratschlagung steht fest, dass wir die gute alte Türrahmenklettertaktik anwenden müssen: Entweder mit einem Bein links und einem rechts oder mit dem Rücken auf der einen und den Füßen auf der anderen Seite, müssen wir uns in den Spalt klemmen und langsam nach oben drücken. Auch diese Übung haben wir schnell gemeistert. Wenige Meter später haben wir die Wand erklommen und lassen uns von den drei Weicheiern unten feiern. Mit unseren neu gemachten Bekanntschaften wandern wir den Bachlauf entlang und schauen, wie nahe wir an den Wasserfall gehen können und wohin der Weg sonst noch führt. Auf der uns gegenüberliegenden Wand sehen wir andere Kletterer. Deren Route sieht schon etwas anspruchsvoller aus. Dementsprechend vorsichtig und angespannt versuchen sie auch wieder nach unten zu kommen. Wir enden derweil in einer Sackgasse und sind doch etwas enttäuscht. Eigentlich wollten wir um den Hügel herum und auf der besagten Wand gegenüber wieder zu unseren Leuten stoßen. So müssen wir aber den Rückzug über die altbekannte Strecke antreten und den Kamin wieder hinabklettern. Das bereitet dem neu kennengelernten Mädel leichte Schwierigkeiten. Sie steht als Erste im Kamin und weiß nicht, wie sie hinunterkommen soll. Ihr Freund, der sich als Letztes eingereiht hat, gibt schlaue Anweisungen, die sie als Klugscheißerei abtut und es irgendwann einfach so macht, wie sie es für richtig hält. Sie bricht sich nichts.

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Wieder bei den Autos bieten mir Chris und Grace an, mich nach Santa Monica zu bringen. Ich nehme das Angebot â€“ nach dem ich genau genommen gefragt habe, als sie mich bereits auf dem PCH verabschieden wollten â€“ dankend an und staune auf unserer Fahrt aufs Neue ĂĽber die verschiedenen Villen auf den HĂĽgeln und den Blick ĂĽber den Ozean. Chris und Grace machen möglichst wöchentlich AusflĂĽge wie diesen. WĂĽrde ich in solch einer Landschaft leben, denke ich mir, wĂĽrde ich mich auch wesentlich häufiger bewegen. Oh, California â€¦
Im Canyon hatte ich keinen Empfang. Nun kann ich Rey wieder schreiben und frage, ob er etwas von Ford gehört hat und wie dessen Audition lief â€“ sofern sie denn stattfand. Ich gebe auĂźerdem die Info weiter, dass ich in Santa Monica den Pier und den Strip auf und ab laufen werde.
Chris und Grace lassen mich in der 4th Street raus. Wir verabschieden uns kurz bis in knapp drei Wochen und schon dĂĽsen sie davon. Ăśber den Santa Monica Boulevard laufe ich in die 3rd Street Promenade, eine sich ĂĽber drei Blocks ziehende, reine FuĂźgängerzone, was mir bislang in den Staaten noch nicht untergekommen ist. Santa Monica ist touristisch. Klar, denn die Stadt liegt direkt am Meer, hat Los Angeles im RĂĽcken, den Pazifik vor sich und zudem noch eine FuĂźgängerzone sowie den weltberĂĽhmten Santa Monica Pier. Nun, die FuĂźgängerzone ist eine FuĂźgängerzone ohne besondere Höhepunkte, deren Ende der Santa Monica Place bildet. Hierbei handelt es sich um ein Einkaufszentrum mit einem runden Innenhof, das von Frank Gehry entworfen wurde, dem Schöpfer des EMP in Seattle. Ich stehe generell nicht sonderlich auf Konsumtempel â€“ auch wenn in diesem hier eine Szene fĂĽr »Terminator 2: Judgment Day« gedreht wurde. Daher sage ich: »Hasta la vista, baby«, und steuere nun den Pier an.

Neben einem gewissen Höhenunterschied wird die 90.000-Einwohnerstadt auch von einem GrĂĽnstreifen vom PCH getrennt, der â€“ seinem Namen gerecht werdend â€“ auch hier direkt am Meer entlangfĂĽhrt. Ein schwarzer Obdachloser sitzt auf der Wiese und singt fröhlich »Old MacDonald Had a Farm« vor sich hin. Ich finde das ziemlich ulkig und lächle den Mann an. Das freut ihn wiederum, weshalb er mir zuruft, dass er mir einen Witz erzählen möchte. Einen Witz von einem Obdachlosen sollte man nicht ausschlagen. Schon gar nicht, wenn sie einem kostenlos angeboten werden. Blöderweise verstehe ich den Witz nicht, lache aber trotzdem. Das ĂĽberzeugt den Mann aber offensichtlich nicht, weswegen er mir noch eine Zugabe gibt: »When you’re at home and you feel that you’re about to die. In what room do you go?«
Hm â€¦ keine Ahnung.
»The living room! Hahaha!«
Der ist so schlecht, dass er schon wieder gut ist. Auch ich komme nun in Fahrt. Ein kleiner Witzebattle beginnt. Ich beginne mit Mr. Fox’ Witz von den Cordhosenhippies: »Why do Hippies love corduroy?«
Er ĂĽberlegt, aber er kommt nicht drauf.
»Because it’s groovy, baby!«, antworte ich und mache mit einer Hand eine wellige Bewegung.
Er lacht laut auf. Den findet er also schon mal gut. Es folgt die Vogelscheuche, doch den kennt er bereits. Er scheint mich zu mögen, denn er bietet mir den Platz neben sich auf der Wiese und von seinem Essen an. Das ist rĂĽhrend. Dennoch lehne ich dankend ab, da ich mir Santa Monica anschauen möchte, bevor die Sonne untergeht. Und so wie mein Aufenthalt im Los Angeles County bisher abgelaufen ist â€“ vollkommen chaotisch und planlos â€“, fĂĽrchte ich, dass dies mein einziger Nachmittag und Abend in Santa Monica sein könnte. Ich schlendere also weiter zum Pier und passiere einen weiteren Obdachlosen, der »Jingle Bells« singt. Na, die sind ja lustig drauf hier.
Nicht zuletzt aufgrund des kleinen Erlebnisparks, der sich auf dem Pier befindet, hat sicherlich jeder irgendwo schon einmal Santa Monicas Wahrzeichen gesehen. Iron Man flog über den Pier, Roland Emmerich ließ ihn im schwachen »2012« versinken und als sich Forrest Gump aufmachte und ziellos durch die USA joggte, dabei die Slogans: »Shit happens!«, und: »Have a nice day!«, samt Smiley erfand, landete er auch auf dem mächtigen Steg. Heute erinnert an die Szene ein Restaurant der Bubba Gump Shrimp Company, der weltweit wohl ersten Restaurantkette, die durch einen Film inspiriert wurde.

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Was ich bislang noch nicht wusste, ist, dass der 1909 eröffnete Santa Monica Pier auch das Ende der legendären Route 66 darstellt. Folglich kann man neben allerlei Imbissen und Restaurants auch Souvenirläden mit Merchandising der »Main Street of America« finden. Das Highlight ist aber mit Sicherheit der kleine Pacific Park. In Santa Cruz empfand ich bereits die Lage des Boardwalks als äuĂźerst spektakulär. Aber wie oft sieht man schon eine Achterbahn und ein Riesenrad auf einem Holzsteg?

Neben dem Riesenrad, der Achterbahn und den ĂĽblichen Wurfspielen gibt es auch noch eine Trapezschule auf der kostenlos zugänglichen AmĂĽsiermeile. Meine persönliche Lieblingsattraktion ist eine, die zwar fĂĽr Kinder eingerichtet wurde, jedoch auch Erwachsene köstlich amĂĽsieren kann: Als ich an dem gut sechs Meter hohen TĂĽrmchen vorbeikomme, sind fĂĽnf der sieben Plätze von Kindern zwischen fĂĽnf und zehn Jahren belegt. Sie sitzen nebeneinander auf Sitzen, die wie bunte Frösche designt sind. Die Leiste, auf der sie ein wenig wie die HĂĽhner auf der Stange sitzen, fährt in moderatem Tempo das TĂĽrmchen hoch und lässt die tollkĂĽhnen Mitreisenden immer mal wieder ein wenig nach unten plumpsen. Die Kinder krallen sich dabei äuĂźerst niedlich an ihren SicherheitsbĂĽgeln fest, schreien und schauen gespannt nach oben, wenn die Maschine wieder einmal ihre Sitze nach oben fahren lässt. Hin und wieder wagen manche der Kinder es sogar, ihre Arme in die Luft zu recken â€¦ und ich könnte mich ĂĽber die GesichtsausdrĂĽcke der niedlichen Kinder totlachen.

Vor dem Pacific Park versucht ein Straßenkünstler an Geld zu kommen. Er verliert dabei sein Ziel so wenig aus den Augen, dass er den Weg dorthin aber zu vergessen scheint. Ich glaube zumindest, dass er eigentlich mit Musik die große Kohle scheffeln will. Der Mann trägt eine hellblaue Jogginghose, dazu ein dunkelblaues Sakko, ein rotes Hemd, eine Sonnenbrille und einen »Stars and Stripes«-Zylinder. Die Passanten sind aber aufgrund seines bescheuerten Outfits primär an Fotos interessiert, was wohl auch unser Künstler bereits mitbekommen hat. Aus diesem Grund meckert er mehr über die Leute, die ihn fotografieren, ohne dafür zu zahlen, als dass er musiziert: »So, what do you want? You want my Denzel Washington side? My Brad Pitt side? Or do you want my back side?«
Daraufhin dreht er sich um und streckt dem Publikum seinen nicht entblößten Hintern entgegen: »Pictures are one dollar! One dollar!«
Vielleicht sollte er einfach mal singen â€¦
Am Ende des Piers sind die Angler. Das sieht man bereits von Weitem, da dort die Möwen nur knapp ĂĽber dem Pier kreisen. Ich genieĂźe kurz die Aussicht am Ende des Stegs und gehe wieder zurĂĽck an dessen Anfang. Hier steht seit 1922 ein Karussell mit 44 handgeschnitzten Pferden, das Millionen von Menschen in George Roy Hills filmischem Meisterwerk »The Sting« mit Robert Redford und Paul Newman bewundern durften.

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Links und rechts des Piers erstreckt sich ein ewig langer, weiĂźer Sandstrand. Die Sonne geht langsam unter. Also gehe ich runter an den Strand und genieĂźe, mit dem Pier als Kulisse, einen absolut grandiosen Sonnenuntergang. Ich komme bei diesem epischen Anblick in den totalen Fotografierausch und knipse und knipse und knipse â€¦ Eine Frau sitzt zwischen den muschelbewachsenen Trägern des Piers in der Hocke und lässt sich ebenfalls von den Farben des Himmels berauschen. Es sieht schön aus, wie sie da sitzt. Also mache ich sie kurzerhand zu meinem Modell.

Als die Sonne untergegangen ist, drehe ich mich um und wandle selig zurück in die Stadt. Erst jetzt bemerke ich, dass unglaublich viele andere Menschen exakt das Gleiche getan haben wie ich. Der Strand muss erstaunlich voll gewesen sein. Dutzende von kleinen Gruppen und hauptsächlich Pärchen verlassen mit bedächtigen Schritten den Strand und drehen sich immer mal wieder in Richtung Ozean, als warteten sie darauf, dass die Sonne noch einmal kurz auftaucht und eine Zugabe gibt. Was für ein Sonnenuntergang!
Ich möchte jemandem von diesem überwältigenden Anblick erzählen und rufe Cari an. Sie beneidet mich zu Recht und sagt, ich solle mich nicht zu sehr in Amerika verlieben. Was die Westküste angeht, kommt dieser seltsame Rat allerdings schon zu spät. Ein Junge kommt mit seinem Hund an mir vorbei. Ich weiß auch nicht, was mich reitet, aber ich rufe ihm hinterher: »I like your dog!«
Cari lacht auf: »And do not become an American! What was that?«
Ich bin selbst noch leicht irritiert. Dieses: »I like your was auch immer«, ist so amerikanisch. Ich sammle auf diese Weise auch bereits Komplimente für meinen Bart. Ich denke, ich mag diese Art des Komplimente Verteilens einfach. Ist doch super: Man läuft die Straße entlang, denkt vielleicht, dass man eine ziemliche Lusche ist und plötzlich teilt einem ein wildfremder Mensch mit, dass man etwas trägt oder macht, was schön ist. Ist das nach europäischer Auffassung oberflächlich? Bullshit. Es ist cool.
Ich laufe den Broadway entlang und sehe im Vorbeilaufen im Fernseher einer Bar, wie ein Schauspieler eine Laudatio hält. Werden heute etwa â€¦? Ich öffne die TĂĽr und frage den Kellner, ob gerade die Golden Globes verliehen werden.
»I think so«, ist er sich nicht ganz sicher.
Ich richte meinen Blick wieder auf den Bildschirm und sehe, wie Christoph Waltz die BĂĽhne betritt und eine goldene Weltkugel auf einem braunen Sockel in Empfang nimmt. Es sind die Golden Globes! Und der grandiose Christoph Waltz erhält in diesem Moment bereits seinen zweiten fĂĽr seine Rolle als Kopfgeld jagender Zahnarzt Dr. King Schultz in Tarantinos »Django Unchained«. Ich juble kurz auf und frage, wo die Verleihung stattfindet: »No idea.«
Mein Abendessen gönne ich mir im Restaurant Thai Dishes auf dem Broadway. Ich esse eine Tom Kha Suppe, einen sehr guten Panang Curry und â€“ weil gerade Happy Hour ist â€“ eine Strawberry Margarita. An meinem Nachbartisch sitzt ein Brite mit zerzausten Haaren, der nach und nach, kontinuierlich ansteigend, auszurasten beginnt. Was ist denn mit dem los? Laut eigener Aussage wartet er seit 45 Minuten auf sein Essen. Er geht kurz aufs Klo, kommt zurĂĽck und stellt fest, dass sein Essen noch immer nicht da ist. Jetzt wartet er â€“ nach eigener lautstarker Aussage â€“ bereits seit einer geschlagenen Stunde! Skandal! Kaum sitzt er, kommt seine Bestellung endlich. Der Chefkellner versucht während des Servierens zu erklären, dass das Essen bereits vor drei Minuten serviert werden sollte, aber in der KĂĽche warmgehalten wurde, solange er auf dem Klo war. Das ist dem Briten nun peinlich, er entschuldigt sich herzlich und ich stelle ĂĽberrascht fest, dass er wohl doch kein Arsch ist. Das war eine aufrichtige, lange und öffentlich vorgetragene Entschuldigung. Gegen Ende seines Entschuldigungsmonologs vergisst er dennoch nicht zu betonen, dass er sehr lange warten musste. Eine Kellnerin kommt zu mir und fragt, ob alles gut ist. Anscheinend hat sie gesehen, mit welchem Interesse ich das Schauspiel am Nachbartisch verfolgt habe. Sie fragt auch den Struwwelpeter, der in genau diesem Moment anfangen will zu essen. Mit einem Male lässt er sein Besteck wieder fallen und lehnt sich vollkommen entnervt zurĂĽck: Die Frage bringt ihn auf die Palme. SchlieĂźlich musste er so lange warten und will jetzt in Ruhe essen. Also ist nichts okay! Nun rastet er endgĂĽltig aus und will auch nicht mehr essen, der kleine Trotzkopf. Die Kellnerin versucht ihn zu beruhigen. Es funktioniert nicht. Der Chefkellner denkt sich derweil, mit einem recht offensichtlichen Gesichtsausdruck: »Arschloch«, und serviert ab, während der Irre noch immer das komplette Restaurant zusammenbrĂĽllt. Und zahlen will er auch nicht. Jetzt wird’s spannend, denke ich mir. Der Brite wird gleich seinen Tisch durch den Raum schleudern, während aus der KĂĽche die Köche mit Messern bewaffnet das Restaurant stĂĽrmen und der Kellner zum Muay Thai Warrior mutiert. Der Brite â€“ nicht unvorbereitet â€“ wird seine abgesägte Schrotflinte aus seiner blauen Trainingstasche ziehen, die längst verdächtig nahe neben ihm auf der Sitzbank platziert wurde, und dann geht’s hier ab wie in Hollywood â€¦ in Santa Monica. Ich werde Fotos machen, als plötzlich Spider-Man durchs Fenster geschwungen kommt. Der hatte aber mal wieder Stress in der Schule, stellt demotiviert seinen Rucksack ab und bestellt sich nur eine Strawberry Margarita. Es ist ja noch Happy Hour. Doch dann kommen Kick-Ass und Hit-Girl mit ihrem neuen Kumpel, dem Beer-Gutted Ape-Man, durch die TĂĽr â€“ und schon wird hier aufgeräumt!
Zu meiner Überraschung kommt es anders: Für den Chefkellner ist es okay, dass der Unsympath nicht zahlen möchte. Er soll sich einfach nur verpissen. Das wird zwar nicht ausgesprochen, doch der Gesichtsausdruck des Obers spricht Bände. Der Brite droht noch hohl mit seinem Anwalt und der Kavallerie, was dem Kellner ein Lächeln auf die Wangen zaubert. Er freut sich und nennt dem Schwachmaten seinen Namen, damit er ihn verklagen kann. Der nun leicht verstörte Vollpfosten entgegnet wenig kreativ, dass der Kellner von ihm hören wird und der Laden verdammt noch mal zugemacht gehört. Dann haut er endlich ab, verliert bei seiner Wutflucht aber irgendetwas und ist noch schön peinlich minutenlang vor der Tür beim Suchen zu beobachten. Die eingeschüchterte Kellnerin entschuldigt sich derweil bei mir, woraufhin ich ihr lächelnd entgegne: »It’s okay, he’s an idiot.«
Jetzt kann auch sie wieder lachen.
Mittlerweile habe ich von Rey erfahren, dass Ford den kompletten Tag ĂĽber bei ihm zu Hause war â€“ während er arbeitete. Oje, Ford. Hoffentlich hast du ihn nicht zu sehr genervt. Wir besprechen, dass ich im Commons Ale House auf Ford warten werde. Unser Gepäck dĂĽrfen wir noch eine weitere Nacht bei Rey verstauen. FĂĽr die anstehende benötigen wir jedoch eine neue Bleibe. Ich ahne bereits Schlimmes.
Nach meinem entspannten Abendessen gehe ich ins benachbarte Commons. Die Betreiber haben ein sehr ausgeklügeltes Werbeschild vor ihrer Bar platziert. Auf eine schwarze Tafel haben sie »Beer« geschrieben und daneben einen Pfeil gezeichnet, der auf die Tür der Kneipe deutet. Wie soll man da widerstehen?

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Das Team hinterm Tresen, inklusive der Chefin, ist äußerst sympathisch.
»Do you know where they celebrate the Golden Globes tonight?«, möchte ich wissen.
»Is it tonight?«
Interessiert sich denn kein Mensch im Nachbarort der Filmwelthauptstadt fĂĽr die Globes?
»Yes and I wonder if there are any parties afterwards.«
»There surely are, but it’s not worth going there. You won’t be able to enter a party without an invitation. And if you make it, it’s expensive.«
Da hat sie wohl recht. Ein halber Liter des bislang besten Bieres Amerikas, dem Pabst Blue Ribbon, kostet im Commons Ale House dagegen nur drei Dollar. Also bleibe ich eben hier. Ich bin recht lange Zeit der einzige Gast im Ale House, bis ein Typ die Bar betritt, der die Jungs von »Jackass« kennt. Ach du Scheiße. Einer seiner Kumpels hat beim neuesten Stunt der gestörten Clique mitgemacht und sich dabei sämtliche Knochen im Rückenbereich und die Rippen gebrochen. Auf dass ihn dieser Unfall wenigstens berühmt macht: Prost!
Das Tresenteam sammelt weitere Coolnesspunkte: Im Commons gibt es keine Jukebox, keine MP3-Playlist und auch keinen CD-Player. Nein, hier werden von der Chefin höchstselbst noch Schallplatten auf den Plattenteller gelegt. Das ist Style pur, was ich sie auch sofort wissen lasse. Sie nickt zufrieden und bestätigt, dass dies äußerst lässig ist. Der schottischstämmige Barkeeper Colin hat Feierabend und feiert diesen an seinem Arbeitsplatz. Er setzt sich zu mir und spielt mit mir eine Runde Jenga. Da ich ihn besiege, erhalte ich die Ehre, eines der Holzstücke zu beschriften. Da muss natürlich etwas auf Deutsch verewigt werden, finde ich und setze den Stift zu einem Exkurs deutscher Philosophie an: »Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, ändert sich’s Wetter oder es bleibt, wie’s ist.«
Famos.

Hinter uns gibt sich eine Runde wildgewordener Australierinnen die Kante. Was am Anfang noch ganz ulkig anzusehen ist, wird mit der Zeit zu einer ziemlich nervigen Belastungsprobe fĂĽrs Trommelfell. Hinter dem Tresen rollen die Augen â€¦ Mich mögen sie aber anscheinend im Ale House, denn die Chefin lädt mich zu einem PBR ein. Das sind wirklich sehr nette Leute hier.
Zwei weitere Gestalten betreten die Bar und fordern mich zu einer Runde Jenga heraus. Derjenige, der den Turm umschmeiĂźt, muss eine Runde ausgeben, lautet die Devise. Könnt ihr haben, lache ich diabolisch und lasse meine Finger knacken, bevor ich geschmeidig den ersten Baustein entferne. Nach einigen Minuten stĂĽrzt der Turm nach einem amateurhaften Zug einer meiner Kontrahenten in sich zusammen. Der Verlierer schaut bedröppelt und peinlich berĂĽhrt in die Runde und versucht Zeit zu schinden. Oder anders ausgedrĂĽckt: Er verweigert die Zahlung seiner Schuld. Kurz darauf hauen die beiden wieder ab â€“ natĂĽrlich ohne mir ein Bier ausgegeben zu haben. Erbärmlich: Das Zahlen von Wettschulden ist schlieĂźlich eine Frage der Ehre!
Ford ist noch immer nicht aufgekreuzt. Ich sitze bereits seit halb sieben, sieben in der Bar und nun ist Mitternacht: Ich texte Rey und frage, wann Ford losgefahren ist: »Five minutes ago.«
Na, großartig. Die Bar will demnächst schließen, was bedeutet, dass ich knapp zwei Stunden doof vor dem geschlossenen Commons Ale House stehen und auf meinen Kumpel warten darf. In eine andere Bar kann ich nicht gehen, weil der handylose Ford mich dann nicht findet.
Als die Bar ihren Betrieb für heute einstellt und mich freundlich verabschiedet, setze ich mich auf einen Stuhl einer auf dem Bürgersteig fest installierten Sitzgruppe. Mir gegenüber sitzt ein älterer Herr. Der Afroamerikaner ist augenscheinlich obdachlos und erzählt mir und einem Kerl meines Alters, der sich ebenfalls zu uns gesellt, wie unfair er von den USA behandelt wurde. Schließlich ist er für sein Land in den Krieg gezogen, war sogar ein richtig hohes Tier beim Militär. Als müsse er uns beweisen, dass er keinen Mist erzählt, zeigt er uns ein militärisches Abzeichen. Wir lassen den Mann erzählen, bis er müde Abschied von uns nimmt. Da nun keiner mehr pausenlos am Erzählen ist, stellen wir uns einander vor. Mark kommt aus New York und ist ebenfalls Filmemacher. In dieser Ecke der Welt überrascht es einen aber schon gar nicht mehr, wenn man einen Kollegen kennenlernt. Mark scheint ein echt cooler Typ zu sein. Leider kann er mich beziehungsweise Ford und mich heute Nacht nicht bei sich aufnehmen, da er selbst nur zu Gast bei einem Kumpel ist, der selbst noch gar nicht zu Hause und momentan wohl auch nicht erreichbar ist. Mark und ich beschließen nach zu vielen Minuten des Wartens in der Kälte, in eine Bar zu gehen und Ford am Ale House eine Nachricht zu hinterlassen. Die Angestellten der Kneipe feiern noch privat in ihrer Bar und machen mir kurz auf, um mir einen Stift und Papier zu geben. Ich schreibe Ford, dass wir in der Misfits Bar sein werden, die laut Mark vermutlich auf der anderen Seite des Blocks ist. Ich lege den Zettel auf einen Stuhl, der vor der Bar steht. Colin verspricht mir zudem, dass er es Ford ausrichten wird, falls er aufkreuzt solange er oder die anderen noch in der Bar sind und Ford den Zettel übersehen sollte. Damit wäre das hoffentlich geklärt und Ford findet uns.
Mark und ich finden sowohl die Misfits Bar als auch alle anderen Bars nur geschlossen vor. Super. Wir machen uns gerade wieder auf den Weg zurĂĽck zum Ale House, als ich plötzlich Ford auf der anderen StraĂźenseite entdecke. Er berichtet, dass er tatsächlich vor dem Commons stand, anklopfte und von Colin die Info und Zettel bekommen hat. Angeblich habe er Reys Wohnung bereits gegen 22 Uhr verlassen. Wieso er in diesem Fall aber fast vier Stunden benötigt hat, um nach Santa Monica zu kommen, ergibt fĂĽr mich keinen Sinn. Ich bin ehrlich gesagt leicht genervt: Erst soll ich alles falsch verstanden haben und ihm deswegen anstelle eines schönen Hikes einen langweiligen Tag bei Rey aufgezwängt haben und dann muss ich auch noch ewig auf ihn warten. Zu allem Ăśberfluss bringt er doch tatsächlich mein Notebook mit nach Santa Monica, obwohl es doch nahezu hundertprozentig sicher ist, dass uns erneut eine obdachlose Nacht bevorsteht. Unser komplettes Gepäck lagert bei Rey und ausgerechnet meine teuersten Wertgegenstände, die Kamera und mein Computer, dĂĽrfen mit uns Obdachlosigkeit zelebrieren. Ich lasse Ford wissen, dass ich nun nur noch sehr ungern im Freien schlafen möchte und es auch ĂĽberhaupt nicht verstehe, weshalb er auf die Idee kommt, das Notebook mitzubringen. Nicht nur, dass es im Falle eines Diebstahls eine Katastrophe fĂĽr mich bedeuten wĂĽrde, nein: Da wir morgen unser Zeug erst um 20 Uhr bei Rey abholen können, muss ich den schweren Rechner somit auch den kompletten morgigen Tag mit mir herumschleppen. Ford schafft es, meine Nerven noch weiter zu strapazieren, indem er mir erzählt, dass er den kompletten Tag ĂĽber mit meinem Computer im Internet gesurft ist. What? Wieso hat er mir das denn nicht vor Stunden gesagt? Er hätte eine Couch organisieren können! Um dem SpaĂź noch die Krone aufzusetzen, fragt mich mein witziger Freund, ob ich mit Chris ĂĽber seine mögliche Anstellung als Boom Operator gesprochen habe. Im Nachhinein bin ich froh, dass Ford heute beim Wandern nicht dabei war. Macht mich dieser Gedanke zu einem schlechten Menschen?

Mark haut kurz darauf ab und wir fahren mit dem Bus in Richtung Downtown. Ford schlägt vor, dass wir direkt in das mit dem Bus knapp zwei Stunden entfernte Glendale fahren können, wo er morgen eine Audition hat. Hm, die Idee ist wahrscheinlich wirklich besser, als sich in Downtown auf die Straße zu legen. Als wir den Bus wechseln müssen, stehen wir vor einer Kirche, in der noch Licht brennt. Wir klopfen an die Tür und fragen den Nachtwächter, ob die Kirche Obdachlosen Asyl bietet. Er verneint und kann uns auch keine shelter nennen. Im Bus nach Glendale hilft uns ein netter Mann mit der Orientierung und gibt uns Tipps. So gibt es beispielsweise einen Zug, der die komplette Nacht hindurch im Kreis fährt und somit keine Endstation hat, an der man aussteigen müsste. Solange man ein gültiges Ticket hat, darf man es sich demnach auf den Sitzen gemütlich machen. Manch ein Obdachloser nächtigt darin, behauptet er. Wir wollen heute aber nicht mehr mit dem Zug fahren, sondern morgen früh möglichst nahe an dem Ort sein, an dem Ford sein Casting hat. Der nette Mann steigt mit uns im Zentrum von Glendale aus, macht uns kurz mit der Umgebung vertraut und überlässt uns dann uns selbst. Wir machen uns auf die Suche nach Obdachlosenasylen und Hostels. Meine Hoffnung, mitten in der Nacht noch ein Hostel zu finden, zerschlägt sich sehr schnell. Die sehr wenigen, die es gibt, haben alle geschlossen. Optimismus keimt auf, als wir ein Gebäude der YMCA finden. Doch deren Betten sind restlos belegt. Einen Tipp kann man uns auch nicht geben. Es ist vier Uhr am Morgen, als Ford plötzlich einen Polizeiwagen anhält und ich mir nur denke: »Warum?«
Der Cop, der alleine in seinem Wagen unterwegs ist, ist sichtlich nervös, als er sein Auto stoppt, aussteigt und auf uns zukommt. Er zappelt regelrecht vor Nervosität und hat seine Hände stets nah am GĂĽrtel. Alle zehn Sekunden flĂĽstert er irgendwelche Codes in sein Schulter-Walkie-Talkie â€¦ und kann uns natĂĽrlich nicht helfen. Als ich mich langsam wieder entspanne und mich bereits darĂĽber freue, dass wir den Uniformierten gleich wieder los sind, ohne dass er unsere Personalien aufgenommen oder uns gar mit auf die Wache genommen hat, bringt Ford wieder einen Hammer, der mich nur fassungslos mit dem Kopf schĂĽtteln lässt.
»Do you know where we can find a safe place to sleep on the street?«
Was tut er da? Was tut er da nur?
»Not in Glendale«, antwortet der Polizist und haut zum Glück wieder ab.
»Well, that means: ›Piss off!‹«, erkläre ich Ford, der langsam nickt. Von nun an macht sich bei uns eine leichte Bullenparanoia breit â€“ zu einem Zeitpunkt, an dem ich mir schon dachte, dass es auf Glendales StraĂźen vermutlich ĂĽberall sicher sein dĂĽrfte. Tja, aber wo sollen wir jetzt noch hin? Es ist ja alles geschlossen. Wir beschlieĂźen, einfach noch ein wenig länger wach zu bleiben und umherzulaufen. Es ist kalt, also lade ich den klammen Ford auf einen Kaffee bei 7-Eleven ein. Die wenigen Menschen, die zu dieser Zeit noch arbeiten, scheinen allesamt leicht reizbar zu sein, denn auch der Verkäufer bei 7-Eleven schaut mich an, als fĂĽrchte er um sein Leben, als ich den Laden betrete. Als ich wieder zu Ford komme, erzähle ich ihm, dass der Verkäufer Angst vor mir zu haben schien. Ford meint daraufhin, dass ich mich darĂĽber gar nicht zu wundern brauche. SchlieĂźlich sehe ich mit meinem schwarzen Mantel, meinem Kapuzenpulli, den langen Haaren und meiner unrasierten Visage auch wie ein Amokläufer aus. Na, schönen Dank auch, Honey. Lediglich die Cordhose lässt auf friedliches GemĂĽt schlieĂźen, merkt er immerhin noch an.
Auf der South Central Avenue kommen wir an der St. Mary’s Armenian Apostolic Church vorbei. Die Armenier sind stark vertreten in Glendale und ihr Einfluss eindeutig auszumachen. Die Stadt nördlich von Los Angeles hat 190.000 Einwohner, wovon ĂĽber ein Drittel armenischer Abstammung sind. 1990 waren es nur halb so viele. Der wohl berĂĽhmteste armenischstämmige Sohn der Stadt ist der grandiose Serj Tankian, seines Zeichens Sänger einer der besten Bands der letzten Jahre: System of a Down.
Vor der Kirche steht ein Schild mit beweglichen Lettern â€“ so wie man es von den »Simpsons« kennt. Darauf geschrieben steht momentan: »In peace I will lie down and sleep. For you alone, o Lord, will keep me safe.«
Ford und ich schauen uns an, nicken und nehmen die freundliche Einladung an. Zur Kirche gehört ein Parkplatz, der geöffnet ist. Vor dem Gebäude fĂĽhrt eine Treppe ins »Souterrain«, wo â€“ geschĂĽtzt vor fremden Blicken â€“ eine gut fĂĽnf Meter lange Bank fĂĽr uns bereitsteht. Es ist bitterkalt â€¦ aber ich habe ja neben der Decke noch meine Kamera und mein Notebook zum Kuscheln.

2013 01 14 05.11.11

Quellen
Informationen zu Malibu, den Chumash, Santa Monica und Glendale: Wikipedia
Informationen zu Filmdrehorten: movie-locations.com

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