Tag 70: Mama, ich bin besoffen! Oder: Vom Bellagio bis zum Mirage
Serendipity – Teil 2

Freitag, 18. Januar 2013
Paradise
Ich betrete das 10.800 m² große Kasino, das sich besonders bei professionellen Pokerspielern großer Beliebtheit erfreut. Dementsprechend groß und besetzt sind die Pokerräume, die lediglich durch eine hüfthohe Balustrade vom Rest des Kasinos getrennt werden. Dadurch fühle ich mich zum Zugucken eingeladen und positioniere mich neben einem High-Limit-Tisch, der mich schon beim Vorbeilaufen am meisten amüsiert: Es ist der freak table – zumindest für mich. Die Spieler haben Berge von orangefarbenen 10-Dollar-Chips vor sich liegen. Mein Liebling ist der dicke Rothaarige, der den zentralen Platz am Tisch eingenommen hat und meiner Einschätzung nach auch die meisten Chips vor sich liegen hat. Sein Pokerface scheint darin zu bestehen, einfach ununterbrochen auf den Fernseher zu stieren, der über dem Tisch direkt unter der Decke hängt. Lediglich zum Karten ablegen schaut er mal vor sich. Der restliche Tisch scheint ihn überhaupt nicht zu interessieren. Da in der Runde generell keinerlei Kommunikation stattfindet, macht er auch nicht unbedingt den Eindruck, der asoziale Unsympath am Tisch zu sein. Vielmehr ist er der Styler, ein echter Künstler. Zwei der am Tisch sitzenden Asiaten hören gar Musik, um sich komplett von der Runde abzuschotten. Einer der beiden lässt sich überdies auch noch den Rücken massieren. Die massierende Dame wird anschließend mit vier Chips bezahlt. Der dicke Rothaarige – da bin ich mir mit meinem mittlerweile ziemlich alkoholgetrübten, aber noch immer fachkundigen Blick sicher – wird heute noch die eine oder andere Hose ausziehen.
Meine Kehle braucht Ölung, weswegen ich mich an verschiedenen Ecken des Kasinos an unterschiedliche Automaten begebe und endgültig von Bier zu Bloody Mary umsteige. Herrlich … und so preiswert! Ich lache diabolisch und ohne den Hauch eines schlechten Gewissens in mich hinein. Harhar. Durch meinen Siegerblick locke ich selbstredend auch das andere Geschlecht an. Ja, ich werde gleich zweimal angeflirtet, muss aber feststellen, dass man in Vegas besser nicht erwähnt, dass man eher mittellos und ein hotelzimmerloser Backpacker ist. Was mich andernorts bislang zum Mittelpunkt des Interesses machte, schleudert mich in dieser Stadt offensichtlich ganz weit nach draußen: »Oh … great. Bye!«
Kurz darauf sprechen mich zwei Typen an. Sie prahlen damit, wie viele Hunderte von Dollar sie heute schon verloren haben. Dann komme ich mit meiner Geschichte … und schon sind sie wieder weg. Verrückte Welt. Desillusioniert verlasse ich das Kasino. Ich erreiche eine Halle, deren Dach aus einer riesigen, sehr eindrucksvollen Glaskonstruktion besteht. Darunter steht ein Obelisk, der von chinesisch gestalteten Blumenbeeten umgeben ist. Eine goldene Schlange, die laut einem Informationsschildchen aus Seide gefertigt sein soll und gute drei Meter misst, kündigt das Jahr der Schlange an. Kessel mit falschen Räucherstäbchen, asiatische Figuren, Fontänen, Lampions und ein historisch anmutender Kutter mit roten Segeln runden den sehr schönen chinesischen Garten ab.
Da ich natürlich auch mal Menschen kennenlernen möchte, ändere ich meine Selbstdarstellungstaktik und beschließe, fortan ein bisschen dicker aufzutragen. In der Stadt der Sünden sollte das nicht weiter ins Gewicht fallen. Als mich die nächste Dame anspricht, lasse ich demnach den dicken Filmproduzenten raushängen, der es einfach voll draufhat. Tragischerweise beginne ich den Kurswechsel bei einer Dame, die bereits die 70 überschritten haben dürfte. Bevor ich mich hier zum Oma-Boy mache, möchte ich klarstellen, dass sie mich angesprochen hat. Die Lady textet mich damit zu, dass ihr Sohn ein Architekt vom Bellagio und der Architekt dieses chinesischen Gartens ist, der speziell fürs chinesische Neujahrsfest angelegt wurde, von Januar bis Mitte März zu bewundern ist und dessen Scheibenwischer im Glasdach alleine schon eine Million Dollar gekostet haben. Will die Alte mich und meine High-Budget-Filmproduktionen toppen oder was soll die Angeberei? Sie redet ohne Punkt und Komma und klärt mich unter anderem darüber auf, dass Obama ein böser Mensch ist und sie natürlich Romney gewählt haben … also ganz Amerika. In Florida, Ohio und sonst wo gab es allerdings gefälschte Wahlmaschinen, weswegen letztlich der böse, böse, also wirklich böse Obama die Wahl für sich entscheiden konnte. Skandal! Dass er sich diese Taktik bei seinem Vorgänger abgeschaut haben muss, verkneife ich mir. Stattdessen reagiere ich anscheinend sympathisch schockiert, weshalb mir direkt mal ihre Tochter feilgeboten wird. So ist das in Las Vegas.
Ich laufe durch eine große Halle. Hinter einem Mäuerchen sitzen zwei sehr hübsche Afroamerikanerinnen in einem Café. Die eine winkt mich plötzlich lächelnd zu ihnen. Oh là là! Als ich bei ihnen ankomme und wir uns kurz begrüßen, entbrennt sofort ein heißer Flirt: »Where do you come from, honey? And where do you stay? In this hotel?«
»Well«, überlege ich kurz, wie und ob ich überhaupt den dicken Produzenten raushängen lassen soll. Schließlich entscheide ich mich für die lustige Lüge, da ich mir nach der Begrüßung schon sehr sicher bin, dass die beiden Süßen im horizontalen Gewerbe tätig sind.
»I didn’t decide yet in which hotel I will stay.«
»This one is nice. Why don’t you rent a room, order some drinks and have some party with us?«
»Hm …«, werde ich mir langsam bewusst, dass für mich dieser Gag eigentlich nur nach hinten losgehen kann. Ein Zimmer und zwei professionelle Betthupferl werde ich mir sicherlich nicht leisten können und auch nicht leisten wollen.
»Well?«, fragen die beiden mit ihrem schönsten Augenaufschlag.
»Well …« Noch immer schauen mich fragende Augen mit künstlichen Wimpern an. »I’m a backpacker and don’t have …«
»Okay, bye. Bye bye!«, unterbricht mich die Hübschere der beiden Schönheiten harsch.
»What did he say?«, fragt die andere, die kurz mit ihrem Smartphone beschäftigt war.
»He’s a backpacker.«
»Oh.«
Auf der anderen Straßenseite befindet sich seit 1999 das vierflügelige Paris.
Das Kasino ist nahezu leer. Muss an der Uhrzeit liegen. Zwei Dinge fallen mir sofort ins Auge: Zum einen ragen die hinteren Beine des Eiffelturms durch die Decke ins Kasino hinein, und zum anderen sieht die Decke – wie im Venetian – wie ein sommerlicher Himmel aus. Schmiedeeiserne Straßenlampen und eine Pergola mit Glasdach ziehen sich durch das komplette Kasino. Unter dem Säulengang befinden sich von Blackjack über Craps bis Roulette die üblichen Spieltische. Das Kasino des Paris ist neben jenem im New York-New York das am fantasievollsten eingerichtete, da es seine thematische Ausrichtung auch in der Spielbank fortführt. Brunnen, Pavillons, Häuserfassaden und Reminiszenzen an das Moulin Rouge machen das Kasino womöglich sogar zum schönsten des Strip. Vielleicht liegt es an der späten Stunde, meinem Promillewert und den nur spärlich vorhandenen Gästen, aber das Kasino im New York-New York fühlte sich trotzdem noch sympathischer an.
Als Nächstes schlendere ich durch die Ladenpassage des Hotels, die den französisch gehaltenen Stil des Kasinos beibehält. Irgendwie verirre ich mich in den Kongresszentrumbereich des Hotels. Die Gänge sehen wie der Spiegelsaal von Versailles aus.
Für zu viel Bewunderung geht mir jedoch langsam die Puste aus. Ich würde mich ganz gerne einmal ausruhen und die Augen zumachen. Eine Tür zu einem großen Messesaal ist geöffnet. Der unfassbar große Raum ist komplett leer. Das hat den Vorteil, dass darin innerhalb der nächsten Stunden wohl nichts stattfinden wird. Andererseits würde mich aber auch sofort jeder, der den Saal betritt, sehen. Und ich könnte mir vorstellen, dass loitering, also Herumlungern, eher ungern gesehen und im schlimmsten Fall sogar die Polizei alarmiert wird. Ich setze mich trotzdem mal auf den Teppich. Auf dem Flur laufen die Leute der Putzkolonne auf und ab, was das Kampieren ziemlich erschwert.
Als ich wieder aufstehe, habe ich keine Ahnung, ob ich es geschafft habe, für ein paar Minuten oder sogar länger zu schnarchen. Auf jeden Fall geht’s – nicht wesentlich fitter als zuvor – wieder weiter. This is Vegas. Da muss man sich schließlich irgendwie kaputtmachen. Das habe ich von Hollywood so gelernt.
Das Hotel erwacht langsam zum Leben. Die Restaurants der niedlichen Passage füllen sich mit Frühstückenden.
Die Sonne müsste gerade aufgehen, dämmert es mir. Daher schaue ich, ob ich trotz nicht vorhandener Keycard in die oberen Stockwerke des Hotels gelangen kann. Ich kann. Mit dem Aufzug geht’s so weit wie möglich hinauf. Die Aussicht auf die östlich von Vegas gelegenen Wüstenhügel ist großartig und die Sonne bietet mal wieder eine beeindruckende Show: Alles ist in goldenes Licht getaucht.
Nach meinem kurzen power nap heißt die nächste Station Caesars Palace.
Ich gehe staunend an hohen Säulen vorbei zum Haupteingang. Dass sich das Hotel als Palast bezeichnet, scheint mir nicht übertrieben zu sein. Den Kreisverkehr vor dem Eingang ziert ein mächtiger Brunnen mit Statuen von Menschen und Pferden. Das Vordach ist stufenförmig und einfach nur als pompös zu bezeichnen. Und natürlich Säulen, überall Säulen. In der Lobby geht die Zeitreise weiter: Brunnen, Statuen, Säulen. Altbacken wirkt das Hotel aber keineswegs. Es gibt auch Flure, in denen ein wenig mit dem Thema gebrochen wird und eine anmutige Eleganz in den Vordergrund rückt. Der zugängliche Poolbereich, der sich im Freien zwischen den Hoteltürmen befindet, ist weniger der große Kinderspaß, als nochmalig eine Mischung aus Zeitreise und Pomp. Julius himself, der sich sicherlich über solch einen Palast nicht beschwert hätte, grüßt in Bronze und unter einem imposanten Steinpavillon stehend, von der Mitte des zentralen Pools. Ihn umgeben sechs Fontänen, der kreisrunde Pool und an dessen Außenrand wiederum acht Säulen. Die für Liegestühle angelegte Fläche um den Pool herum ist ebenfalls rund und wird von zwölf weißen Pferdeskulpturen geziert. Es gibt noch weit mehr Statuen und weitere kleinere Pools. Selbst der Hochsitz des Bademeisters sieht aus, als wäre es nicht Paules Arbeitsplatz, sondern Caesars Thron. Zu schade, dass ich keine Badehose eingesteckt habe. Es ist zwar noch kein Mensch da, aber es dürfte auch niemanden groß jucken, wenn ich eine majestätische Runde drehen würde.
Ich lasse mich durch die Räume des Hotels treiben und lande wieder in einem Tagungskomplex, in dem erstaunlich viel los ist. Menschen in Anzügen, mit Aktentaschen und Rollköfferchen bestimmen die Szenerie rund um die ballrooms. Dass ich übermüdet aussehe, restalkoholisiert bin sowie meinen Amokläufermantel und Vollbart trage, scheint niemanden zu interessieren. Daher mache ich es einfach wie die Tagungsteilnehmer, schnappe mir einen Pappbecher und schenke mir einen kostenlosen Kaffee ein. Frühstück. In einem Flur, in dem im Gegensatz zu den anderen Korridoren kein einziger Anzugträger unterwegs ist, mache ich es mir auf einem Sessel bequem, schlürfe meinen Kaffee und gönne mir ein weiteres kurzes Nickerchen.
Caesars Palace war auch Schauplatz für viele Filme: In »Rain Man« sahnen Tom Cruise und Dustin Hoffman groß beim Blackjack ab, weil der von Hoffman gespielte Autist Raymond in der Lage ist, die Karten zu zählen. In »Ocean’s Eleven« zählt Elliott Gould George Clooney und Brad Pitt die drei erfolgreichsten Kasinoraubzüge aller Zeiten auf. Am Weitesten kam demnach ein Mann, der das Caesars um einige Bündel Geld erleichtern wollte. Im Film ist zu sehen, wie er vor dem Hotel von den Sicherheitskräften des Kasinos erschossen wird.
Der derzeit fühlbar populärste Vegas-Film ist Todd Phillips’ »Hangover«. Überall in der Stadt sieht man Poster und T-Shirts von Zach Galifianakis’ Charakter Alan, der das im Kleiderschrank gefundene Baby vor sich herträgt. Von Johnny Depps Version des Journalisten Hunter S. Thompson aus »Fear and Loathing in Las Vegas« habe ich seltsamerweise noch gar nichts entdecken können.
Ich komme in den Shoppingbereich von Caesars Palace, der abermals mit einer blauen Himmelsdecke sowie thematisch passenden Brunnen, Statuen und Gebäuden daherkommt. Mir gefällt’s. Speziell die Nachbildung der Fontana di Trevi ist beeindruckend. Das Highlight der 59.100 m² großen Luxusmall ist indes die Halle mit den beiden Wendelrolltreppen. Der drei Stockwerke hohe Raum mit den Deckenmalereien und der Glaskuppel sieht einfach nur großartig aus. Vor den Forum Shops chillt Spider-Man im Schatten, während Micky und Minni Maus, ausgestattet mit einem Bierfässchen, offenbar noch immer auf Tour sind. Just like me.
Mein Handy ist mittlerweile sehr kurz vor Tod, weswegen ich nach wie vor nur alle paar Stunden checken kann, ob ich neue Textnachrichten erhalten habe. Ken, den ich gebeten habe, mir zu schreiben, wann ich zum Westcliff Transit Center kommen soll, antwortet mir nicht. Was ist das nur für ein Vogel? Ob ich wohl jemals wieder etwas von ihm hören und meine Sachen zurückbekommen werde? Die Speicherkarte meiner Kamera ist mittlerweile auch schon ziemlich voll. Hin und wieder muss ich Fotos löschen, damit ich noch weiter knipsen kann. Toll. Dass ich, wie von Ken noch großspurig angekündigt, kostenlose Showtickets von ihm organisiert bekomme, kann ich getrost abhaken. Daher muss ich mich langsam einmal selbst darum kümmern. Mein Ziel ist einer der reichlich vorhandenen Läden von Tix4Tonight, in denen man Showtickets bekommt, die bis zu 50 % im Preis reduziert sind. Vor dem Laden steht ein Mann mit einer Liste, der die Wartenden über die neuesten Angebote informiert. Unterstützt wird er von Monitoren, die ebenfalls die Tagesangebote auflisten. Die Liste ist so erschreckend lang, dass die persönliche Hilfe des Mannes von uns Anstehenden nur allzu gerne in Anspruch genommen wird. Ich bin mir noch immer unsicher, welche Show ich mir ansehen möchte. Ich entscheide mich für die Veranstaltung, deren Preis noch halbwegs im Rahmen bleibt und bei der ich zudem noch einen ordentlichen Sitzplatz bekomme. Es ist die im New York-New York beheimatete Show des Cirque du Soleil: »Zumanity«. Für 80 Dollar bin ich heute Abend mit dabei. Yeah. Bei Tix4Tonight bekomme ich einen Voucher, den ich an der Theaterkasse noch gegen ein reguläres Ticket umtauschen muss.
Auf meinem Weg zum New York-New York schaue ich mir noch das Mirage an, das sich thematisch an Französisch-Polynesien orientiert.
Das 1989 von Steve Wynn erbaute erste Luxusressort der Stadt wurde 2000 für 4,4 Milliarden Dollar – plus zwei Milliarden Schulden – an MGM Resorts International verkauft. Das Mirage bietet 3044 Zimmer und 9300 m² Kasinofläche. Hinzu kommen noch ein 16 Meter langes Aquarium an der Rezeption, eine Beatles-Lounge, jede Menge Palmen und ein künstlicher Vulkan, der täglich zu jeder vollen Stunde zwischen 20 Uhr und Mitternacht vor dem Hotel mit Piña-Colada-Aroma »ausbricht«. Das Aroma wurde dem Gas beigemischt, um unschöne Gerüche während der gefälschten Eruption zu vermeiden. In Siegfried & Roys Secret Garden and Dolphin Habitat kann man die arbeitslosen weißen Tiger und einige Delfine in ihrer unnatürlichen Umgebung beschauen. Der Eintritt kostet 20 Dollar für Erwachsene und 15 Dollar für Kinder von vier bis zwölf. (Stand: Januar 2013)
Ich schaue mir das Mirage nur kurz an, da ich schnell mein Showticket abholen möchte. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass Ken sich doch noch bei mir meldet. In diesem Fall müsste ich schnellstens meinen Rucksack abholen, da die Show bereits um halb acht beginnt. Das sind jetzt schon nur noch knapp fünf Stunden. Mein Zeitfenster für die Aktion ist also bereits stark eingeschränkt. Vorbei am 1996 eröffneten neoklassizistischen Monte Carlo, in dem die »Blue Man Group« residiert, geht es zurück ins New York-New York.
Ich setze mich in irgendeinen Bus und fahre ein paar Stationen in Richtung Westen. Ich möchte mir Las Vegas ein wenig abseits des Strip anschauen. Im Bus fährt ein kleiner Headbanger mit seinem Kumpel mit. Die beiden dürften so um die 15 Jahre alt sein. Obwohl keine Musik läuft, schwingt der Nachwuchs-Metaller schön seinen Kopf hin und her. Die Jungs unterhalten sich über Mode im Allgemeinen und den besonderen Style zweier Mitschüler im Speziellen. Metaller in Vegas sind also offensichtlich eher fashion victims und keine (Bier-)Bauern wie bei uns.
Mir wird schnell klar, dass es jenseits des Strip nichts Sehenswertes gibt, weshalb ich doch wieder recht zügig aussteige und stattdessen den Ausblick auf den Strip von dessen »Rückseite« genieße. Der Strip ist ganze 6,8 Kilometer lang. Den Beweis dafür, wie lange man ihn nonstop von Kasino zu Kasino entlangtingeln kann, liefere ich mir derzeit selbst. Und ich bin noch nicht einmal durch.
Ich lande bei einer Lagerhalle, vor der in einem schattigen Eck ein runder Tisch samt Bank wie für mich bereitsteht. Ich überlege gerade, ob die Halle das ist, was ich denke, als sich auch schon ein Mädel zu mir setzt, um ihre Kippenpause mit mir zu verbringen. Sie bestätigt meine Vermutung: The Range 702, so der Name der Halle, ist Nevadas größte Schießanlage, in der man so ziemlich jede Schusswaffe dieser Welt abfeuern kann. Oha. Ist ja klasse. Ich wollte schon immer mal mit einer Uzi spielen. Sie erzählt mir noch, wie sehr sie ihren Job liebt, während ich innerlich bereits mein: »Nein, danke«, vorbereite. Dann ist ihre Kippe auch schon fertig geraucht und ich wieder in Aufbruchstimmung, weshalb ich ohne eine Kalashnikov abgefeuert zu haben, weiter in Richtung CityCenter zurückmarschiere. Als ich die Interstate 15 überquere, geht hinter mir die Sonne wieder einmal filmreif zwischen zwei Hochhäusern unter.
Zeit zum Abendessen. Ich setze mich im New York-New York an einen Tisch der Broadway Burger Bar und warte vergeblich auf die Kellnerin, die auch auf mein Winken nicht reagiert. Mir gegenüber sitzt eine Frau, die Ende 40 sein dürfte, und sich köstlich darüber amüsiert, wie ich ignoriert werde. Ich schaue sie wehleidig an und zucke mit meinen Schultern, woraufhin sie mir lächelnd den Platz neben sich anbietet: »She will serve you«, sagt sie und zeigt auf die Barkeeperin. Konversation und eine Angestellte, die meine Bestellung aufnimmt: Das sind Mörderargumente. Heather kommt aus Texas, wohnt im New York-New York, liebt Las Vegas, ist froh geschieden zu sein, will nie wieder heiraten, dafür aber heute Nacht feiern und tanzen – mit mir. Ich lasse sie wissen, dass ich in wenigen Minuten zum Cirque du Soleil gehe, danach aber gerne mit ihr tanzen und feiern gehe. Ich erzähle ihr von meiner Reise, meinem Leben und dass ich schon seit nunmehr … Moment … 37 Stunden auf den Beinen bin. Sie fragt mich berechtigterweise, auf welchen Drogen ich bin, was ich souverän mit: »Entdeckungsdrang, Abenteuerlust, Adrenalin … Gras und Alkohol«, beantworte. Das findet sie ziemlich cool … wenn nicht sogar hot. Ja, ich glaube jetzt flirtet sie endgültig mit mir. Kleine Rauchwolken poppen plötzlich auf meinen Schultern auf und ein Engelchen und ein Teufelchen schauen mich erwartungsvoll an.
»Ich habe nichts gemacht«, erkläre ich prompt und stelle fest, dass die beiden wie meine Mutter aussehen: »Mama?«
»Auf einem alten Gaul lernt man reiten«, beschwört mich die Mama mit den Hörnern und dem Dreizack.
»Den Spruch kenne ich schon«, entgegne ich gelassen. »Den hast du schon gebracht, als ich mich als 17-jähriger Tauchlehrer auf Mallorca vollkommen unschuldig mit der 30-jährigen Rezeptionistin unterhalten habe.«
Puff, der Teufel ist verschwunden. Ich drehe meinen Kopf zur Mama mit den weißen Flügeln.
»Du solltest mal schlafen gehen, Schatz.«
»Wie soll ich denn das jetzt verstehen?«
Puff!
Die hübsche Heather fragt mich, ob ich schon die »Fountains of Bellagio« gesehen habe. Ich verneine. Sie schreibt mir ihre Nummer auf und schlägt mir vor, dass wir uns um Mitternacht dort treffen. Dann küsst sie mich zärtlich auf die Wange und wünscht mir viel Spaß bei »Zumanity«. Halleluja, Miss Robinson!
Wenig später sitze ich im Theatersaal. Die Vorführung ist nicht jugendfrei, da es nackte Haut zu sehen gibt und dreckige Witze gerissen werden. Die nicht immer witzigen Zoten nehmen den größten Teil der Revue ein. Die großartige Akrobatik kommt meiner Meinung nach leider zu kurz. Höchst unterhaltsam ist indes das Publikum, welches bei manchen Nummern miteinbezogen wird. Ein Mann beißt einem Darsteller eine Banane ab, die natürlich aus seiner Hose kommt, und eine Frau wird für eine Art Orgie auf die Bühne geholt. Ist sie am Anfang noch peinlich berührt und lässt sich nur widerwillig auf die Bretter zerren, haben die Verantwortlichen später richtigen Stress, die dicke Dame wieder von ihren gestählten Darstellern herunterzubekommen. Zwischendurch bekommt die Frau immer mal wieder ein Mikrofon unter die Nase gedrückt, um von ihrem Befinden zu berichten. Mehr als ein immer lüsterner werdendes Lachen und Stöhnen bekommt sie jedoch nie heraus. Die Menge jubelt, lacht und feiert, was zu einer wirklich tollen Atmosphäre im Saal beiträgt. Nein, es macht wirklich Spaß, erfüllt meine Erwartungen dennoch nicht ganz. Das kann aber auch daran liegen, dass mein Körper rebelliert und mich ständig die Müdigkeit übermannt. Mir fallen nicht nur einmal für wenige Sekunden die Augen zu.
Als die Show endet, wandere ich ausgeruhter als zuvor in Richtung Bellagio. Ich kenne das Wasserspektakel bisher nur aus der finalen Szene aus »Ocean’s Eleven«, wo sie bereits sehr beeindruckend rüberkommt. Ich bin also gespannt. Es haben sich bereits viele Menschen zur Mitternachtsshow versammelt. Heather kann ich folgerichtig nicht finden und der Akku meines Telefons lässt es auch nicht zu, mehr als eine SMS zu schreiben und nur kurz auf Antwort zu warten.
Die Musik beginnt und der See leuchtet auf. Zu »Singin’ in the Rain« schießt das Wasser rhythmisch in die Höhe. Die Fontänen können bis zu 140 Meter hoch in den Himmel jagen. Unfassbar. Die Menge – mich einberechnet – ist begeistert. Es ist einfach nur wunderschön und schwer romantisch.
Die Show ist vorbei und eine weitere lange Nacht steht mir bevor. Also schlendere ich besser mal ins nächste Kasino und bestelle mir eine Bloody Mary, bevor ich wieder vollkommen nüchtern werde …