Tag 72: Party On!
Serendipity – Teil 2

Sonntag, 20. Januar 2013
Las Vegas
Nach getaner Arbeit überlege ich, wie meine Reise weitergehen soll. Bleibe ich noch eine weitere Nacht im Hostel oder suche ich mir einen neuen Couchsurfer? Ich denke, dass es in Las Vegas besser ist, nicht auf einen Host angewiesen zu sein, der womöglich morgen arbeiten muss und deswegen nicht ausgehen kann oder will. Außerdem fühle ich mich im preiswerten Hostel sehr wohl und habe mit der aus Melbourne kommenden Australierin Rachel und dem aus Colorado stammenden Adam soeben zwei nette Mitbewohner kennengelernt. Ich bleibe also.
Zu dritt fahren wir mit Adams Auto auf Abendessenssuche. Im Internet wird das Lotus of Siam als das beste Thai-Restaurant der Stadt angepriesen. Also fahren wir zum Village Square Commercial Center in der Sahara Avenue. Im Lotus of Siam herrscht jedoch so ein Andrang, dass man uns mitteilt, eine bis – Achtung – drei Stunden warten zu müssen, bevor man uns einen Tisch anbieten könne. Das Essen muss also wahrlich lecker sein. Zum Warten sind wir zu hungrig, suchen weiter und landen letztlich im Palace Station Hotel & Casino … bei Subways.
Das abseits vom Strip und jenseits der Interstate 15 gelegene Kasino sieht wie ein schöner, alter Bahnhof aus, ist weit weniger touristisch und scheint mehr die Anwohner anzuziehen. Prunkvoll ist es auf jeden Fall nicht. Dafür steht das 1976 eröffnete Kasino in seiner Größe den Kasinos auf dem Strip in nichts nach. Besonders drollig ist ein großer Raum, in dem hauptsächlich ältere Damen zu Werke sind: Hier wird Bingo gespielt.
Rachel, Adam und ich schätzen in einem größtenteils touristenfreien Kasino die Gewinnchancen höher ein als auf dem Strip. Also schieben wir je einen Dollar in einen Spielautomaten. Wenig später freut sich Adam über 2,50 Dollar, Rachel geht mit fünf Scheinen nach Hause und ich … scheiß Abzocke.
Ich mag Adam und Rachel. Rachel hat zwar einen grässlichen Akzent, wie ich ihn noch nie zuvor gehört habe, dafür einen guten Humor und das Herz am rechten Fleck. Adam ist Anfang 30 und hat eine aufwühlende Lebensgeschichte: Früher war er ein radikaler Christ, der sogar Missionsarbeit auf Hawaii leistete. Irgendwann bemerkte er allerdings, dass er sich weniger für Frauen, sondern für Männer interessierte. Das war ein Schock für ihn, denn Homosexualität betrachteten er und seine Gemeindemitglieder als eine Krankheit. Er ließ sich dementsprechend von einem Geistlichen »behandeln«, was glücklicherweise nicht von »Erfolg« gekrönt war. In seinem Leid überdachte er sein Weltbild und kam zu dem Entschluss, dass er sich in keiner Weise krank fühle und vielmehr Homophobie als das Übel zu betrachten sei. Als sein Priester – ein Mann mit großem Wirkungskreis, der während George W. Bushs präsidialer Amtszeit wöchentlich mit ebendiesem telefonierte – dann auch noch seine Frau mit einer Verheirateten betrog, löste er sich endgültig von den Scheinheiligen seiner Gemeinde. Doch damit nicht genug: Er fiel komplett von seinem Glauben ab und sucht nun nach einem neuen Ort, an dem er ein neues Leben als freier Schwuler beginnen kann. Er schüttelt seinen Kopf und lacht: »I can’t believe that I’m still living in the middle of nowhere, having missed to live my own life – so far.«
»So let’s party!«, lautet der gemeinsame Konsens, den wir, zurück im Hostel, in die Tat umzusetzen beginnen. Am Schwarzen Brett steht, dass um 22 Uhr Trinkspiele auf der Tagesordnung stehen. Außer uns dreien und zwei weiteren Jungs aus Melbourne findet sich aber niemand im Aufenthaltsraum ein, um uns in irgendwelche Trinkspiele einzuführen. Also übernehmen die beiden Australier das Zepter, packen Karten aus und bringen uns ihr Spiel bei: Zunächst muss die Farbe, der Wert, rot oder schwarz erraten werden. Liegt man daneben, muss man einen Schluck aus seinem Glas trinken. Die gezogene Karte wird dann auf dem Hals einer Flasche balanciert. Jede weitere Karte wird so auf die vorige Karte gelegt, dass sich ein immer breiter werdendes Blumengebilde auf dem Flaschenhals ausbreitet. Natürlich wird die Konstruktion mit jeder weiteren Karte wackeliger und instabiler. Wer die Kartenblume umschmeißt, muss sein aufgefülltes Getränk auf Ex leeren. Die Blume lässt sich erstaunlich weit aufschichten. Die Nervosität wächst. Das Spiel endet, als eigentlich keiner damit rechnet, wodurch es noch viel lustiger ist: Einer der beiden australischen Jungs öffnet gerade eine weitere Bierdose, was den Tisch zwar nur leicht, aber dennoch ausreichend erschüttert, um die Karten vom Flaschenhals zu fegen. Obwohl er überhaupt nicht an der Reihe war, darf er sein frisch geöffnetes Bier direkt wieder abpumpen.
Dan, ein langhaariger Riese, der zum Hostel gehört, kreuzt auf und fragt, wer mit ihm auf Club- und Kasinotour in die Downtown ziehen möchte. Optimales Timing. Mit einem Dollar Spritgeld sind wir dabei und schon geht’s auf einer Matratze, die auf der Ladefläche des hosteleigenen Vans liegt, in die Fremont Street. Ich teile mir den sehr alternativen Rückbankersatz mit Adam, Rachel, einem Popper namens Jaret und einem schlecht Englisch sprechenden Japaner, der einen Namen hat, den keiner von uns je zuvor gehört hat.

Den Krieg gegen die invasorischen Aliens gewinnt glücklicherweise nach etwas mehr als fünf Minuten die Menschheit. Wir lachen überlegen und folgen Dan in ein Kasino. Rachel zockt fleißig Craps und Blackjack. Wie ich am nächsten Tag erfahre, gewinnt sie dabei 20 Dollar. Da hat’s wohl jemand drauf. Dass bei Rachel das alte Sprichwort zuschlägt und sie aufgrund ihres Glücks im Spiel, automatisch Pech in der Liebe haben muss, kann ich – zumindest wenn es um die körperliche Liebe geht –, nicht bestätigen. Denn irgendwann steht Jaret neben mir und lässt mich wissen, dass er heute Nacht Rachel abschleppen will. Ich habe keine Ahnung, weshalb er mir das mitteilt, wünsche ihm aber alles Gute bei seinem Vorhaben. Nein, Rachel und ich haben nicht geflirtet. Ich hänge viel mehr mit Adam herum, mit dem ich auch nicht flirte, der mir aber immer mehr ans Herz wächst. Irgendwann wird er sogar pathetisch und teilt mir mit, wie froh er ist, mich kennengelernt zu haben, weil auch ich die Freiheit als das höchste Gut im Leben definiert zu haben scheine. Ich kann mich zwar nicht erinnern, von der Freiheit gepredigt zu haben, kann mich mit dieser Charakterisierung jedoch gut identifizieren. Einmal mehr finde ich es toll, dass die Amerikaner einem einfach ins Gesicht sagen, was sie von einem denken. Das dürfte viele Missverständnisse vermeiden, ist ehrlich und tut gut – solange es bei positiven Mitteilungen bleibt. Über fehlende Komplimente muss ich mich auf dieser Reise wirklich nicht beklagen. Also, liebe Menschen in Deutschland, lasst uns doch bitte einmal ein Beispiel an den Amerikanern nehmen und nicht ständig nur meckern, Neid und Missgunst säen. Motivieren ist schöner als desillusionieren, fördert das allgemeine Wohlbefinden und ist verdammt noch mal wesentlich sympathischer. Und jetzt kommt mir bloß nicht mit dem Klischeeargument der »Oberflächlichkeit«. Das sollten wir mal ganz schnell umdefinieren. Ich lasse mich wesentlich lieber von einem Fremden bestärken als anzweifeln. Wenn ich in Deutschland jemand Fremdes von meinem Lebensentwurf erzähle, werde ich regelmäßig zweifelnd angeschaut und gefragt, wie ich das denn meistern möchte. Ist das nicht genauso »oberflächlich«? Doch, ist es. Der Unterschied liegt darin, dass die Amis einem die Erfüllung der eigenen Ziele eher zu gönnen scheinen und nicht infrage stellen. Lasst uns die Aversion gegen Motivation eintauschen! Ich hoffe wirklich, dass dies eine Eigenschaft ist, die ich mir auf dieser Reise so verinnerlichen kann, dass ich sie wieder zurück nach Deutschland bringen und auch dort beibehalten kann.
Als die Gang langsam weiterziehen möchte, ist Adam verschwunden. Ich vermute ihn auf der Toilette und suche dort nach ihm: »Adam?«, rufe ich in Richtung der Kabinen. Keine Antwort.
»Adam?«, versuche ich es erneut. Jetzt höre ich etwas. Ist er das? Ich probiere es ein weiters Mal: »Adam?«
Ich kann wieder etwas vernehmen, bin mir aber ziemlich sicher, dass es nicht Adam ist, der da auf mein Rufen reagiert. Da ich beschwipst genug bin, um die Situation amüsant zu finden, rufe ich noch ein paar Mal: »Adam? Adam, Adam?«, und versuche die Geräusche zu deuten. Eine der Kabinentüren öffnet sich. Ein Afroamerikaner im schicken Anzug und Schal steht darin. Er grinst mich fett an, zeigt mir feierlich einen Blunt und macht eine einladende Bewegung. Fett. Sekunden später stehe ich mit dem Fremden vor der Kloschüssel und rauche in Zigarrenpapier gewickeltes Gras: »I just wanted to find my gay friend and now I end up in a toilet with you«, lache ich. Das Lachen zieht sich, bis der Blunt fertig geraucht ist. Der Anzugträger und ich klopfen uns schwer lachend auf die Schulter und verlassen die Kabine. Der komplette Raum ist mit süßlichem Rauch geschwängert, den man auch noch fünf Meter ins Kasino hinein riechen kann. Der Kollege verabschiedet sich freundlich und sagt, ich solle um fünf nach zwei noch einmal zur Toilette kommen, weil er dann mit Koks anrücken wird. Dann zieht er ab. Jaret kommt auf mich zu und fragt, was ich so lange auf dem Klo gemacht habe und warum es hier so nach Gras riecht. Ich lache mich noch immer schlapp und erzähle ihm die Geschichte. Ich sehe ihm an, dass er da gerne dabei gewesen wäre. Also sage ich ihm, dass er nur bis fünf nach zwei zu warten braucht und dann mit dem Typen eine Nase durchziehen kann. Das findet er geil. Also warten wir die zehn Minuten auch noch ab. Adam war im Übrigen gar nicht auf der Toilette und auch der Anzugträger taucht zu Jarets Leidwesen nicht mehr auf.
Unser nächstes Etappenziel heißt gay club. Der Japaner findet die Idee nicht so lustig, woraufhin ihn die komplette Mannschaft davon überzeugt, dass man auch als Hete in eine Schwulenbar gehen kann, ohne aufgefressen zu werden. Obwohl er sich zwar sichtlich mit dem Gedanken noch immer nicht anfreunden kann, will er auch kein Spielverderber sein und ruft eher unlässig: »Party on!«
»Yeah!«, entgegnet ihm die feierwütige Meute.
Das Krave befindet sich im Neonopolis, einer Mall, die sich direkt am östlichen Ende der Fremont Street Experience befindet. Der Mix aus Gras und definitiv zu viel Alkohol bekommt mir nicht gut, was ich kurz nach Betreten des Krave feststelle. Ich setze mich zum Luftschnappen nach draußen, was selten gut geht. So auch heute Nacht: Ich schlafe um die Ecke des Clubs ein, wache irgendwann wieder auf, kotze und schleppe mich zurück ins Hostel. So macht man das.