Tag 78: Des Teufels Brücke

Serendipity – Teil 2

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Samstag, 26. Januar 2013
Flagstaff – Village of Oak Creek & Sedona – Flagstaff

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Der Wecker klingelt um halb acht. Mein einziger Mitbewohner lässt sich davon nicht stören und schläft entspannt weiter. Nach dem Frühstück checke ich aus. Wer weiß, was der Tag bringt. Vielleicht kann oder will ich woanders übernachten. In diesem Fall müsste ich nicht mehr herkommen und mein Zeug abholen. Außerdem spare ich mir so die Gepäcklagerungsgebühren. Die Rezeptionistin meint, dass ich die I-17 nehmen soll. So könnte ich Sedona unmöglich verpassen. Bei strömendem Regen geht es los. Nein, Glück mit dem Wetter habe ich heute wahrlich nicht. Es wird den kompletten Tag über Bindfäden regnen. Auch unglücklich ist die Tatsache, dass ich auf die Rezeptionistin höre. Als ich Flagstaff verlasse, sehe ich ein Schild, das Sedona über die State Route 89A ausschildert. Ich nehme trotzdem die Interstate und bereue dies gründlich: Als ich gestern im Internet die Entfernungen überprüfte, hieß es, dass Sedona nur knapp 50 Kilometer von Flagstaff entfernt liegt. Nach allerspätestens 50 Kilometern auf der Interstate wundere ich mich aber, dass ich noch nicht einmal die Ausfahrt nach Sedona erreicht habe. Wie kann das sein? Bin ich etwa falsch gefahren? Auf einer geraden Strecke ohne Abzweigungen? Oder ist die andere Strecke so viel kürzer? Ich muss falsch gefahren sein. Wann drehe ich wieder um? Nein, nein. Das kann ja alles gar nicht sein. Ich bin doch gestern ebendiese Interstate 17 in Richtung Flagstaff gefahren und habe dabei die Ausfahrt nach Sedona passiert. Da, nach über 70 Kilometern auf der verdammten I-17, ist endlich das blöde Schild.
Nachdem ich die Ausfahrt nach Sedona weitere zehn Kilometer hinter mich gelassen habe, erreiche ich gegen neun Uhr endlich eine Ortschaft. Village of Oak Creek heißt das rund 5200 Seelen zählende Nest. Bis Sedona sind es noch acht Kilometer. Oh, ein wahrlich ganz toller Tipp der Rezeptionistin â€¦
Die roten Sandsteinfelsen, die Sedona so berühmt und beliebt machen, gibt es bereits rund um Village of Oak Creek â€“ und sie sind der absolute Wahnsinn! Entspannung macht sich breit und ich beginne die Schönheit der Landschaft zu genießen.

Nur wenige Meter hinter dem Ortsende biege ich rechts auf einen Parkplatz ab. Hier beginnt der Bell Rock Trail. Ich habe mich gestern ein wenig schlaugemacht, welche Felsen und Wege die schönsten und berühmtesten rund um Sedona darstellen. Der glockenförmige Bell Rock gehört dazu. Das einzig Blöde ist wirklich das Wetter. Im Sonnenlicht soll das Rot und Orange der Felsen nahezu wie Glühen aussehen. Heute hängen die Wolken jedoch so tief, dass ich die Gipfel der Formationen oftmals noch nicht einmal zu sehen bekomme. Dafür hat der Regen einen Effekt auf die Sandsteine, der auch nicht von schlechten Eltern ist: Die Felsen wirken durch die Nässe fast schon weich. Ich behaupte also, dass man Sedona bei jedem Wetter unbedingt einen Besuch abstatten sollte. Ich bin jedenfalls restlos begeistert.
Um auf dem Parkplatz am Bell Rock Trail das Auto abstellen zu können, ohne einen Strafzettel zu riskieren, benötigt man einen Parkschein. Einen Automaten sehe ich nicht. Ich glaube, dass man sich einen Schein bei der Touristeninformation kaufen muss. Da will ich sowieso hin, da ich keine Ahnung habe, wie lange beispielsweise der Bell Rock Trail ist. Es wäre unsinnig, auf einem Pfad zu wandern, der womöglich zu lang ist und mich am Ende an einer komplett anderen Stelle, ewig weit vom Auto entfernt, wieder in die Zivilisation entlässt. Ich brauche demnach eine Karte und den einen oder anderen Tipp.

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Wenige Kilometer des Staunens später passiere ich die Ortseinfahrt.

Sedona – Die Frau des Postmeisters
Sedona liegt in circa 1300 Metern Höhe, hat 10.000 Einwohner, wurde 1902 gegründet und nach der beliebten, weil gastfreundlichen und fleißigen Frau des Postmeisters benannt. Dieser hatte um 1899 seiner Station einen Namen gegeben, der der Postverwaltung zu lang war. Zum Glück entschied sich der Postmeister bei der Umbenennung für den ersten Vornamen seiner Frau und nicht für den gemeinsamen Nachnamen, der zuvor Teil des zu langen Namens war. Sonst würde Sedona heute womöglich Schnebly heißen: »Wenn du zum Grand Canyon fährst, musst du unbedingt auch in Schnebly vorbeischauen!«
»Schnebly? Nein, muss ich nicht.« â€“ Da klingt Sedona wahrlich verlockender.

Bevor ich eine Touristeninformation finde, mache ich die Chapel Road aus. Dort muss sich die Chapel of the Holy Cross befinden, von der ich gelesen habe. Die Kapelle ist ein römisch-katholisches Gotteshaus, das in den Felsen gebaut wurde.

Chapel of the Holy Cross
Der Kopf hinter dem faszinierenden Objekt war die ortsansässige Viehzüchterin und Bildhauerin Marguerite Brunswig Staude. Als sie 1932 erstmals das Empire State Building sah und von einem bestimmten Blickwinkel aus ein Kreuz zu sehen glaubte, das sich durch das Gebäude zieht, kam ihr die Idee. Zunächst wollte sie die Kapelle in Budapest errichten. Der Ausbruch des Krieges vereitelte jedoch den Plan und brachte sie, nach einigen Jahren des Stillstands, auf den Gedanken, dass auch die Amerikaner eine anständige Kirche gebrauchen könnten. Innerhalb von nur 18 Monaten wurde die Kapelle für insgesamt 300.000 Dollar schließlich im Jahre 1956 fertiggestellt.

Ich parke den Wagen am Fuße der Kapelle, deren Fassade von einem einnehmenden Kreuz dominiert wird, und marschiere die lang gezogene Kurve zu ihr hinauf. Die Lage der Kirche ist wirklich beeindruckend: Hinter ihr türmt sich eine halbrunde rote Wand auf und vor ihr erstreckt sich das Tal. Ich habe also eine wunderbare Aussicht über die wie Inseln in der Landschaft stehenden roten Hügel und die grünen Bäume, die sie umgeben. Ich blicke auf den fast schon filigranen Bell Rock sowie den benachbarten massiven Courthouse Butte und kann Sedonas vermutlich berühmtesten Fels, den Cathedral Rock, mit seinen einzelnen Säulen erkennen.
Das spartanische Innere der düsteren Kapelle fasziniert mich weniger. Spätestens als ich im Souvenirshop lande, zieht es mich wieder zurück zum Auto und auf die Suche nach einem Touristenbüro.

Ich nähere mich dem Ortskern. Man sieht der Kleinstadt mit dem unfassbar schönen Panorama an, dass sie mit den jährlich zwei bis drei Millionen Besuchern ganz gut lebt. Die Straßen beispielsweise wirken wie neu. Abgesehen von einer irrsinnig pompösen Villa, die man von der Kapelle aus sehen kann, scheinen die Bewohner Sedonas aber bescheiden geblieben zu sein.

Die Geschichte Sedonas
Über Jahrtausende hinweg wurde die Gegend von unterschiedlichen indigenen Völkern wie den Apachen bewohnt. Ende des 16. Jahrhunderts verirrten sich spanische Goldsucher nach Sedona, die anstelle von Gold Kupfer fanden. Bis zur mexikanischen Unabhängigkeit 1821 gehörte die Region zu Spanien. Mit dem Ende des Krieges gegen die USA musste Mexiko das Territorium an die Siegermacht abtreten. Als 1876 die ersten Siedler eintrafen, wurden die rund 1500 Personen zählenden Stämme der Apachen und der Yavapai gewaltsam in ein fast 300 Kilometer entferntes Reservat vertrieben. Hunderte starben bei der Deportation. Die Überlebenden wurden 25 Jahre lang im Reservat interniert. Der Wahnsinn dieser Maßnahme wird noch deutlicher, wenn man bedenkt, dass sich im Jahre 1902 gerade einmal 55 weiße Siedler im Verde Valley niedergelassen hatten.

Die offizielle Touristeninformation ist ausgeschildert und eine weitere an der Ecke State Route 179 und Canyon Drive noch schneller gefunden. Ich bekomme eine Karte und eine Zeitung mit einer weiteren Karte darin in die Hand gedrückt. Obendrein gibt es noch Tipps und Hinweise. Es gibt zum Beispiel Pfade, für die man den kostenpflichtigen Red Rock Pass benötigt. Die meisten Trails sind jedoch frei zugänglich. Die junge Frau empfiehlt, dass ich mir den Sonnenuntergang von der Airport Road aus angucken soll. Ist ja ein super Vorschlag, denke ich mir und mustere das Mädel hinterm Tisch. Ob sie heute wohl schon mal zum Himmel hinaufgeschaut hat? Die Wolken hängen so tief, dass man sich beim Laufen fast strecken möchte, um zu prüfen, ob man nicht sogar in sie hineingreifen kann. Die Tipps sind generell eher bescheiden und die lose Karte macht der aus dem Yosemite National Park ernsthafte Konkurrenz. Die in der Zeitung des US Forest Service ist schon besser. Der Knaller ist sie aber auch nicht. Kartograf müsste man sein. In dieser Sparte scheinen die USA nämlich unter einem echten Fachkräftemangel zu leiden. Zumindest leide ich darunter. Zum Glück habe ich die wunderbare Cari mit ihrem immer bereiten Smartphone in Portland sitzen. Die Frau, die schon die komplette Westküste gesehen zu haben scheint, aus dem »Grand Canyon State« stammt und zudem zu allem eine eigene Meinung hat, kann mir sicherlich auch hier weiterhelfen. Natürlich kann sie: Ich soll unbedingt zum New Frontiers Natural Market, der mit Unmengen an Biofood und veganen Desserts überzeugen kann. Aha. Außerdem gibt es dort noch ein Café mit unglaublichem Essen und tonnenweise veganen Optionen. Okay? Obendrein bekomme ich dort auch all die verrückten Hippies zu sehen, die in Sedona leben. Und was ist mit den Wanderwegen?
»Any trail you see will be awesome!«
Nun, das macht die Auswahl leicht.
»I usually prefer to just park somewhere and explore off the trails. Then again, I’m also usually doing drugs, so trying to avoid people. There’s a cool trail with some Indian ruins: ›Hanonki Indian Ruins‹. Other than that, seriously every trail will be gorgeous. So I recommend all of them.«
Parken, irgendwo irgendeinen Pfad verlassen, Drogen konsumieren, Menschen aus dem Weg gehen und nach Indianerruinen suchen. Das klingt nach einem Plan, den ich nur zu gerne in die Tat umsetzen würde. Sommer müsste es sein â€¦ und Cari hier.
Ich beschließe, zu Devil’s Kitchen zu wandern. Der Pfad beginnt in der Soldiers Pass Road, die wiederum nur einen Block von Caris empfohlenem New Frontiers Natural Market entfernt beginnt. Also statte ich dem Supermarkt einen ersten Besuch ab. Cari hat nicht maßlos, aber schon ein bisschen übertrieben. Klar, der Biomarkt hat ein tolles Sortiment, übertrumpft aber auf den ersten Blick nicht alle bisher gesehenen. Als Cari das letzte Mal hier war, lebte sie auch noch nicht in Portland. Der Deli sieht wirklich gut aus â€“ speziell der Vegan Chocolate Cake â€“, weshalb ich es in Betracht ziehe, später wiederzukommen.

Sedona 2013 01 26 10.44.33

Für meine anstehenden Regenwanderungen möchte ich mir jetzt aber nur schnell â€¦ Und da hat er mich dann doch. Zur Erklärung: Spätestens seit Portland, Cari und Melissa habe ich eine neue kleine Sucht oder Vorliebe â€“ je nach dem. Clif Bars sind Energieriegel, die es in diversen Geschmacksrichtungen gibt: Peanut Toffee Buzz, Chocolate Chip Peanut Crunch, Oatmeal Raisin Walnut, Crunchy Peanut Butter, Chocolat Brownie, White Chocolate Macadamia Nut, Chocolate Chip und Carrot Cake. Das sind die mir bislang bekannten Sorten. Im New Frontiers Natural Market von Sedona jedoch â€“ Halleluja! â€“ singen plötzlich die Englein, Trompeten ertönen und sowohl die Wolkendecke als auch die des Supermarkts brechen kurz auf. Ich stehe vor dem Clif-Bar-Regal und zücke mit weit geöffnetem Mund mein Handy: »There are 13 different Clif bars?! Holy shit!«
Cari weiß sofort, wo ich mich befinde und lacht: »That store is so awesome â€¦Â«
Ich decke mich mit Clif Bars ein und wandle glücklich zum Auto zurück. Ein großer Erfolg.
Kurz darauf weicht mein Gefühl der großen Errungenschaft leichter Genervtheit. Ich gurke die recht lange Soldiers Pass Road und all ihre Seitensträßchen auf und ab, kann jedoch nirgends den Devil’s Kitchen Trailhead, also den Beginn des Pfades, entdecken. Wegweiser gibt es keine und ich habe keine Lust, den halben Tag mit Suchen zu vergeuden â€“ es ist bereits elf Uhr. Dann wandere ich eben auf einem anderen Pfad. Ich weiß auch schon auf welchem: der Devil’s Bridge Trail, der in der Dry Creek Road beginnen soll. Irgendwie machen mich die satanischen Wanderwege heute besonders an. Das liegt allerdings daran, dass ich bei Wikipedia ziemlich coole Bilder von des Teufels Brücke und des Teufels Küche gesehen habe.
Die beiden Karten helfen mal wieder herzlich wenig, um den genauen Startpunkt des Weges ausfindig zu machen. Von der Dry Creek Road zweigt nach einiger Zeit eine unbetonierte, rote Straße ab. Hm, ist das der Beginn des Pfads? Um dies herauszufinden, hilft nur eins: Ich parke den Wagen und schaue nach. Auf Wegweiser hat man wieder einmal verzichtet. Die unbetonierte Straße ist gesperrt: »Unsafe for travel«. Gilt das nur für Autos? Im Yosemite National Park stand ich vor einem ähnlichen Schild â€¦Â und wurde später fast von einer Lawine erschlagen. Ich beschließe, dass das Schild für Autos, nicht aber für Fußgänger gilt. Mit dem Mietwagen wäre ich ohnehin nicht über diese Piste gefahren. Das wirkt doch schon sehr offroad.

26.1.2013

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Cari hat mir erzählt, dass der Boden in Arizona hart und trocken ist. Somit habe ich wohl eine der üblichen Ausnahmen erwischt, denn der rote Schlamm zieht mir fast die Schuhe aus. Bei jedem Schritt habe ich das Gefühl, die Zehen wie bei Badelatschen krallen zu müssen, damit ich meine Schuhe nicht verliere. Sollte dies geschehen und ich meinen nackten Fuß in den Schlamm setzen, wäre dies immerhin kein Drama: Durch die Löcher, die ich mittlerweile in meine Schuhe gelaufen habe, hat sich der Schlamm sowieso schon innerhalb kürzester Zeit im kompletten Schuh verteilt. Dass ich dreckig werden könnte, muss ich also nicht mehr befürchten: Ich bin es bereits nach den ersten 20 Metern. Nach gut zwei Kilometern frage ich mich, ob die Karte mal wieder versagt. Die matschige Straße ist doch erschreckend lang und auch kein wirklicher Pfad, sondern eher die viel zu lange Zufahrt zu einer Baustelle.

Unerwarteterweise kommen mir bei dem Sauwetter auf einmal zwei Jogger entgegen, die auch noch den Weg kennen: Ich bin keine 50 Meter mehr vom Trailhead entfernt â€“ und ein Schild sowie Hinweistafeln und Karten gibt es dort zudem auch noch. Ab sofort macht das Wandern im Regen Spaß. Ich weiß, dass ich nun auf dem richtigen Weg bin, und bekomme außerdem wieder das »Yosemite-Feeling«: Ich bin komplett alleine irgendwo in der wilden Natur Amerikas. Außer den beiden Joggern werde ich niemand anderes mehr sehen. Ein weiteres Erlebnis bringt mir die Erinnerungen an Yosemite zurück: Ich höre ein lautes Krachen, sehe aber nichts. Erfahren, wie ich mittlerweile bin, weiß ich, dass dies eine Steinlawine war, die vom Rock gegenüber heruntergekracht ist. Und ich bin wirklich froh, diesmal nicht darunter zu stehen. Ich bekomme jetzt noch einen kalten Schauer, wenn ich an den Anblick der Lawine denke. So viel sei verraten: Heute bekomme ich lediglich wegen der phänomenalen Landschaft eine Gänsehaut â€¦Â und ein bisschen wohl auch wegen des Regens. Die roten Berge wirken magisch und â€“ so sehr ich es auch bedaure, nicht bei strahlendem Sonnenschein durch das Red Rock Country zu wandern â€“ auch die schweren Wolken leisten ihren Beitrag, um der Gegend diesen Hauch des Übernatürlichen zu verleihen. Es gibt nur grau, grün und rot. Das ist schon fast wie beim Tauchen, als ob manch eine Farbe in dieser Umgebung überhaupt nicht mehr existieren könnte. Monoton wirkt das Ganze dabei überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil. Die Farben â€“ allen voran die verschiedenen Rottöne â€“ sind so kräftig, dass man auch ohne LSD freudig umherspringen möchte.

Ich steige über Bachläufe, die es an regenfreien Tagen vermutlich überhaupt nicht gibt. Andernorts sieht der Weg aus wie ein Flussbett, dem ausgerechnet an diesem Regentag das Wasser fehlt. Mal sehen, ob ich mich auf dem Rückweg unverhofft vor einem reißenden Strom wiederfinde. Eine wohl vom Wasser abgerundete Stufe tut sich vor mir auf. Ist das Stein? Ein Baumstamm? Ein versteinerter Baumstamm? Ich klettere über Steine, die aussehen, als seien sie eben erst aus der Erde nach oben gebrochen und steige Treppenstufen empor, die offensichtlich von Menschenhand geschaffen wurden. Wer war das? Und seit wann gibt es sie? Diese Gegend ist zeitlos, eben weil es pure Natur ist. Ich erreiche wieder eine Anhöhe, genieße die Aussicht und lausche der Stille. Alles, was ich höre, ist der Regen. Kein Mensch, kein Tier, keine Maschine. Nur der Regen und mein Atmen.
Der Devil’s Bridge Trail ist nicht lang. Nach etwas mehr als einem Kilometer erreiche ich die von der Natur geformte größte Sandsteinbrücke Sedonas. Ich hätte den roten, gut 35 Meter hohen Torbogen noch ein wenig länger erwartet. Nichtsdestotrotz sieht er toll aus. Was leben wir doch in einer verrückten Welt. Fast sieht es so aus, als habe sich ein Riese eine Scheibe vom Berg abschneiden wollen. Wie bei einem Brot hat er das Messer aber zu nah an der Bruchstelle angesetzt, weswegen das weiche Innere einfach weggebröckelt ist. Anstatt weiterzuschneiden, hat er das Messer wieder weggelegt und so eine etwas vom restlichen Laib abstehende Scheibe hinterlassen. Die Brücke steht also nicht vollkommen frei in der Landschaft, sondern ist tatsächlich von einer Seite aus zugänglich. Erstaunlicherweise wachsen auch Bäume und Sträucher aus dem Stein. Einer davon erinnert mich an einen Baum aus dem Yosemite National Park. Sein Stamm und die Äste sind auf einer Seite klassisch braun, auf der anderen Seite jedoch knallrot. Durch den Regen scheint die rote Seite noch mehr zu leuchten.
Kaum habe ich die Brücke erreicht, schickt mir Cari gleich drei Nachrichten, in denen sie mich über die unglaubliche Fortführung von Joshuas Geschichte informiert: Caris ehemaliger Mitbewohner und Vermieter der Hawthorne Rose sitzt im Knast. Mein Mund öffnet sich. Es geht weiter: Sein wahrer Name ist Jeshua, nicht Joshua. Meine rechte Backe zieht sich fragend nach oben, der Mund bleibt geöffnet.
»And he was on meth.«
Mein Kopf wackelt hin und her. Ich überlege, ob es mich überrascht, dass er ein Junkie ist. Eigentlich nicht. Mund und Backe bleiben geöffnet und hochgezogen.
»And he was a con artist.«
Ein Trickbetrüger? Meine Augen werden ungläubig groß, wodurch die Backe wieder zur Entspannung kommt. Der Mund öffnet sich noch ein bisschen weiter. Laut Cari hatte er noch sage und schreibe 20 weiteren Personen Zimmer in der Hawthorne Rose vermietet. Sie alle hätten im Januar einziehen und im Voraus die Miete zahlen sollen. Was ist das für ein bescheuerter Plan? Mein Kopf wackelt wieder ungläubig hin und her, diesmal etwas schneller und den Kopf mehr in den Nacken gezogen. Zu guter Letzt hat er noch jemanden zusammengeschlagen, der ihn dabei erwischt hat, wie er gerade irgendwelche Autoreifen abgestochen hat. Mein Kopf bewegt sich wieder nach vorne, die linke Augenbraue hebt sich und ich atme lautstark aus: Ȁh?«
Ich weiß jetzt gar nicht, was ich davon halten soll? Ist das dramatisch? Ist das lustig? Ich bin auf jeden Fall froh, dass ich die Mädels in den meisten Nächten, die sie bei dem Freak verbracht haben, nicht alleine gelassen habe. Jetzt wirkt er doch so gefährlich, wie ich es zwischenzeitlich in Seattle befürchtet hatte. Kurz darauf denke ich schon wieder sehr pragmatisch und beglückwünsche Cari dazu, dass sie so wohl wieder an ihr Geld kommen dürften, das er ihnen nicht mehr zurückgeben wollte, nachdem er sie mit seiner Flirterei und seinen Ausrastern zum Auszug gezwungen hatte. Es geht dabei immerhin um 1200 Dollar pro Nase. Oder hat er das schon komplett für Crystal Meth ausgegeben? Cari weiß nicht, ob sie ihr Geld wiederbekommen. Andere Leute wollen ihn wohl verklagen, wodurch Melissa und sie einfach mit einsteigen könnten. Wunderbar! Dann kann sie mich ja schon bald in Deutschland besuchen kommen! Unverständlicherweise plant Cari jedoch nach wie vor, zuerst nach Südamerika zu reisen, bevor sie nach Europa kommt. Sie davon zu überzeugen, dass Lateinamerika noch warten kann, wird noch ein harter Kampf.
Ich versuche mithilfe des Selbstauslösers ein Foto von mir auf der Brücke zu machen. Ich habe zehn Sekunden, um den Knopf zu drücken und auf die Brücke zu sprinten â€“ was gar nicht so einfach ist. Ich will nicht hirnlos über den nassen Stein preschen, da ein Ausrutscher unschöne Folgen hätte: Entweder würde ich tief stürzen oder mich verletzen und alleine in der Wildnis herumliegen. Nach einigen erfolglosen Versuchen stelle ich fest, dass der Stein gar nicht mal so rutschig ist. Also lege ich noch eine Schippe drauf â€¦ und schaffe es letzten Endes irgendwann. Das sind die Momente, in denen das Alleinereisen ein wenig anstrengend ist.


Ich verlasse die offiziellen Pfade und schlage mich durch die Wildnis, um Klapperschlangen zu jagen und Abenteuer zu erleben. Nach wenigen Minuten löst sich der Trampelpfad im Nichts auf. Ich sollte wohl besser umzukehren. Außerdem haben mir Cari, mein Host Joey aus Atwater, Regiekollege Chris, seine Freundin Grace und ich weiß nicht, wer noch alles, diverse Horrorgeschichten von einer Pflanze namens poison oak erzählt. Ich weiß noch immer nicht, wie die giftige Pflanze aussieht, die wohl die übelsten Hautreizungen auslöst, die sogar tödlich enden können. Auf meiner kleinen Wanderung abseits der Pfade muss ich mich bisweilen auch durch Gestrüpp schlagen. Also gehe ich wieder zurück und schaue mir die Brücke von unten an.

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Zurück am Auto versuche ich so wenig Dreck wie möglich ins Auto zu schleppen. Leicht ist das nicht. Der Matsch geht mir bis über die Knöchel und verfärbt sofort alles. Ich klopfe so gut es geht den Matsch von meinen Schuhen und Klamotten ab, wechsle die vollkommen durchnässten Socken und sattle von meinen kaputten Turnschuhen auf meine Flip Flops um. Im Fußbereich des Beifahrersitzes lege ich Papier aus, um den Teppich nicht rot zu färben. Perfekt läuft es nicht, aber ich musste auch nur unterzeichnen, dass ich im Auto nicht rauche. Von rotem Schlamm stand da nichts.

Ich suche den Pfad zum Cathedral Rock. Die Karte ist mal wieder zum Verzweifeln. Es ist noch nicht einmal ersichtlich, von wo aus der Pfad überhaupt starten soll. Das kann doch nicht wahr sein. Zunächst fahre ich â€“ wenig überraschend â€“ falsch beziehungsweise zu einem Trail, der zu dieser fortgeschrittenen Stunde einfach zu lang ist. Es ist halb drei, als ich den Baldwin Trail erreiche, der in der Verde Valley School Road startet. Der einfache Weg ist etwas mehr als zwei Meilen lang. Bei diesem Wetter, womöglich auch wieder mit bremsendem Matsch, nahender Dunkelheit und komplett alleine ist das leider nur mäßig antörnend.
Ich studiere die Karte noch einmal und stelle fest, dass der Cathedral Rock Trail wohl auf der anderen Seite der Felsformation in der Back O’ Beyond Road startet. Nach einigen Metern auf der Straße mit dem interessanten Namen kommt ein Schild: »Don’t enter when flooded«
Nun, hinter dem Schild ist die Straße tatsächlich überflutet. Hm. Ach scheiß drauf: Ich fahre durch den reißenden Fluss. Als ich 2007 in Kuba war, stand ich einmal vor demselben Problem. Alles verlief glimpflich und auch diesmal denke ich mir, dass das Auto es schon schaffen wird. Allzu tief wird es schon nicht sein. Ich behalte zum Glück recht und durchfahre kurz darauf noch zwei weitere Überflutungen. Alles kein Problem und dazu sogar noch ein großer Spaß. Ich frage mich nur, ob die Straße noch passierbar sein wird, wenn ich zurückkomme â€¦


Ich parke den Wagen am Trailhead des Cathedral Rock Trail und schlüpfe wieder in meine nassen und rot gefärbten Schuhe. Nach gerade einmal 20 Metern endet der Pfad auch schon wieder â€¦ in einem reißenden Flüsschen, welches die Fortführung der Straßenüberflutung darstellt und das es laut Karten und wie ich später bei Google Maps feststelle sogar eigentlich gar nicht gibt. Es gibt kein Durchkommen und somit auch keinen Hike zum grandios aussehenden Cathedral Rock. So ein Mist.
Als wäre das noch nicht genug, beschlägt nun auch noch meine Kamera. Kein Wunder, bei der Luftfeuchtigkeit und dem Regen, den sie heute schon abbekommen hat. Weitere Fotos sind somit unmöglich. Ich hoffe nur, dass sich die Kamera bis spätestens morgen wieder erholt hat. Wie grässlich wäre es denn, wenn ich ausgerechnet am Grand Canyon keine Fotos mehr schießen könnte! Ich fahre gerade zum Ende der Back O’ Beyond Road, die nicht einfach in einer Sackgasse, sondern in einem Rundkurs endet, als mir auffällt, dass die Kamera glücklicherweise bereits nach einigen Minuten nicht mehr beschlagen ist. Ich stoppe wieder am Trailhead des Cathedral Rock Trail und mache dieselben Fotos noch einmal â€“ diesmal ohne Nebel.

Es ist fast halb vier und somit zu spät, um noch einen anderen Pfad zu finden. Der Bell Rock Trail ist zu lang und der Fels sowieso zur Hälfte von einer Wolke umhüllt. Zudem bin ich vollkommen durchnässt und mir wird es langsam ein wenig kühl. Die Autoheizung leistet derweil gute Arbeit. Der negative Nebeneffekt ist indes der Gestank, der durch die trockene, warme Luft aus meinen nassen Socken herausgekitzelt wird. Es ist die Hölle â€¦
Zum Wandern ist es also zu spät. Daher fahre ich mit dem Auto durch Sedonas Seitenstraßen, suche nach schönen Aussichten und fotografiere fleißig. Fast komme ich mir dabei wie ein japanischer Bustourist vor: hinfahren, parken, rausspringen, Foto machen, jubeln, einsteigen, weiterfahren.

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Ein Auto fährt an mir vorbei, auf dessen Heckscheibe ein Aufkleber prangt, für den man in Amerika sicherlich hier und da riskiert, ebendiese Scheibe eingeschlagen zu bekommen: »9-11 was an inside job.«
Vielleicht ist aber gerade Sedona der Ort, an dem man mit solch provokanten Verschwörungsthesen nicht unbedingt aneckt. Denn Sedona ist ein Zentrum der New-Age-Bewegung. Dementsprechend dürften â€“ wenn das Wetter gerade nicht so ätzend ist wie heute â€“ viele Esoteriker und Hippies durch den Ort rennen. Cari hat dies ja ebenfalls angedeutet, und als ich wieder auf dem Weg zum New Frontiers bin, fällt mir auch sofort wieder das bunte Gebäude auf, auf dem »Center for the New Age« geschrieben steht. Das lila Haus, in dem man Fotos seiner Aura schießen lassen kann, befindet sich direkt hinter der Brücke, die über den Oak Creek führt, dem Flüsschen, das auch wenn es nicht regnet, durch Sedona fließt. Am Biomarkt entdecke ich nun auch eine unfassbar coole Bronzestatue des Künstlers John Soderberg, die den Magier Merlin darstellt. Auch dies unterstreicht aufs Neue den Status der Esoteriker und Hippies in Sedona. Wo sieht man schon Statuen von Merlin? Der Grund für das große Vorkommen spiritistischer Menschen in Sedona sind natürlich die Felsformationen, von denen übernatürliche Kräfte ausgehen sollen. So stellt der Bell Rock bei Einigen beispielsweise entweder ein Portal in die Erde oder ein Tor in eine andere Dimension dar.

Ich habe Hunger. Wie zu erwarten war, gibt es im Deli des New Frontiers nicht das preiswerteste Essen. Ich esse für vier Dollar eine recht gute, aber zu wenig gewürzte Kartoffel-Spinat-Suppe, dann noch mit 4,50 Dollar maßlos überteuerten, weil viel zu wenig Tofu mit veganer Mayonnaise und schließlich ein Stück der leckeren Torte, die mir am Vormittag schon ins Auge gefallen ist â€“ für weitere fünf Dollar. Bemerkenswerte Hippies sitzen leider nicht mit mir im Deli. Dafür denkt eine Frau, ich sei ein Bekannter von ihr, ein Flötenspieler. Interessant. Ich sage ihr, dass der Flötist wohl ein kosmischer Zwilling von mir sein muss, da ich nicht aus dieser Gegend stamme.

Gegen 17 Uhr geht irgendwo hinter der Wolkendecke die Sonne unter, als ich Sedona gerade über die State Route 89A verlasse. Das ist jene Straße, die ich aufgrund des famosen Tipps der Rezeptionistin heute morgen nicht genommen habe. Die State Route ist â€“ wie sich schnell herausstellt â€“ ein scenic drive durch den Oak Creek Canyon, von dem ich aufgrund der aufkommenden Dunkelheit leider herzlich wenig habe. Und das ist schade, denn das, was ich noch zu sehen bekomme, ist beeindruckend: Der Oak Creek hat sich aufgrund des Regens in einen reißenden Fluss verwandelt. Wildwasserrafting dürfte hier ziemlich spaßig und gefährlich sein. Der Fluss scheint so sehr über seine eigentlichen Ufer getreten zu sein, dass viele Bäume nun mitten im Fluss stehen! Ein vom Regen sicherlich noch einmal um einiges vergrößerter Wasserfall stürzt imposant aus großer Höhe ins Tal und die zerklüfteten Felsformationen und Steilhänge an der Seite der Straße sind einfach nur spektakulär. Wirklich zu schade, dass es schon dunkel ist â€¦
Die Serpentinen werden enger, der Schnee nimmt zu, das Streufahrzeug vor mir donnert mit erstaunlichem Tempo in Richtung Flagstaff und aus dem Radio dröhnen Konzertaufnahmen von Rockklassikern. Zum ersten Mal im Leben finde ich Billy Idol so richtig geil: »It's a nice day for a white wedding.«

Ich stelle fest, dass trotz des miesen Wetters und Caris physischer Abwesenheit mein Tag in Sedona großartig war. Ein Tag ist außerdem viel zu wenig. Ich hätte auch gut und gerne eine Woche lang staunend zwischen den roten Felsen umherwandern können.
Ich übernachte eine weitere Nacht im Hostel und habe Room No. 4, das Vierbettzimmer, mittlerweile sogar für mich alleine. Yeah! In der Lobby habe ich noch eine seltsame und eine nette Unterhaltung. Die seltsame Konversation habe ich mit der Rezeptionistin, die mich darauf anspricht, dass ich gar nicht wie ein Dennis aussehe. Aha. Und wonach sehe ich aus?
»You look different â€¦ like a Klaus.«
»Klaus? Great â€¦ Why?«
»Because it is a typical German name!«
Toll. Ich sehe also typisch deutsch aus. Das wurde mir in Pacific Grove schon einmal gesagt â€“ weil ich mir meinen Pulli um die Hüfte gebunden hatte. Hä? Die wesentlich erfreulichere Unterhaltung habe ich mit zwei Mädels aus München und Leipzig. Sie waren heute beim Grand Canyon, was maßlos enttäuschend gewesen sein soll. Wegen der niedrig hängenden Wolken habe man nichts gesehen. Nur hier und da sollen die Bergspitzen aus der Decke geschaut haben. Als sich kurz darauf noch eine Norwegerin mit grausamer Piepsstimme zu uns gesellt, bekomme ich noch den Fotobeweis geliefert. Oh, oh. Hoffentlich wird das morgen anders sein. Als ich den beiden Deutschen erzähle, dass ich übermorgen mein Auto in Vegas abgeben muss, empfehlen sie mir, die Route 66 zu nehmen. Darüber hatte ich noch gar nicht nachgedacht. Hell yeah! Ich werde in meinem Nissan Versa zum easy rider!
Ich gehe noch auf ein Gute-Nacht-Bier auf die andere Straßenseite ins Mia’s â€¦ und werde nicht reingelassen.
»Sorry?«
»You’re a foreigner. I need to see your passport.«
»Thanks for making me feel so young again.«
»It’s not my law. It’s the law of Arizona.«
Hab ja nur Spaß gemacht, wobei ich es schon lächerlich finde. Also tapse ich in meinen Flip Flops wieder zurück ins Hostel, hole meinen Reisepass und lausche kurz darauf noch ein paar Liedern der heutigen Liveband. Bevor ich vor Müdigkeit vom Hocker kippe, ziehe ich mein PBR ab und verabschiede mich wieder. Bitte kein Regen morgen!

Quellen
Informationen zu Sedona: Wikipedia, Recreation Guide to Your National Forest (US Forest Service)

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